Rechts- und Gefühlsleben

Quelle: GA 332a, S. 080-086, 2. Ausgabe 1977, 26.10.1919, Zürich

Das Rechtsleben hat ja auch in seiner eigenen Wesenheit und Bedeutung die Menschen vielfach vor die Frage gestellt: Welchen Ursprung hat eigentlich das Recht? Welchen Ursprung hat das, wovon die Menschen in ihrem gegenseitigen Verhalten sagen, es sei rechtens? - Diese Frage ist ja immer für die Menschen eine sehr, sehr wichtige gewesen. Allein es ist sehr merkwürdig, daß bei einem weiten Kreise sozial betrachtender Persönlichkeiten die eigentliche Rechtsfrage, man möchte sagen, in ein Loch gefallen ist, gar nicht mehr da ist. Gewiß, akademisch theoretische Erörterungen sind auch heute viele vorhanden über Wesen, Bedeutung des Rechtes und so weiter, aber in der sozialen Betrachtung weiter Kreise ist gerade dieses das Charakteristische, daß die Rechtsfrage mehr oder weniger durchgefallen ist.

Wenn ich Ihnen das erörtern soll, muß ich Sie auf etwas aufmerksam machen, das in der Gegenwart ja schon immer häufiger und häufiger hervortritt, während es noch vor kurzer Zeit ganz übersehen worden ist. Die Menschen haben unhaltbare soziale Zustände heraufkommen sehen. Auch diejenigen, die in ihrer eigenen Lebenshaltung mehr oder weniger unberührt geblieben sind von diesen unsozialen Zuständen, haben versucht, darüber nachzudenken. Und während vor verhältnismäßig kurzer Zeit es wirklich radikal so war, wie ich es eben ausgesprochen habe, daß man eigentlich nur gelacht hat, wenn etwas erwartet worden ist von Rechts- und Geistesfragen für die wirtschaftlichen Zustände, tritt einem heute - aber wie aus dunklen Geistestiefen, könnte man sagen - schon immer mehr und mehr die Behauptung entgegen: Ja, im gegenseitigen sozialen Verhalten der Menschen komme doch auch so etwas in Betracht wie seelische Fragen und Rechtsfragen; und vieles in der Verwirrung der sozialen Zustände rühre heute davon her, daß man die seelischen Verhältnisse der Menschen, die psychischen Verhältnisse und die rechtlichen Verhältnisse in ihrer Selbständigkeit zu wenig berücksichtigt habe. - Also es wird schon ein wenig, weil es handgreiflich ist, darauf hingewiesen, daß von einer anderen als von der rein tatsächlichen, wirtschaftlichen Seite her das Heil kommen müßte. Aber in der praktischen Besprechung der Frage kommt das noch wenig zur Geltung.

Es ist wie ein roter Faden, der sich durch alles, was neuere sozialistisch Denkende von sich geben, hindurchzieht, daß eine gesellschaftliche Struktur herbeigeführt werden müsse, in welcher die Menschen leben können nach ihren Fähigkeiten und nach ihren Bedürfnissen. Ob das mehr oder weniger grotesk radikal ausgestaltet wird oder mehr nach konservativer Gesinnung, darauf kommt es nicht an; wir hören überall: Die Schäden der gegenwärtigen sozialen Ordnung beruhten zum großen Teile darauf, daß der Mensch nicht in der Lage sei, innerhalb der gegenwärtigen gesellschaftlichen Ordnung seine Fähigkeiten wirklich voll anzuwenden; auf der anderen Seite, daß diese gesellschaftliche Ordnung eine solche sei, daß er seine Bedürfnisse nicht befriedigen könne, namentlich daß nicht eine gewisse Gleichmäßigkeit in der Befriedigung der Bedürfnisse herrsche.

