Geschichte: Die wahre Ursache der Völkerwanderung /Differenzierung Grundbesitz und Staat

Quelle: GA 295, S. 178-180, 0. Ausgabe xml, 06.09.1919, Stuttgart

Was als Gründe für die Völkerwanderung angeführt wird, beruht sehr häufig auf geschichtlichen Konstruktionen. Das Wesentliche ist, wenn man den Dingen zu Leibe geht, bei der eigentlichen Völkerwanderung, wo die Goten und so weiter vorrücken, daß die Römer das Geld haben, und die Germanen kein Geld haben, und daß die Tendenz besteht, daß überall da, wo eine Grenze ist, die Germanen in irgendeiner Weise sich das römische Geld aneignen wollen. Daher werden sie Söldner und alles mögliche. Es sind ja ganze Legionen von Germanen in den römischen Sold eingetreten. Es ist die Völkerwanderung eine wirtschaftlich-finanzielle Frage. Erst auf dieser Grundlage konnte dann die Ausbreitung des Christentums vor sich gehen. Die Völkerwanderung als solche rührt aber von der Habgier der Germanen her, die das Geld der Römer haben wollten. Die Römer wurden auch arm dabei! Auch schon beim Cimbernzug war es so. Den Cimbern wurde gesagt: Die Römer haben Gold! - während sie selbst arm waren. Das wirkte auf die Cimbern sehr stark. Sie wollen Gold holen. Römisches Gold!

Es sind verschiedene Völkerschichten da, auch noch keltische Überreste. Sie finden heute noch deutliche Sprachanklänge an die keltische Sprache, zum Beispiel bei den Quellflüssen der Donau, Brig und Breg, Brigach und Brege. Dann überall, wo in den Ortsnamen «-ach» vorhanden ist, zum Beispiel Unterach, Dornach und so weiter. «Ach» kommt von Wässerchen her, von aqua, weist auf Keltisches zurück. Auch «Ill» und dergleichen erinnert ans alte Keltische. Über das Keltische schichtet sich dann das Germanische. - Gegensatz von Arianern und Athanasianern.

Sehr wichtig ist, daß Sie den Kindern klarmachen müssen, daß ein großer Unterschied besteht - das ist gerade an der Völkerwanderung [] ersichtlich -, ob, wie zum Beispiel in Spanien und Italien, die germanischen Völker, wie die Goten, in schon der Agrikultur nach völlig in Anspruch genommene Gebiete einziehen. Hier wurde alles besessen. Da ziehen die gotischen und andere Völker ein. Die verschwinden. Die gehen also auf in den anderen Völkern, die schon da waren. - Nach Westen ziehen die Franken vor. Die kommen in Gegenden, die der Agrikultur nach noch nicht vollständig besetzt sind. Die erhalten sich. Daher hat sich von den Goten nichts erhalten, die eben in Gegenden eingezogen sind, wo der Boden schon ganz in Besitz genommen war. Von den Franken hat sich alles erhalten, weil sie in noch brachliegende Gegenden eingezogen sind. Das ist ein geschichtliches Gesetz, das sehr wichtig ist. Später kann der Hinweis wiederholt werden bei der Konfiguration von Nordamerika, wo allerdings die Indianer ausgerottet worden sind, aber doch das bestand, daß in Brachgegenden eingewandert werden konnte.

Es handelt sich auch darum, daß Sie dann klarmachen, welches der Unterschied ist zwischen so etwas, wie zum Beispiel das Frankenreich Karls des Großen war, und einem späteren Staat. Wenn Sie diesen Unterschied nicht kennen, kommen Sie nicht über den Rubikon des 15. Jahrhunderts hinweg. Das Reich Karls des Großen ist noch kein Staat. Wie ist es bei den Merowingern? Sie sind eigentlich zunächst nichts anderes als Großgrundbesitzer. Und bei ihnen gilt lediglich nur das Privatrecht. Und immer mehr geht dann dasjenige, was aus den alten germanischen Großgrundbesitz-Verhältnissen stammt, über in das römische Recht, wo derjenige, der bloß die Ämter verwaltet, nach und nach die Macht bekommt. So geht allmählich der Besitz über an die Verwaltung, an die Beamten, und indem dann später die Verwaltung die eigentliche Herrschermacht wird, entsteht erst der Staat. Der Staat entsteht also durch die Inanspruchnahme der Verwaltung. Es entsteht der Grafenadel im Gegensatz zum Fürstenadel. «Graf» hat denselben Ursprung wie Graphologe: es kommt her von graphein, schreiben. «Graf» heißt Schreiber. Der Graf ist der römische Schreiber, der Verwalter, während der Fürstenadel als alter Kriegeradel noch mit Tapferkeit und Heldenmut und dergleichen zusammenhängt. Der «Fürst» ist der Erste, der Vorderste. So ist also mit dem Übergang vom Fürsten zum Grafen [] das staatliche Prinzip entstanden. Das kann man natürlich an diesen Dingen ganz gut anschaulich machen.