- Startseite ›
- Forschung ›
- Rudolf Steiner ›
- Zitate ›
- ›
- Kropotkin setzt auf Brot statt Geist
Kropotkin setzt auf Brot statt Geist
Quelle: GA 297, S. 144-147, 1. Ausgabe 1998, 25.11.1919, Basel
Sehen Sie, die Idee des dreigliedrigen sozialen Organismus ist wahrhaftig nicht aus irgendeinem Programm heraus entstanden - wie so viele soziale Ideen. Bei meinem letzten Vortrage, den ich hier in Basel über die soziale Frage halten durfte, habe ich das bereits erwähnt. Die Idee des dreigliedrigen Organismus ist aus einer neuen Geistesrichtung heraus entstanden, aus einer Geistesrichtung, die auf der einen Seite der gegenwärtigen Menschheit noch sehr wenig sympathisch ist, nach der sie sich aber, ich möchte sagen mit allen ihren unterbewußten Sehnsüchten und Trieben gerade sehnt und danach lechzt. Denn viel mehr, als die Menschen das in ihrem Bewußtsein glauben, haben sie in ihrem Unterbewußten die Sehnsucht nach dem Geistigen. Wir sehen heute, wie in allen möglichen Formeln und Formen und Forderungen sich dasjenige kleidet, was die Menschen sozial wollen. Wenn man dasjenige angreifen will, was die Menschen uns aus gutgemeinten Willenskräften heraus, aus richtigen, berechtigten Bedürfnissen heraus als soziale Forderungen entgegentragen, so kann man es in der Regel doch nicht erfassen, nicht so erfassen, daß daraus eine wirklich aufbauende Arbeit entstehen könnte.
Das ist geradezu charakteristisch, und es ist sehr merkwürdig, wie auch diejenigen Menschen, die jahrzehntelang an Ideen, an Programmen gearbeitet haben für einen sozialen Aufbau, wie diese all ihr Denken, all dasjenige, was sie aus ihrem Geistesleben heraus gearbeitet haben, heute versagend finden.
Es ging neulich durch die Zeitungen ein Brief eines bekannten Sozialrevolutionärs, der es durch Jahrzehnte war, Kropotkin, ein Brief an Georg Brandes, worinnen er die trostlosen Verhältnisse des europäischen Ostens darlegt, worin er in seiner Art die ganze europäische Situation schildert und worinnen er zuletzt schreibt: ja, das einzige, auf das wir hoffen können, ist, daß man uns Brot und Werkzeuge gibt, um Brot zu erzeugen.
Dahin ist nun ein Sozialrevolutionär gekommen, der Jahrzehnte hindurch nachdenkt, nachzudenken versuchte, wie die Welt zu gestalten ist, damit die Werkzeuge in der richtigen Weise herbeigeschafft werden können, die Brot erzeugen sollen, damit das Brot so erzeugt wird, daß die Menschheit wirklich ernährt werden kann. Zuletzt ist der abstrakte Schrei nach Brot und Werkzeugen entstanden! - Unglaube an die abstrakte Geistigkeit, an seine eigene bisherige Geistigkeit!
Man wird durchschauen müssen, daß das moderne Leben in dem Schrei nach Brot ja auch nichts anderes hat als den Schrei nach Geistigkeit; denn nur aus einem Ergreifen des wirklichen Geistes können diejenigen sozialen Wollenskräfte kommen, welche in der richtigen Weise Werkzeuge und Broterzeugung in das Leben hineinstellen.
Es handelt sich nicht darum, heute nach Programmen zu schreien, sondern es handelt sich darum, in der richtigen Weise sich an die menschlichen Anlagen, an die menschliche Betätigungskraft zu wenden. Das heißt aber, den Menschen in der richtigen Weise zu erkennen, damit er an den richtigen Ort im Leben gestellt werde und in der fruchtbarsten Weise für Ernährung der Familie, für das ganze Leben seiner Mitmenschen wirken könne.
Zu einer Menschheitsfrage im umfassendsten Sinne müssen wir die soziale Frage machen. Eher wird in ihr kein Heil sein. Erst, wenn wir erkennen, daß wir die soziale Frage nur dann ganz haben, wenn wir aus ihr den Geist heraus empfinden, erst dann kann für diese soziale Frage Heil kommen. Aus einer neuen Geistesrichtung ist dasjenige entstanden, was wir insbesondere für die Dreigliederung des sozialen Organismus anstreben aus der Erkenntnis heraus.