Man geht, indem man dieses ausspricht, auf zwei Grundelemente des menschlichen Lebens zurück. Fähigkeiten, das ist etwas, das sich mehr bezieht auf das menschliche Vorstellen. Denn alle Fähigkeiten entspringen zuletzt beim Menschen, da er bewußt handeln muß, aus seiner Vorstellung, aus seinem Denkwillen. Gewiß, das Gefühl muß fortwährend die Fähigkeiten des Vorstellens anfeuern, sie begeistern; aber das Gefühl als solches kann nichts machen, wenn nicht die grundlegende Vorstellung da ist. Also wenn man von den Fähigkeiten spricht, auch wenn man von den praktischen Geschicklichkeiten spricht, kommt man zuletzt auf das Vorstellungsleben. Das ging also einer Anzahl von Menschen auf, daß da gesorgt werden müsse dafür, daß der Mensch in der sozialen Struktur sein Vorstellungsleben zur Geltung bringen könne. Das andere, was dann geltend gemacht wird, geht mehr auf das Lebenselement des Wollens im Menschen. Das Wollen, das mit dem Begehren, mit der Bedürftigkeit nach diesen oder jenen Erzeugnissen zusammenhängt, ist eine Grundkraft des menschlichen Wesens. Und wenn man sagt, der Mensch solle leben können in einer sozialen Struktur nach seinen Bedürfnissen, so sieht man auf das Wollen.

Ohne daß sie es wissen, reden also selbst die Marxisten vom Menschen, indem sie ihre soziale Frage aufwerfen und eigentlich glauben machen möchten, daß sie nur von Einrichtungen sprechen. Sie sprechen wohl von Einrichtungen, aber diese Einrichtungen wollen sie so gestalten, daß das Vorstellungsleben, die menschlichen Fähigkeiten, zur Geltung kommen können, und daß die menschlichen Bedürfnisse gleichmäßig befriedigt werden können, so wie sie vorhanden sind.

Nun gibt es etwas sehr Eigentümliches in dieser Anschauung. In dieser Anschauung kommt nämlich ein Lebenselement des Menschen gar nicht zur Geltung, und das ist das Gefühlsleben. Sehen Sie, wenn man sagen würde: Man bezwecke, man wolle erzielen eine soziale Struktur, in der die Menschen leben können nach ihren Fähigkeiten, nach ihren Gefühlen, nach ihren Bedürfnissen -, so würde man den ganzen Menschen treffen. Aber kurioserweise läßt man, indem man in umfänglicher Weise charakterisieren will, welches das soziale Ziel für den Menschen ist, das Gefühlsleben des Menschen aus. Und wer das Gefühlsleben in seiner Menschheitsbetrachtung ausläßt, der läßt eigentlich jede Betrachtung über die wirklichen Rechtsverhältnisse im sozialen Organismus aus. Denn die Rechtsverhältnisse können sich nur so entwickeln im Zusammenleben der Menschen, wie sich in diesem Zusammenleben der Menschen Gefühl an Gefühl abstreift, abschleift. So wie die Menschen gegenseitig zueinander fühlen, so ergibt sich, was öffentliches Recht ist. Und daher mußte, weil man in der Grundfrage der sozialen Bewegung das Lebenselement des Gefühls wegließ, die Rechtsfrage eigentlich, wie ich sagte, in ein Loch fallen, verschwinden. Und es handelt sich darum, daß man gerade diese Rechtsfrage in das richtige Licht rückt. Gewiß, man weiß, daß ein Recht vorhanden ist, aber man möchte das Recht bloß als ein Anhängsel der wirtschaftlichen Verhältnisse hinstellen.

Und wie entwickelt sich im menschlichen Zusammenleben das Recht? Sehen Sie, eine Definition des Rechtes zu geben, ist oftmals versucht worden, aber niemals ist eigentlich eine befriedigende Definition des Rechtes herausgekommen. Ebensowenig ist viel herausgekommen, wenn man den Ursprung des Rechtes untersucht hat, wo das Recht herstammt. Man wollte diese Frage beantworten. Es ist niemals richtig etwas dabei herausgekommen. Warum nicht? Es ist geradeso wie wenn man irgendwie aus der menschlichen Natur und bloß aus der menschlichen Natur die Sprache entwickeln wollte. Es ist oftmals gesagt worden, und es ist richtig: Der Mensch, der auf einer einsamen Insel aufwächst, würde niemals zum Sprechen kommen, denn die Sprache entzündet sich an den anderen Menschen, an der ganzen menschlichen Gesellschaft.

