Quelle des Individuellen liegt im Vorgeburtlichen

Quelle: GA 191, S. 184-190, 2. Ausgabe 1983, 23.10.1919, Dornach

Jenseits von Geburt und Tod liegt ja dasjenige im Menschen, was auch da ist zwischen Geburt und Tod; nur ist es zwischen Geburt und Tod hinter der leiblichen Hülle verborgen. Aber würde weniger egoistische Religiosität da sein und mehr altruistische Religiosität - ich habe schon davon gesprochen -, so würde in dem, was der Mensch von der Geburt an durchlebt, gesehen werden die Fortsetzung des vorgeburtlichen oder vor der Empfängnis liegenden Lebens in der geistigen Welt. Dann würden uns aber die Erscheinungen am Menschenleben als Wunder erscheinen, denen gegenüber wir fortwährend das Bedürfnis haben, sie zu enträtseln. Wir würden die Sehnsucht haben, durch die menschliche Entwickelung hindurch die Offenbarung desjenigen zu schauen, was sich gestaltet, verkörpert aus übersinnlichen Welten heraus in die sinnliche Welt hinein. Und im Grunde liegt es heute schon so, daß wir auch das nachtodliche Leben nur in der richtigen Weise verstehen können, wenn wir auf das vorgeburtliche Leben hinschauen.

Sehen Sie, es gibt Lebensgeheimnisse. Eine Anzahl von Lebensgeheimnissen muß in unserer Zeit wegen der Entwickelungsforderungen der Menschheit offenbar werden. Der Mensch kann nicht zur Bewußtheit über sein vollständiges Menschenwesen kommen, wenn er nicht erweitert die Anschauung von sich selbst auf das vorgeburtliche und nachtodliche Leben. Denn wir wissen eben nur von einem Teil von unserem Wesen, wenn wir nicht das Hereinscheinen des Vorgeburtlichen und Nachtodlichen in dieses leibliche Dasein uns offenbaren lassen. Es ist heute noch außerordentlich schwierig, vor Menschen, wenn sie nicht gerade schon etwas vorgebildet sind durch Anthroposophie, von diesen Dingen zu reden; denn entweder ist das allerhöchste Interesse da, über diese Dinge nicht die Wahrheit unter die Menschen kommen zu lassen, oder es ist kein rechtes Verständnis da. Sie brauchen sich ja nur im Leben umzusehen, dann werden Sie finden, daß um das vorgeburtliche Leben sich die gebräuchlichen Weltanschauungen heute sehr, sehr wenig kümmern. Um das Nachtodliche kümmern sie sich aus Egoismus heraus, weil sie verlangen, nicht mit ihrem physischen Leibe zugrunde zu gehen. Und auf diesen Egoismus rechnen die Religionsbekenntnisse, indem sie im Grunde genommen nur sprechen von dem nachtodlichen Leben, nicht von dem vorgeburtlichen Leben.

Nun ist die Sache aber nicht bloß so, sondern es ist heute deshalb noch schwierig, über diese Dinge zu sprechen, weil es ja ein Dogma der katholischen Kirche ist, nicht an ein vorgeburtliches Leben zu glauben, ein Dogma, das auch andere christliche Bekenntnisse angenommen haben. So daß so ziemlich die meisten christlichen Bekenntnisse heute es als eine Ketzerei ansehen, von dem vorgeburtlichen Leben zu sprechen. Es ist aber etwas außerordentlich tief in die geistige Entwickelung der Menschheit Eingreifendes, wenn man dogmatisch verwehrt, auf das vorgeburtliche Leben hinzuschauen. Man kann sich wirklich kaum denken - wobei ich nicht von bewußten Dingen immer spreche, sondern mehr von unbewußten der Menschheitsentwickelung -, daß durch etwas es mehr gelingen könnte den Menschen in Illusionen einzuwiegen über seine eigentliche Wesenheit, als wenn man ihm Anschauungen vorenthält über das vorgeburtliche Leben. Denn die ganze Lebensanschauung über den Menschen wird dadurch verfälscht, daß man den Menschen vortäuscht das Irrtümliche, mit der bloßen Entstehung aus Vater und Mutter sei der Mensch überhaupt auf die Erde hingestellt. Die Kirche hat sich damit ein ungeheures Machtmittel geschaffen, daß sie den Menschen die Einsicht in das vorgeburtliche, Leben vorenthalten hat. Deshalb wird die Kirche als solche in der furchtbarsten Weise kämpfen gegen alle jene Lehren, welche sich über das vorgeburtliche Leben ergehen. Die Kirche wird das nicht vertragen. Darüber sollte man sich auch keinen Illusionen hingeben; aber auch darüber nicht, daß das Leben einfach nicht zu verstehen ist, wenn man auf das vorgeburtliche Leben keine Rücksicht nimmt.

