Inhalt kulturell-staatlicher und Form wirtschaftlicher Grenzen überwinden

Quelle: GA 332a, S. 194-198, 2. Ausgabe 1977, 30.10.1919, Zürich

Diese einzelnen Nationalstaaten, ganz abgesehen von den anderen historischen Bedingungen ihres Entstehens, sie werden zunächst zusammengehalten durch das, was aus dem Egoismus der beisammenlebenden Menschen aufsteigt. Selbst im Edelsten des Nationalen, in Literatur, Kunst und so weiter, ist es die aus dem Egoismus aufsteigende Phantasie, die die Volksgruppen zusammenhält. Diese so zusammengehaltenen Volksgruppen stellten sich nun in das ganze Gebiet der Weltwirtschaft hinein, und sie stellten sich besonders stark, immer stärker und stärker hinein im Laufe des 19. Jahrhunderts, und dieses Hineinstellen erreichte seinen Höhepunkt im Beginn des 20. Jahrhunderts. Wollen wir charakterisieren, was da eigentlich geschah, dann müssen wir sagen: Während noch andere Interessen, Interessen, die viel mehr ähnelten der alten Gewaltgesellschaft, früher zwischen den Staaten herrschten, wurde das Prinzip der Tauschgesellschaft gerade im gegenseitigen Verkehre im internationalen Leben der Staaten vorwiegend, so daß ein Höhepunkt erreicht wurde im Beginne des 20. Jahrhunderts. Wie in den einzelnen Staaten produziert und konsumiert wurde, was an andere Staaten verabreicht oder von anderen Staaten bezogen wurde, das war durchaus hineinbezogen in den Egoismus der einzelnen Staaten. Dafür wurde nur geltend gemacht, wofür der einzelne Staat als solcher sich interessierte. Wie man gegenseitige Beziehungen auf wirtschaftlichem Gebiete zwischen den Staaten herstellte, das beruhte ganz und gar auf dem Handelsprinzip, das beruhte auf dem Prinzip, das in der Tauschgesellschaft bezüglich der Warenzirkulation waltete.

Auf diesem Felde, aber im großen, da zeigte sich insbesondere, wie sich die bloße Tauschgesellschaft ad absurdum führen mußte. Und das Ad-absurdum-Führen, das war im wesentlichen eine der Hauptveranlassungen, Hauptursachen zu dem, was diese Weltkriegskatastrophe herbeigeführt hat. Es wird ja nachgerade den Menschen immer klarer und klarer, daß dieser große Gegensatz bestand zwischen der Forderung nach Weltwirtschaft und dem Hineinstellen der einzelnen Staaten in diese Weltwirtschaft, die sich abschlossen, statt in ihren Grenzen die Weltwirtschaft zu fördern, durch Zölle und anderes, und das, was Ergebnis der Weltwirtschaft sein konnte, für sich in Anspruch nehmen wollten und auch in Anspruch nahmen. Das führte zu jener Krise, die wir als die Weltkriegskatastrophe bezeichnen. Gewiß mischen sich andere Ursachen hinein, aber das ist gerade eine der Hauptursachen.

Und so wird es sich darum handeln, zu erkennen, wie gerade gegenüber dem internationalen Leben in allererster Linie nötig ist, daß die Möglichkeit gefunden werde, über die Grenzen hinüber nach anderen Prinzipien zu wirtschaften, als die der bloßen Tauschgesellschaft sind. Möglich muß es werden, geradeso wie in der Gemeingesellschaft der einzelne das Interesse für Produktion, wo sie immer auftritt, das Interesse für Konsumtion, wo sie immer auftritt, haben muß, wenn er mitarbeiten will, wie er sich für das gesamte Gebiet der Wirtschaft - Warenkonsumtion, Warenproduktion, Warenzirkulation - interessieren muß, so muß es möglich sein, Impulse zu finden, durch die ein jedes Staatsgebilde der Welt ein wirkliches inneres, wahrhaftiges Interesse haben könne für jedes andere Staatsgebilde, so daß nicht etwas anderes, dem Zufallsmarkt Ähnliches sich gestaltet zwischen den Völkern, sondern ein wirklich inneres Verständnis zwischen den Völkern walte.