So entzündet sich aus dem Gefühl im Zusammenwirken mit dem Gefühl des anderen innerhalb des öffentlichen Lebens das Recht. Man kann nicht sagen, es entspringe das Recht aus diesem oder jenem Winkel des Menschen oder der Menschheit, sondern man kann nur sagen: Die Menschen kommen durch ihre Gefühle, die sie gegenseitig füreinander entwickeln, in solche Beziehungen, daß sie diese Beziehungen in Rechten festlegen, festsetzen. Das Recht ist also etwas, nach welchem so gefragt werden sollte, daß man vor allen Dingen auf seine Entwickelung innerhalb der menschlichen Gesellschaft hinsieht. Dadurch aber kommt die Rechtsbetrachtung für den modernen Menschen gerade in unmittelbare Nähe dessen, was sich heraufentwickelt hat in der Geschichte der neueren Menschheit als die demokratische Forderung.

Man kommt dem Wesen solcher Forderungen, wie es die demokratische Forderung ist, nicht nahe, wenn man nicht die menschliche Entwickelung selber wie eine Art Organismus ansieht. Aber davon sind die gegenwärtigen Betrachtungsweisen sehr, sehr weit entfernt. Jeder Mensch empfindet es gewiß als etwas sehr Lächerliches und Paradoxes, wenn man erklären wollte, wie der Mensch von der Geburt bis zum Tode sich entwickelt unter dem Einfluß der Nahrungsmittel; wenn man erklären wollte, weil der Kohl so ist, der Weizen so ist, das Rindfleisch so ist, entwickelt sich der Mensch von seiner Geburt bis zum Tode so und so. Nein, niemand wird zugeben, daß das eine vernünftige Betrachtungsweise ist, sondern jeder wird zugestehen, daß man fragen muß: Wie ist es in der menschlichen Natur selbst begründet, daß zum Beispiel um das siebente Jahr herum aus dieser menschlichen Natur heraus die Kräfte kommen, die den Zahnwechsel bewirken? Man kann nicht aus dem Kohl, aus dem Rindfleisch die Konsequenzen ziehen, daß der Zahnwechsel sich vollzieht. Ebenso muß man fragen: Wie entwickelt sich aus dem menschlichen Organismus heraus dasjenige, was zum Beispiel die Geschlechtsreife darstellt? - und so weiter. Man muß auf das, was sich entwickelt, auf seine innere Natur eingehen.

Suchen Sie sich unter den heutigen Vorstellungsarten aber eine, welche das auf die menschliche Entwickelungsgeschichte anwenden kann, welche sich zum Beispiel klar darüber wäre, daß, indem die Menschheit auf der Erde sich entwickelt, sie aus sich, aus ihrem Wesen heraus in den verschiedenen Zeitaltern gewisse Kräfte und Fähigkeiten, gewisse Eigentümlichkeiten entwickelt!

Wer lernt, sachgemäß zu sein in der Naturbetrachtung, kann diese sachgemäße Betrachtungsweise auch übertragen auf die Geschichtsbetrachtung. Und da findet man, daß aus den Tiefen der Menschennatur hervorgehend seit der Mitte des 15. Jahrhunderts eben gerade diese Forderung nach Demokratie sich entwickelt hat und in den verschiedenen Gegenden der Erde mehr oder weniger befriedigt worden ist, diese Forderung: daß der Mensch in seinem Verhalten zu anderen Menschen nur dasjenige gelten lassen kann, was er selbst als das Richtige, als das ihm Angemessene empfindet. Das demokratische Prinzip ist aus den Tiefen der Menschennatur heraus die Signatur des menschlichen Strebens in sozialer Beziehung in der neueren Zeit geworden. Es ist eine elementare Forderung der neueren Menschheit, dieses demokratische Prinzip.

