Jedem nach seinen Fähigkeiten, Gefühlen und Bedürfnissen

Quelle: GA 332a, S. 081-083, 2. Ausgabe 1977, 26.10.1919, Zürich

Es ist wie ein roter Faden, der sich durch alles, was neuere sozialistisch Denkende von sich geben, hindurchzieht, daß eine gesellschaftliche Struktur herbeigeführt werden müsse, in welcher die Menschen leben können nach ihren Fähigkeiten und nach ihren Bedürfnissen. Ob das mehr oder weniger grotesk radikal ausgestaltet wird oder mehr nach konservativer Gesinnung, darauf kommt es nicht an; wir hören überall: Die Schäden der gegenwärtigen sozialen Ordnung beruhten zum großen Teile darauf, daß der Mensch nicht in der Lage sei, innerhalb der gegenwärtigen gesellschaftlichen Ordnung seine Fähigkeiten wirklich voll anzuwenden; auf der anderen Seite, daß diese gesellschaftliche Ordnung eine solche sei, daß er seine Bedürfnisse nicht befriedigen könne, namentlich daß nicht eine gewisse Gleichmäßigkeit in der Befriedigung der Bedürfnisse herrsche. Man geht, indem man dieses ausspricht, auf zwei Grundelemente des menschlichen Lebens zurück. Fähigkeiten, das ist etwas, das sich mehr bezieht auf das menschliche Vorstellen. Denn alle Fähigkeiten entspringen zuletzt beim Menschen, da er bewußt handeln muß, aus seiner Vorstellung, aus seinem Denkwillen. Gewiß, das Gefühl muß fortwährend die Fähigkeiten des Vorstellens anfeuern, sie begeistern; aber das Gefühl als solches kann nichts machen, wenn nicht die grundlegende Vorstellung da ist. Also wenn man von den Fähigkeiten spricht, auch wenn man von den praktischen Geschicklichkeiten spricht, kommt man zuletzt auf das Vorstellungsleben. Das ging also einer Anzahl von Menschen auf, daß da gesorgt werden müsse dafür, daß der Mensch in der sozialen Struktur sein Vorstellungsleben zur Geltung bringen könne. Das andere, was dann geltend gemacht wird, geht mehr auf das Lebenselement des Wollens im Menschen. Das Wollen, das mit dem Begehren, mit der Bedürftigkeit nach diesen oder jenen Erzeugnissen zusammenhängt, ist eine Grundkraft des menschlichen Wesens. Und wenn man sagt, der Mensch solle leben können in einer sozialen Struktur nach seinen Bedürfnissen, so sieht man auf das Wollen. Ohne daß sie es wissen, reden also selbst die Marxisten vom Menschen, indem sie ihre soziale Frage aufwerfen und eigentlich glauben machen möchten, daß sie nur von Einrichtungen sprechen. Sie sprechen wohl von Einrichtungen, aber diese Einrichtungen wollen sie so gestalten, daß das Vorstellungsleben, die menschlichen Fähigkeiten, zur Geltung kommen können, und daß die menschlichen Bedürfnisse gleichmäßig befriedigt werden können, so wie sie vorhanden sind. Nun gibt es etwas sehr Eigentümliches in dieser Anschauung. In dieser Anschauung kommt nämlich ein Lebenselement des Menschen gar nicht zur Geltung, und das ist das Gefühlsleben. Sehen Sie, wenn man sagen würde: Man bezwecke, man wolle erzielen eine soziale Struktur, in der die Menschen leben können nach ihren Fähigkeiten, nach ihren Gefühlen, nach ihren Bedürfnissen -, so würde man den ganzen Menschen treffen. Aber kurioserweise läßt man, indem man in umfänglicher Weise charakterisieren will, welches das soziale Ziel für den Menschen ist, das Gefühlsleben des Menschen aus. Und wer das Gefühlsleben in seiner Menschheitsbetrachtung ausläßt, der läßt eigentlich jede Betrachtung über die wirklichen Rechtsverhältnisse im sozialen Organismus aus. Denn die Rechtsverhältnisse können sich nur so entwickeln im Zusammenleben der Menschen, wie sich in diesem Zusammenleben der Menschen Gefühl an Gefühl abstreift, abschleift. So wie die Menschen gegenseitig zueinander fühlen, so ergibt sich, was öffentliches Recht ist. Und daher mußte, weil man in der Grundfrage der sozialen Bewegung das Lebenselement des Gefühls wegließ, die Rechtsfrage eigentlich, wie ich sagte, in ein Loch fallen, verschwinden. Und es handelt sich darum, daß man gerade diese Rechtsfrage in das richtige Licht rückt. Gewiß, man weiß, daß ein Recht vorhanden ist, aber man möchte das Recht bloß als ein Anhängsel der wirtschaftlichen Verhältnisse hinstellen.