Die Forderungen, die uns heute, trotzdem sie berechtigt sind, so nebulos entgegentreten, sie haben unterbewußt eine Berechtigung, denn in diesen Forderungen lebt unbewußt auch schon die Sehnsucht nach dieser neuen Geistigkeit. Und in alledem, was man als dekadente Erscheinungen kennt in dem Streben nach Geist, drückt sich nur das, ich möchte sagen noch ungeschickte Hinstreben der Menschen nach dem Geiste aus. Gewiß, es ist eine der dekadentesten Erscheinungen das Anschauen des Geistes auf die Weise, wie es zum Beispiel im Spiritismus oder in falschen mystischen Richtungen gepflogen wird. Denn diese dekadenten Richtungen sind hervorgegangen aus einer Jahrhunderte-, ja man könnte in diesem Falle sagen jahrtausendealten Erziehung, durch die der Mensch nicht gelernt hat, in der Wirklichkeit selber den Geist zu suchen, in der Wirklichkeit, der er angehört. In abstrakte Höhen ist das Streben nach dem Geiste dadurch hinaufgetragen worden, daß nur dogmatische Monopole sich dieses geistigen Strebens bemächtigen wollen.
Die hier gemeinte Geisteswissenschaft will geltend machen, daß dieselben Kräfte, die äußerlich die Natur ergreifen können, auch in das geistige Leben eindringen können, wenn sie sich weiter entwickeln, so wie ich es heute wieder geschildert habe. Dann wird man nicht nach einem abstrakten Geiste streben, nach einem Geiste, der, ich möchte sagen nur zur Befriedigung des menschlichen Bewußtseins in Gastrollen erfaßt werden soll, sondern nach einem solchen Geiste, der in der Wirklichkeit drinnen ist, der mit dem materiellen Leben eines ist. Denn nicht dadurch erkennen wir den Geist, daß wir die Materie als bloße Materie anschauen und sagen: «Aber das ist ja bloße Materie, der Geist ist irgendwo anders.» - Nein, denn wer den Geist sucht durch abstrakte Formulierungen und meint, er sei nur auf dem Wege des Spiritismus zu suchen, ich möchte sagen in den Ecken des Lebens, der hat noch keine richtige menschliche Beziehung zu dem Geiste hergestellt.
Eine richtige menschliche Beziehung zu dem geistigen Leben haben wir nur dann hergestellt, wenn wir nach einem solchen Geiste gehen, der in dem, was wir um uns herum in der Natur und insbesondere im Menschenleben selbst - in der Jugend, im späteren sozialen Zusammenhang, in alle dem, was da äußerlich, sogar im ökonomischen Leben um uns herum ist - erblicken, den Geist walten wissen, aber so suchen, daß wir uns mit dem Geisteswalten verbinden. Eine richtige Geistessuche wird nur das sein, wo der Mensch den Geist ergreifen will, indem er den in ihm selbst waltenden Geist liebt und eine Brücke schlägt zwischen der geistigen Wirklichkeit in sich und der geistigen Wirklichkeit in der Welt. Nur durch einen solchen Geist und nur durch das Wissen eines solchen Geistes kann jene sozial-pädagogische Kraft entwickelt werden, die wir wirklich für das Menschenleben schon der Gegenwart, insbesondere aber auch für dasjenige der nächsten Zukunft brauchen.
Daher kann man immer wiederum nur sagen: Mögen die dunkeln unterbewußten Sehnsüchte, die in menschlichen Herzen, in menschlichen Gemütern leben, hell auflodern im bewußten Leben der Seelen, damit die Menschheit finde gerade in dem Zeitalter, in dem die soziale Frage so brennend geworden ist, die wirkliche geistige Kraft der Welt, mit der sich die geistige Kraft im Innern des Menschen verbinden kann. Denn aus diesem Bunde zwischen Weltengeist und Menschheitsgeist wird die beste Quelle der sozialpädagogischen Kraft für das menschliche Leben erfließen.