Wer diese Dinge durchschaut, der muß sie aber auch völlig ernst nehmen, der muß sich dann die Frage aufwerfen: Welches ist die Bedeutung und welches sind die Grenzen des demokratischen Prinzipes? - Das demokratische Prinzip - ich habe es eben charakterisiert - besteht darinnen, daß die in einem geschlossenen sozialen Organismus zusammenlebenden Menschen Beschlüsse fassen sollen, welche aus jedem einzelnen hervorgehen. Dann können sie natürlich nur für die Gesellschaft bindende Beschlüsse dadurch werden, daß sich Majoritäten ergeben. Demokratisch wird, was in solche Majoritätsbeschlüsse einläuft, nur dann sein, wenn jeder einzelne Mensch als einzelner Mensch dem anderen einzelnen Menschen als ein gleicher gegenübersteht. Dann aber können auch nur über diejenigen Dinge Beschlüsse gefaßt werden, in denen der einzelne Mensch als gleicher jedem anderen Menschen in Wirklichkeit gleich ist. Das heißt: Es können nur Beschlüsse gefaßt werden auf demokratischem Boden, über die jeder mündig gewordene Mensch dadurch, daß er mündig geworden ist, urteilsfähig ist. Damit aber haben sie - ich meine so klar als nur möglich - der Demokratie ihre Grenzen gezogen. Es kann ja nur dasjenige auf dem Boden der Demokratie beschlossen werden, was man einfach dadurch beurteilen kann, daß man ein mündig gewordener Mensch ist.

Dadurch schließt sich aus von demokratischen Maßregeln alles, was sich auf die Entwickelung der menschlichen Fähigkeiten im öffentlichen Leben bezieht. Alles, was Erziehung und Unterrichtswesen, was geistiges Leben überhaupt ist, erfordert die Einsetzung des individuellen Menschen - wir werden übermorgen im genaueren davon sprechen -, erfordert vor allen Dingen wirkliche individuelle Menschenkenntnis, erfordert in dem Unterrichtenden, in dem Erziehenden besondere individuelle Fähigkeiten, die durchaus nicht dem Menschen dadurch eignen können, daß er einfach ein mündig gewordener Mensch ist. Entweder nimmt man es mit der Demokratie nicht ernst: dann läßt man sie beschließen auch über alles, was an individuellen Fähigkeiten hängt; oder man nimmt es mit der Demokratie ernst: dann muß man ausschließen von der Demokratie die Verwaltung des Geisteslebens auf der einen Seite. Man muß aber auch ausschließen von dieser Demokratie, was Wirtschaftsleben ist. Alles was ich gestern entwickelt habe, beruht auf Sachkenntnis und Fachtüchtigkeit, die sich der einzelne erwirbt in dem Lebenskreis wirtschaftlicher Art, in dem er drinnensteht. Niemals kann einfach die Mündigkeit, die Urteilsfähigkeit jedes mündig gewordenen Menschen darüber entscheiden, ob man ein guter Landwirt, ob man ein guter Industrieller und dergleichen ist. Daher können auch nicht Majoritätsbeschlüsse gefaßt werden von jedem mündig gewordenen Menschen über dasjenige, was auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens zu geschehen hat.

Das heißt, das Demokratische muß ausgesondert werden von dem Boden des Geisteslebens, von dem Boden des Wirtschaftslebens. Dann ergibt sich zwischen beiden das eigentliche demokratische Staatsleben, in dem ein jeder Mensch dem anderen als urteilsfähiger, mündiger, gleicher Mensch gegenübersteht, in dem aber auch nur Majoritätsbeschlüsse gefaßt werden können über das, was abhängt von der gleichen Urteilsfähigkeit aller mündig gewordenen Menschen.