Da kommen wir zu den tieferen Quellen dessen, was heute in der Abstraktheit in dem sogenannten Völkerbund gesucht wird, der ja darauf ausgeht, daß gewisse Schäden, die im Volkszusammenleben bestehen, korrigiert werden. Allein er entspringt aus demselben Prinzip, aus dem heute sehr vieles entspringt. Wer heute nachdenkt über die Schäden des Lebens, er denkt vielfach an die nächsten Korrekturen, durch die das eine oder andere ausgeführt werden kann. Da sieht einer, daß viel Luxus existiert, also will er den Luxus besteuern und dergleichen. Er denkt nicht daran, an die Quellen desjenigen zu gehen, um was es sich handelt, die Struktur des sozialen Zusammenlebens zu finden, durch die ein unmöglicher Luxus nicht entstehen kann. Daß man an solche Quellen gehen muß, das ist es aber, worauf es auch im Völkerleben ankommt. Daher wird man nicht durch irgendwelche Bestimmungen, die bloß korrigierend wirken sollen, zu einem internationalen innerlichen Zusammenleben kommen, sondern dadurch, daß man wirklich an die Quellen herangeht, durch die Volksverständnis gegenüber Volksverständnis gefunden werden kann. Nun, es kann kein Volksverständnis gefunden werden, wenn man bloß auf das eine hält, das sich gewissermaßen wie das Wachstum selber aus dem Menschen heraus ergibt, wenn man bloß auf dasjenige sieht, was, wie ich gezeigt habe, zum Nationalismus, zur Abschließung innerhalb der Volkheit führen muß. Was haben wir denn im geistigen Leben heute, das im Grunde einzig und allein einen internationalen Charakter trägt und ihn nur während dieses Krieges deshalb nicht verloren hat, weil die Menschen nicht imstande waren, ihn auf diesem Gebiete zu nehmen? Denn hätten sie ihn genommen, so hätten sie das Gebiet selber vernichten müssen. Was ist da, das wirklich heute über die ganze Erde eigentlich international ist? Nichts anderes im Grunde genommen, als das Gebiet der auf die äußere Sinneswelt gehenden Naturwissenschaft. Die intellektualistische Wissenschaft - ich habe in den Vorträgen gezeigt, wie die Naturwissenschaft intellektualistisch genannt werden muß -, die hat einen internationalen Charakter angenommen. Und leicht war es zu bemerken in diesen Zeiten, wo so viel Unwahres in die Welt getreten ist: Wenn irgend jemand der Wissenschaft das Leid angetan hat, sie im nationalen Sinne zu mißbrauchen, so benahm er ihr sozusagen dadurch ihren wahren Charakter. Aber sieht man nicht auf der anderen Seite, gerade durch die Tatsache, die ich eben anführen mußte, daß diese Art des Geisteslebens, die sich im Intellektualismus auslebt, nicht imstande war, ein internationales Leben zu begründen? Man sieht es, denke ich, klar genug, daß jene Ohnmacht, die ich von den verschiedensten Gesichtspunkten aus für diese intellektualistische Geistesrichtung geschildert habe, sich ganz besonders deutlich gezeigt hat in dem Verhältnis dieses intellektualistischen Geisteslebens zum Internationalismus.

Die Wissenschaft war nicht imstande, so tiefe internationale Impulse in die Menschenseele hineinzugießen, daß diese standgehalten hätten gegenüber den furchtbaren Ereignissen der letzten Jahre. Und da, wo diese Wissenschaft auftreten wollte, Sozialimpulse zu bilden wie im sozialistischen Internationalismus, da hat sich gezeigt, daß dieser internationalistische Sozialismus sich auch nicht halten konnte, sondern zumeist ins nationale Fahrwasser abströmte. Warum? Weil er eben gerade von den alten Erbgütern der Menschheit nur den Intellektualismus übernommen hat, und der Intellektualismus nicht stark genug ist, um ins Leben hinein gestaltend zu wirken. Das ist es, was auf der einen Seite bezeugt, daß diese neuere wissenschaftliche Richtung, die zugleich mit Kapitalismus und Kulturtechnik heraufgekommen ist, zwar ein internationales Element enthält, aber zu gleicher Zeit bezeugt, wie ohnmächtig zur Begründung eines wirklichen internationalen Lebens der Menschheit sie ist.

