Erfindung der Freiheit als Aufgabe Europas für die Welt

Quelle: GA 191, S. 074-078, 2. Ausgabe 1983, 10.10.1919, Dornach

Wir müssen uns fragen: Gibt es keine Möglichkeit, zu einer kosmogonischen Vorstellungsart wiederum zu kommen? Gibt es keine Möglichkeit, zu einem wirklich sozial wirkenden Impuls der Freiheit zu kommen? Gibt es keine Möglichkeit zu einem Impuls, der religiös und ein Impuls der Brüderlichkeit zugleich ist, also eine wirkliche Grundlage der ökonomisch sozialen Ordnung ist, gibt es keine Möglichkeit, zu einem solchen Impulse zu kommen? - Und wenn wir uns aus der Realität heraus diese Fragen vorlegen, dann gewinnen wir auch reale Antworten; denn dasjenige, um was es sich dabei handelt, das ist dieses: daß in der Gegenwart nicht alle Menschenarten veranlagt sind, zur ganzen umfassenden Weltenwahrheit zu kommen, sondern daß die verschiedenen Menschenarten der Erde nur veranlagt sind, zu Teilgebieten des wahren Wirkens zu kommen. Und wir müssen uns fragen: Wo ist vielleicht im gegenwärtigen Erdenleben die Möglichkeit vorhanden, daß eine Kosmogonie sich entwickle, wo ist die Möglichkeit vorhanden, daß ein durchgreifender Impuls der Freiheit sich entwickle, und wo ist der Impuls vorhanden zu einem religiösen und brüderlichen Zusammenleben der Menschen im sozialen Sinne?

Fangen wir mit dem letzteren an, dann ergibt eine unbefangene Beobachtung unserer irdischen Verhältnisse dieses, daß wir suchen müssen die Gesinnung, die Denkweise für einen wirklich brüderlichen Impuls auf unserer Erde bei den asiatischen Völkern; bei den asiatischen Völkern, insbesondere in der chinesischen und indischen Kultur. Trotzdem diese Kulturen bereits in die Dekadenz gekommen sind, und trotzdem das scheinbar der äußeren Oberflächenbeobachtung widerspricht, finden wir dort jene Impulse innerlichst vom Herzen des Menschen ausgehender Liebe zu allen Wesen, welche allein die Grundlagen abgeben können, erstens für religiösen Altruismus und zweitens für eine wirkliche, altruistische ökonomische Kultur.

Nun liegt das Eigentümliche vor, daß die Asiaten zwar die Gesinnung haben für den Altruismus, daß sie aber keine Möglichkeit haben, um den Altruismus durchzuführen. Sie haben bloß die Gesinnung, aber sie haben keine Möglichkeit, kein Talent, soziale Zustände herbeizuführen, in denen sich äußerlich die Anfänge des Altruismus verwirklichen lassen. Die Asiaten haben durch Jahrtausende hindurch zu pflegen gewußt die altruistischen Antriebe in der Menschennatur. Dennoch aber haben sie es zuwege gebracht, daß die ungeheueren Hungersnöte in China, in Indien und so weiter wüteten. Das ist das Eigentümliche der asiatischen Kultur, daß die Gesinnung vorhanden ist, und daß diese Gesinnung innerlich ehrlich ist, daß aber kein Talent dazu vorhanden ist, diese Gesinnung im äußeren Leben zu verwirklichen. Und das ist sogar das Eigentümliche dieser asiatischen Kultur, daß sie einen ungeheuer bedeutsamen altruistischen Antrieb im Inneren der Menschennatur enthält und keine Möglichkeit, ihn äußerlich jetzt zu verwirklichen. Im Gegenteil, würde Asien allein bleiben, so würde durch diese Tatsache, daß Asien zwar die Möglichkeit hat, den Altruismus innerlich zu begründen, aber kein Talent, ihn äußerlich zu verwirklichen, eine furchtbare Zivilisationswüste werden. So daß man sagen kann: Von diesen drei Dingen, Impuls zur Kosmogonie, Impuls zur Freiheit, Impuls zum Altruismus, hat Asien das dritte am allermeisten in der inneren Gesinnung. Aber es hat nur das eine Drittel von dem, was notwendig ist für die gegenwärtige Zivilisation, wenn sie wiederum hochkommen will: nämlich die innere Gesinnung für den Altruismus.