Aber etwas wird Ihnen daraus folgen, was Sie eigentlich tief und gründlich beachten sollten. Bedenken Sie doch - es lag also im Interesse der Kirchenbekenntnisse, dem Menschen wichtige Aufklärung über sich selbst vorzuenthalten. Die Kirchenbekenntnisse haben es geradezu zu ihrer Mission gemacht, dem Menschen wichtigste Wahrheiten über sich selbst vorzuenthalten. Diese kirchlichen Bekenntnisse haben damit ihr Mittel gefunden, die Menschen einzuhüllen in Dumpfheit, in Illusion. Und es ist heute notwendig, in diesem Punkte sich keinen Täuschungen hinzugeben, nicht aus irgendeiner Nachsicht heraus kompromisseln zu wollen mit allerlei kirchenbekenntlichen Anschauungen. Es läßt sich damit nicht kompromisseln. Und beachtet sollte werden, daß es nichts fruchtet, wenn Sie irgendwo geltend machen: Die Anthroposophie beschäftigt sich ja mit dem Christus, sie ist nicht atheistisch, sie ist auch nicht pantheistisch und so weiter. - Das wird Ihnen nie etwas helfen, denn die Kirchenbekenntnisse werden sich nicht darüber ärgern, daß Sie sich nicht mit dem Christus befassen, daran liegt ihnen nicht viel, aber sie werden sich gerade darüber ärgern, daß Sie sich mit dem Christus befassen. Denn es liegt ihnen daran, daß sie das Monopol haben, allein über Christus etwas zu sagen. In diesen Dingen darf man keine innere Nachsicht üben, sonst wird man immer versucht sein, die wichtigsten Dinge des Lebens in Dämmerung und Nebel und Illusion zu hüllen. Die Menschheit hat es gegenwärtig notwendig, den geistigen Erkenntnissen entgegengehen. Den geistigen Erkenntnissen widerstreben aber am meisten die dogmatischen Kirchenbekenntnisse, namentlich jene dogmatischen Kirchenbekenntnisse, die sich im Abendlande allmählich herausgebildet haben. Die Kirche als solche kann eigentlich nicht feindlich sein den geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen; das ist ganz unmöglich, denn die Kirche als solche sollte es eigentlich nur zu tun haben mit dem Fühlen des Menschen, mit den Zeremonien, mit dem Kultus, aber nicht mit dem Gedankenleben. Der gebildete Orientale begreift die abendländischen Kirchenbekenntnisse überhaupt nicht, denn der gebildete Orientale weiß genau: er ist gebunden an den äußeren Kultus; denjenigen Zeremonien sich hinzugeben, denen man sich in seinem Bekenntnisse hingibt, das obliegt ihm. Denken kann er, was er will. Im orientalischen Bekenntnisse weiß man noch etwas von Gedankenfreiheit. Diese Gedankenfreiheit ist den Europäern ganz und gar verlorengegangen. Sie sind erzogen in Gedankenknechtung, ganz besonders seit dem 8. oder 9. nachchristlichen Jahrhundert. Deshalb wird es den Menschen der abendländischen Kultur so schwer, sich hineinzufinden in die Dinge, die ich neulich angeführt habe: daß das Beweisen irgendeiner Meinung leicht ist. Man kann die eine Meinung beweisen und kann ihr Gegenteil beweisen. Denn daß man etwas beweisen kann, das ist kein Beweis für die Wahrheit desjenigen, was man behauptet. Um zur Wahrheit zu kommen, muß man in viel tiefere Schichten des Erlebens hineingehen, als diejenigen sind, in denen unsere gewöhnlichen Beweise liegen. Aber das Erleben haben gewisse Kirchenbekenntnisse nicht an die Oberfläche heraufbringen wollen; deshalb haben sie den Menschen getrennt von solchen Wahrheiten wie diese: Da stehst du, o Mensch! Indem dein Organismus sich von Kleinkind auf entwickelt, entwickelt sich in dir nach und nach dasjenige, was du durchlebt hast im vorgeburtlichen Leben.

