Die staatlich gesicherte Geldwirtschaft liegt wie ein Schleier über der Wirtschaft

Quelle: GA 332a, S. 023-027, 2. Ausgabe 1977, 24.10.1919, Zürich

Dieses Zusammenleben von Wirtschaft, Recht und Geist, das sahen solche Menschen wie Marx und Engels.

Und sie sahen, wie das moderne Wirtschaftsleben nicht mehr vertrug die alte Rechtsform, auch nicht mehr vertrug die alte Geistesform. Sie kamen darauf, daß herausgeworfen werden müsse aus dem Wirtschaftsleben das alte Rechtsleben, das alte Geistesleben. Aber sie kamen nun zu einem sonderbaren Aberglauben, zu einem Aberglauben, über den wir werden viel sprechen müssen in diesen Vorträgen. Sie kamen zu dem Aberglauben, daß das Wirtschaftsleben - sie sahen das Geistesleben, das Rechtsleben als eine Ideologie an, weil sie es ja ansahen als die einzige Wirklichkeit -, daß das Wirtschaftsleben die neuen Rechtsverhältnisse, die neuen Geistesverhältnisse aus sich selber hervorbringen könne. Einer der verhängnisvollsten Aberglauben kam auf: man müsse in einer bestimmten gesetzmäßigen Weise wirtschaften, und wenn man wirtschafte in dieser bestimmten gesetzmäßigen Weise, dann ergäbe sich das Geistesleben, das Rechtsleben, das Staats- und das politische Leben aus dem Wirtschaftsleben heraus von selber.

Wodurch konnte denn dieser Aberglaube entstehen? Dieser Aberglaube konnte nur dadurch entstehen, daß sich die eigentliche Struktur der menschlichen Wirtschaft, das eigentliche Arbeiten des neueren Wirtschaftslebens, verbarg hinter dem, was man gewohnt worden ist die Geldwirtschaft zu nennen.

Diese Geldwirtschaft ist ja in Europa heraufgekommen als Begleiterscheinung ganz bestimmter Ereignisse. Sie brauchen nur einen tieferen Blick in die Geschichte hinein zu tun, so werden Sie sehen, daß ungefähr in der Zeit, als Reformation und Renaissance, also eine neue Geistesverfassung, über die europäische zivilisierte Welt heraufziehen, erschlossen werden die Gold- und Silberquellen Amerikas, daß der Gold- und Silberzustrom, namentlich Mittel- und Südamerikas, nach Europa kommt. Was früher mehr Naturalwirtschaft war, das wird immer mehr und mehr überflutet von der Geldwirtschaft.

Die Naturalwirtschaft hat noch hinsehen können auf das, was der Boden hergibt, das heißt auf das Sachliche; sie hat auch hinsehen können auf das, wozu der einzelne Mensch tüchtig ist und was er hervorbringen kann, also auf das Sachliche und Fachliche. Unter der Zirkulation des Geldes ist allmählich hingeschwunden der Blick auf das rein Sachliche des Wirtschaftslebens.

Indem die Geldwirtschaft abgelöst hat die Naturalwirtschaft, hat sich gewissermaßen ein Schleier hingezogen über das Wirtschaftsleben. Man konnte nicht mehr die reinen Anforderungen des Wirtschaftslebens sehen.

Was liefert dieses Wirtschaftsleben für den Menschen? Dieses Wirtschaftsleben liefert für den Menschen Güter, die er für seinen Konsum braucht. Wir brauchen heute noch gar nicht zu unterscheiden zwischen geistigen und physischen Gütern, denn auch geistige Güter können wirtschaftlich so aufgefaßt werden, daß sie eben für den menschlichen Konsum verbraucht werden. Dieses Wirtschaftsleben liefert also Güter, und diese Güter sind Werte, weil der Mensch ihrer bedarf, weil das menschliche Begehren darauf geht. Der Mensch muß den Gütern einen bestimmten Wert beimessen. Dadurch haben sie innerhalb des sozialen Lebens auch ihren objektiven Wert, der innig zusammenhängt mit dem subjektiven Beurteilungswert, den der Mensch ihnen beilegt.