Was hat Europa? Europa hat die äußerste Notwendigkeit, die soziale Frage zu lösen, aber es hat keine Gesinnung für die soziale Frage.

Es müßte eigentlich die asiatische Gesinnung haben, wenn es die soziale Frage lösen wollte. Alle Vorbedingungen zur Lösung der sozialen Frage sind aus den sozialen Notwendigkeiten in Europa da; aber es müßten sich die Europäer erst durchdringen mit jener Denkungsweise, die dem Asiaten natürlich ist; nur hat er kein Talent, wirklich äußerlich die soziale Not zu sehen. Oftmals gefällt sie ihm sogar. In Europa ist der äußere Antrieb da, irgend etwas in der sozialen Frage zu machen, aber es ist nicht die Gesinnung dazu da. Dafür ist in Europa in stärkstem Maße da das Talent, die Fähigkeit, den Impuls der Freiheit zu begründen. Dasjenige, was speziell europäische Talente sind, das ist dazu da, das innere Gefühl, die innere Empfindung der Freiheit im eminentesten Maße auszugestalten. Man kann sagen, es ist spezifisch europäische Begabung, zu einer wirklichen Idee der Freiheit zu kommen. Aber diese Europäer haben keine Menschen die frei handeln, die die Freiheit verwirklichen würden. Den Gedanken der Freiheit können die Europäer großartig fassen. Aber wie der Asiate sofort etwas zu tun wüßte, wenn er ohne die anderen europäischen Unarten, den ungetrübten Gedanken der europäischen Freiheit bekäme, so kann der Europäer die schönste Idee der Freiheit ausgestalten, aber es ist keine politische Möglichkeit da, diese Idee der Freiheit mit den Menschen Europas unmittelbar zu verwirklichen, weil der Europäer von den drei Zivilisationsbedingungen: Impuls zum Altruismus, Impuls zur Freiheit, Impuls zur Kosmogonie, nur das Drittel hat: den Impuls zur Freiheit - er hat die beiden anderen nicht. Und so hat auch der Europäer nur ein Drittel von dem, was notwendig ist, um ein wirklich neues Zeitalter heraufzubringen. Das ist sehr wichtig, daß man diese Dinge endlich als unsere Zivilisationsgeheimnisse einsieht. Wir haben in Europa, das dürfen wir ja sagen, in der allerschönsten Weise alle Vorbedingungen des Denkens, des Fühlens, um zu wissen, was Freiheit ist; aber wir haben keine Möglichkeit, ohne weiteres mit dieser Freiheit durchzudringen. Ich kann Ihnen zum Beispiel die Versicherung geben: Die schönsten Sachen sind in Deutschland von einzelnen Leuten über die Freiheit geschrieben worden in der Zeit, als ganz Deutschland geseufzt hat unter der Tyrannis von Ludendorff und anderen. Es ist ein Talent da in Europa zum Konzipieren des Freiheitsimpulses, aber zunächst ist dieser Impuls ein Drittel für das wirkliche Hinaufkommen in unserer Zivilisation, nicht das Ganze.