Und was entwickelt sich denn hauptsächlich aus dem vorgeburtlichen Leben heraus im einzelnen menschlichen Leben zwischen Geburt und Tod?

Nun, wir unterscheiden im Menschen ein individuelles Leben und ein soziales Leben. Ohne daß Sie diese zwei Pole des menschlichen Erlebens auseinanderhalten, können Sie überhaupt zu keinem Begriff vom Menschen kommen: Individuelles Leben - dasjenige, was wir gewissermaßen als unser urpersönlichstes Eigentumserlebnis an jedem Tage, in jeder Stunde haben; soziales Leben - dasjenige, was wir nicht haben könnten, wenn wir nicht fortwährend in Gedankenaustausch, in sonstigen Verkehr mit anderen Menschen treten würden. Individuales und Soziales spielen in das menschliche Leben herein. Alles, was in uns individuell ist, ist im Grunde die Nachwirkung des vorgeburtlichen Lebens. Alles, was wir im sozialen Leben entwickeln, ist der Keim zu dem nachtodlichen Leben. Wir haben sogar neulich gesehen, daß es der Keim zu dem Karma ist. So daß wir sagen können: Im Menschen ist Individuelles und Soziales. Das Individuelle ist die Nachwirkung des Vorgeburtlichen. Das Soziale ist das Keimhafte des Nachtodlichen.

Der erste Teil dieser Wahrheit, daß das Individuelle gewissermaßen die Nachwirkung ist des vorgeburtlichen Lebens, der kann ganz besonders ersehen werden, wenn man Menschen mit besonderen Begabungen studiert. Sagen wir einmal, weil es gut ist, in solchen Fällen auf das Radikale zu sehen, man studiere menschliche Genies. Woher kommt die geniale Kraft, das Genie? Das Genie bringt sich der Mensch durch seine Geburt in dieses Leben herein. Es ist immer das Ergebnis des vorgeburtlichen Lebens. Und da begreiflicherweise das vorgeburtliche Leben besonders in der Kindheit zum Ausdrucke kommt - später paßt sich der Mensch dem Leben zwischen Geburt und Tod an, aber in der Kindheit kommt alles das heraus, was der Mensch vor der Geburt erlebt hat -, deshalb zeigt sich beim Genie das Kindliche während des ganzen Lebens. Es ist geradezu die Eigenschaft des Genies, das Kindhafte durch das ganze Leben zu bewahren. Und es gehört sogar zum Genie, bis in die spätesten Tage sich die Jugendlichkeit, Kindlichkeit zu erhalten, weil alles Genie zusammenhängt mit dem vorgeburtlichen Leben. Aber nicht nur das Genie, alle Begabungen, alles dasjenige, wodurch ein Mensch eine Individualität ist, hängt mit dem vorgeburtlichen Leben zusammen. Wenn man dem Menschen daher das Dogma gibt, es gebe kein vorgeburtliches Leben, es gebe keine Präexistenz, was tut man denn implicite damit? Man verbreitet die Lehre: Es gibt keinen Grund für besondere individuelle Begabungen. - Sie wissen, daß die eigentlichen Kirchenbekenntnisse, wenn sie ganz aufrichtig und ehrlich sind, sich dazu bekennen: Es gibt keine Gründe für persönliche Begabungen. - Es geht ja nicht an, die persönlichen Begabungen selber abzuleugnen; aber man leugnet ihre Gründe ab, dann kann man die persönlichen Begabungen für ziemlich bedeutungslos halten.