Demgegenüber muß nun geltend gemacht werden, was ich im vierten Vortrage über die geisteswissenschaftliche Richtung auseinandergesetzt habe, die auf der Anschauung, auf der Erkenntnis des Geistes beruht. Diese Geistesanschauung, sie beruht nicht auf äußerer Sinnesanschauung; sie geht hervor aus der Entwickelung der eigenen Menschennatur. Sie sprießt aus dem heraus, woraus auch die Phantasie sprießt. Aber sie sprießt aus tieferen Tiefen der Menschennatur heraus. Deshalb erhebt sie sich nicht bloß zu den individualistischen Gebilden der Phantasie, sondern zu dem objektiven Erkenntnisgebilde der geistigen Wirklichkeit der Welt. In dieser Beziehung wird ja diese Geistanschauung heute noch vielfach mißverstanden. Die sie nicht kennen, die sagen: ja, was auf diese Weise durch die Geistesanschauung gefunden wird, das ist ja nur subjektiv, das kann niemand beweisen. - Die mathematischen Erkenntnisse sind auch subjektiv und sind nicht beweisbar; und niemals kann man durch Übereinstimmung der Menschen mathematische Wahrheiten erhärten! Wer den pythagoräischen Lehrsatz kennt, der weiß, daß er richtig ist, und wenn ihm Millionen Menschen widersprechen würden. So kommt auch zu einem innerlich Objektiven, was mit Geisteswissenschaft hier gemeint ist. Aber es nimmt denselben Weg, den die Phantasie nimmt, und steigt höher hinauf, wurzelt in objektiven Tiefen der Menschennatur und steigt bis zu objektiven Höhen hinauf. Daher erhebt sich diese geistige Anschauung über alles, was sonst als Phantasie die Völker durchglüht. Und gleichzeitig wird in diesem oder jenem Volke aus diesen oder jenen Sprachen heraus diese Geistesanschauung gesucht. Sie ist ein und dieselbe, durch alle Menschen hindurch, über die ganze Erde hin, wenn sie nur tief genug gesucht wird.

Daher begründet diese Geistesanschauung, von der ich zeigen mußte, daß sie wirklich gestaltend in das Praktische, in das soziale Leben eingreifen kann, zugleich die Möglichkeit, einzugreifen in das internationale Leben, ein Band zu sein von Volk zu Volk. Seine Dichtung, die Eigentümlichkeiten auch seiner übrigen Kunstgebiete wird ein Volk auf individualistische Art hervorbringen. Aus dem Individualismus des Volkes heraus wird für die Geistanschauung etwas entstehen, was ganz gleich ist dem, was irgendwo anders entsteht. Die Grundlagen, aus denen die Dinge hervorgehen, sind an verschiedenen Orten; worinnen sie zuletzt ihre Ergebnisse finden, das ist über die ganze Erde hin gleich. Es reden heute viele Menschen vom Geiste; sie wissen nur nicht, daß der Geist erklärt werden muß. Wenn er aber erklärt wird, dann ist er etwas, was nicht Menschen trennt, sondern Menschen verbindet, weil es zurückgeht bis auf das innerste Wesen des Menschen, indem ein Mensch dasselbe hervorbringt wie der andere Mensch, indem ein Mensch den anderen Menschen völlig verstehen kann.

Dann aber, wenn man wirklich, was sonst nur individualistisch in der einzelnen Volksphantasie zum Ausdrucke kommt, bis zur Geistanschauung vertieft, dann werden die einzelnen Volksoffenbarungen nur mannigfaltige Ausdrücke sein für das, was in der Geistanschauung eine Einheit ist. Dann wird man über die ganze Erde hin bestehen lassen können die verschiedenen Volksindividualitäten, weil nicht eine abstrakte Einheit zu herrschen braucht, sondern weil sich das konkrete eine, das gefunden wird durch die Geistanschauung, in der mannigfaltigsten Weise wird zum Ausdruck bringen lassen. Und dadurch werden sich in dem geistigen einen die vielen verstehen können. Dann werden sie aus ihrem vielartigen Begreifen des Einheitlichen die Möglichkeit finden von Satzungen für ein Bündnis der Nationen, dann wird aus dem Geisteszustand, aus der geistigen Verfassung heraus auch die Rechtssatzung entstehen können, welche die Völker verbindet. Und dann wird Platz greifen in den einzelnen Völkern, was bei jedem einzelnen Volke sein kann: Interesse für Produktion und Konsumtion anderer Völker. Dann wird, was Geistesleben der Völker, was Rechtsleben der Völker ist, das Verständnis für andere Völker über die ganze Erde hin wirklich entwickeln können.