Und gehen wir außerhalb Europas, nach dem Westen - wobei ich Großbritannien zu Amerika rechne in diesem Zusammenhange -, gehen wir also zur anglo-amerikanischen Welt, dann finden wir da wiederum ein Drittel von den Impulsen, eben einen der drei Impulse, die notwendig sind, um unsere Zivilisation hinaufzubringen, das ist: den Impuls zu einer Kosmogonie. Wer das anglo-amerikanische Geistesleben kennt, der weiß, daß dieses anglo-amerikanische Geistesleben zunächst formalistisch ist, daß es zunächst materialistisch ist, ja daß es sogar das Spirituelle auf materialistische Art erreichen will, daß es aber doch die Mittel und Wege hat, um zu einer Kosmogonie zu kommen. Wenn auch diese Kosmogonie heute auf ganz falschen Wegen gesucht wird, sie wird gesucht im anglo-amerikanischen Wesen. Wiederum ein Drittel: das Suchen nach einer Kosmogonie. Es besteht nicht die Möglichkeit, diese Kosmogonie mit dem freien, altruistischen Menschen zu verbinden, wohl das Talent, dieser Kosmogonie anzuhängen, sie auszugestalten, aber kein Talent, den Menschen einzugliedern in diese Kosmogonie. Man kann sagen, daß sogar die Bestrebungen des in die Irre gehenden Spiritismus kosmogonisch waren, wie sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts begonnen haben und eigentlich heute noch immer nicht ganz abgeflutet sind. Es handelte sich da darum, darauf zu kommen, welche Kräfte hinter den sinnlichen Kräften sind; man schlug nur einen materialistischen Weg, eine materialistische Methode ein. Aber es handelte sich nicht darum, solche formalistischen Wissenschaften, wie sie zum Beispiel die Europäer haben, dadurch zu bekommen, sondern darum, wirkliche, reale übersinnliche Kräfte kennenzulernen. Man schlug nur, wie gesagt, einen falschen Weg ein, einen Weg, den man heute noch « amerikanisch » nennt. So auch hier wiederum ein Drittel desjenigen, was eigentlich da sein muß zum wirklichen Aufstieg unserer Kultur.

Ja, man lernt heute die Geheimnisse unserer Zivilisation nicht kennen, wenn man nicht zu verteilen weiß die drei Impulse, bei denen es sich um den Aufstieg unserer Zivilisation handelt, auf die Glieder unserer Erdoberfläche; wenn man nicht weiß, daß das Streben nach Kosmogonie in den Talenten der anglo-amerikanischen Welt liegt, das Streben nach Freiheit in der europäischen Welt liegt, das Streben nach Altruismus und nach einer solchen Gesinnung, die, wenn sie richtig in der Wirklichkeit angewendet wird, zum Sozialismus führt, eigentlich nur in der asiatischen Kultur. Amerika, Europa, Asien haben jedes ein Drittel von dem, was anzustreben notwendig ist für einen wirklichen Neuaufstieg, für einen Neuaufbau unserer Kultur.

Aus diesen Untergründen heraus muß heute jemand denken und empfinden, der es ernst und ehrlich meint mit einer Arbeit an einem neuen Aufbau unserer Kultur. Man kann sich heute nicht in seine Studierstube setzen und nachdenken, welches das beste Zukunftsprogramm ist. Man muß heute hinausgehen in die Welt und aus der Welt heraus holen die Impulse, die da sind. Ich habe gesagt: Sieht man unsere Kultur an mit ihren Niedergangsmomenten, so muß man den Eindruck bekommen, sie kann nicht gerettet werden, wenn die Menschen nicht einsehen: Das eine ist bei dem, das zweite bei jenem, das dritte bei dem dritten vorhanden, wenn die Menschen nicht im großen Stile über die Erde hinweg zum Zusammenarbeiten kommen und zum wirklichen Anerkennen desjenigen, was der einzelne nicht im absoluten Sinne aus sich heraus leisten kann, sondern was nur geleistet werden kann von demjenigen, der, wenn ich so sagen darf, dazu prädestiniert ist. - Will heute der Amerikaner außer der Kosmogonie auch noch die Freiheit und den Sozialismus aus sich selbst heraus gestalten: er kann es nicht. Will heute der Europäer zu der Begründung des Impulses der Freiheit auch noch die Kosmogonie finden und den Altruismus: er kann es nicht. Ebensowenig kann der Asiate etwas anderes als seinen alteingelebten Altruismus geltend machen. Wird dieser Altruismus von den anderen Bevölkerungsmassen der Erde übernommen und durchdrungen mit dem, wozu diese wiederum ihre Talente haben, dann erst kommen wir wirklich vorwärts. Heute ist die Menschheit darauf angewiesen, zusammenzuarbeiten, weil die Menschheit verschiedene Talente hat.