Damit hängt es zusammen, daß aus den Kirchenbekenntnissen heraus, wie sie durch Jahrhunderte gewaltet haben, eine Erziehung der europäischen Menschheit hervorgegangen ist, die letzten Endes zu dem modernen Menschennivellement geführt hat. Was sind heute im Grunde den Menschen individuelle Begabungen? Und was würden individuelle Begabungen sein, wenn die gewöhnliche sozialistische Lehre durchgeführt würde? In diesen Dingen kommt es darauf an, weniger auf den äußeren Namen einer Sache zu sehen als auf die inneren Zusammenhänge. Wer auf der einen Seite ein dogmengläubiger Katholik ist und auf der anderen Seite ein Hasser sozialdemokratischer Lehren, der ist in einer sehr merkwürdigen Inkonsequenz drinnen. Er ist in derselben Inkonsequenz drinnen wie einer, der sagt: Ich habe im Jahre 1875 einen kleinen jungen kennengelernt, den habe ich sehr gern, habe ihn heute noch sehr gern, diesen kleinen jungen. - Aber nun sagt man ihm: Aber sieh einmal, aus dem kleinen jungen von 1875 ist der Kerl geworden, der jetzt als Sozialdemokrat vor dir steht. - Ja -, so wird dann geantwortet-, den kleinen jungen von 1875, den habe ich in seinem Leben von damals auch heute noch gern, aber den, der da aus ihm geworden ist, den mag ich nicht, den hasse ich. - Die Sozialdemokratie ist aber aus dem Katholizismus geworden ! Der Katholizismus ist nur der kleine junge, der sich ausgewachsen hat zur Sozialdemokratie. Weder möchte die letztere sich das eingestehen, noch möchte der erstere das zugestehen, aber nur aus dem Grunde, weil die Menschen im äußerlich Sozialen keine Lebendigkeit sehen wollen, sondern eigentlich nur etwas sehen wollen wie aus Papiermaché. Wenn man etwas aus Papiermaché macht, dann bleibt es steif und behält seine Form, solange es sich hält; aber dasjenige, was im sozialen Leben drinnensteht, das wächst und lebt eben und es kann ja daneben auch konserviert werden. Aber da muß man zwischen Täuschung und Wirklichkeit unterscheiden. Sehen Sie, zwischen Täuschung und Wirklichkeit unterscheiden Sie, wenn Sie etwa zu folgender Idee sich aufschwingen: 8. Jahrhundert: Katholizismus; 20. Jahrhundert: Aus dem wirklichen Katholizismus des 8. Jahrhunderts ist die Sozialdemokratie geworden ! Und dasjenige, was daneben als Katholizismus da ist, das ist nicht der wirkliche Katholizismus vom 8. Jahrhundert, sondern dessen Imitation, das ist der nachgemachte Katholizismus; denn der wirkliche Katholizismus ist mittlerweile zur Sozialdemokratie ausgewachsen.

Das ist im allgemeinen nicht anerkannt, weil eben die Menschen sich nicht bequemen wollen, Wirklichkeiten zu sehen, sondern weil sie sich Illusionen, Täuschungen hinstellen vor die Wirklichkeiten. Und das können sie ja leicht tun. Denn man gibt einfach dem, was längst nicht mehr es selbst ist, denselben Namen. Aber wenn man heute dem, was von Rom aus in Europa vertreten wird - ich muß es umschreiben -, in demselben Sinne den Namen Katholizismus gibt, wie dem, was im 8. Jahrhundert von Rom aus vertreten worden ist, so ist das gerade so, wie wenn ich von einem sechzigjährigen alten Mann sage : Das ist ja das achtjährige Kerlchen! - Es war einmal das achtjährige Kerlchen, aber heute ist es nicht mehr das achtjährige Kerlchen.