Aber wie drückt sich in der neueren Zeit volkswirtschaftlich der Wert der Güter aus? Der Wert der Güter, der im wesentlichen das ausmacht, was diese Güter bedeuten im sozialen, im wirtschaftlichen Zusammenleben, wie drückt sich dieser Wert aus? Dieser Wert drückt sich in den Preisen aus. Über Wert und Preis werden wir zu sprechen haben in diesen Tagen; ich will heute nur darauf hindeuten, daß im wirtschaftlichen Verkehrsleben, im sozialen Verkehrsleben überhaupt - sofern dieses Verkehrsleben abhängig ist von dem Wirtschaften, von den Gütern - sich für den Menschen der Wert der Güter in dem Preis ausdrückt. Es ist auch ein großer Irrtum, wenn man den Wert der Güter mit den Geldpreisen verwechselt. Und nicht eigentlich durch theoretische Erwägungen, sondern durch die Lebenspraxis wird die Menschheit immer mehr und mehr darauf kommen, daß etwas anderes ist der Wert der Güter, die wirtschaftlich erzeugt werden, und der abhängt von menschlicher subjektiver Beurteilung, von gewissen sozialen Rechts- und Kulturverhältnissen, und dasjenige, was sich ausdrückt in den Preisverhältnissen, die durch das Geld zum Vorschein kommen. Aber der Wert der Güter wird zugedeckt in der neueren Zeit durch die Preisverhältnisse, die in der sozialen Zirkulation herrschen.

Das liegt zugrunde den modernen sozialen Verhältnissen als das dritte Glied der sozialen Frage. Hier, hier wird man die soziale Frage als eine wirtschaftliche Frage erkennen lernen: wenn man wiederum zurückgeht auf dasjenige, was den eigentlichen Wert der Güter dokumentiert, gegenüber dem, was in den bloßen Preisverhältnissen zum Ausdruck kommt. Die Preisverhältnisse können gar nicht anders, besonders in kritischen Zeiten, aufrechterhalten werden, als dadurch, daß der Staat, das heißt der Rechtsboden, die Garantie übernimmt für den Wert des Geldes, für den Wert also einer einzigen Ware.

Aber es tritt etwas Neues auf. Man braucht gar keine theoretischen Betrachtungen über das, was herausgekommen ist durch das Mißverständnis über Preis und Wert, anzustellen, man braucht nur hinzuweisen auf etwas Tatsächliches, was in der neueren Zeit aufgetreten ist. Man spricht davon in der Nationalökonomie, daß es in alter Zeit - in Deutschland sogar bis zum Ende des Mittelalters - die alte Naturalwirtschaft gegeben hat, die bloß auf dem Tausch der Güter beruht, daß an deren Stelle trat die Geldwirtschaft, wo das Geld der Repräsentant ist für die Güter und eigentlich immer nur das Wertgut gegen Geld ausgetauscht wird. Aber schon sehen wir etwas einziehen in das soziale Leben, das bestimmt scheint, die Geldwirtschaft abzulösen. Schon wirkt dieses andere überall drinnen, wird nur noch nicht bemerkt. Aber wer hinausgeht über das abstrakte Begreifen seines Kassen- oder Kontobuches, wer hinausgeht über die bloße Zahl und lesen kann, was in diesen Zahlen geschrieben ist, der wird finden, daß in den Zahlen eines heutigen Kassen- oder Kontobuches nicht bloß Güter stehen, sondern daß in diesen Zahlen vielfach zum Ausdruck kommt, was man nennen könnte die Kreditverhältnisse im modernsten Sinne des Wortes. Was ein Mensch erst leisten kann, weil man von ihm voraussetzt, daß er zu dem oder jenem fähig ist, was aus der Tüchtigkeit des Menschen heraus Vertrauen erwecken kann, das ist es, was merkwürdigerweise in unser trockenes, nüchternes Wirtschaftsleben immer mehr und mehr einzieht.

Studieren Sie heute die Geschäftsbücher, so werden Sie finden, daß einzieht - gegenüber dem, was bloßer Geldwert ist -, das Bauen auf Menschenvertrauen, das Bauen auf menschliche Tüchtigkeit. In den Zahlen der heutigen Geschäftsbücher drückt sich ein großer Umschwung, drückt sich eine soziale Metamorphose aus, wenn man sie richtig liest.

Indem man betont, daß sich die alte Naturalwirtschaft in Geldwirtschaft umgewandelt hat, muß man heute zugleich betonen: das dritte Glied ist die Umwandlung der Geldwirtschaft in die Kreditwirtschaft.

Damit tritt an die Stelle desjenigen, was lange Zeit hindurch war, wiederum ein Neues. Dadurch tritt aber auch das in das soziale Leben ein, was auf den Wert des Menschen selber hinweist. Das Wirtschaftsleben selber, in bezug auf die Hervorbringung von Werten, steht einer Umwandelung gegenüber, steht einer Frage gegenüber, und das ist die Wirtschaftsfrage, das ist das dritte Glied dieser sozialen Frage.