Geschichte als Wechselwirkungen von Wirtschaftsleben, Geistesleben und Rechtsleben

Quelle: GA 295, S. 079-082, 0. Ausgabe xml, 28.08.1919, Stuttgart

Schildern Sie anschaulich, wie die Pilger, die nach dem Orient gezogen sind, noch ganz anderes, viel Neues kennengelernt haben. In Europa war die Landwirtschaft damals noch sehr weit zurück. Im Orient konnte man eine sehr viel bessere Bewirtschaftung der Ländereien kennenlernen. Die Pilger, die nach dem Orient gekommen sind und nachher wieder nach Europa zurückkehrten - es kamen ja noch viele zurück -, die haben eine ausgebildete Kenntnis landwirtschaftlichen Betriebswesens mitgebracht, und es kam wirklich ein Aufschwung der landwirtschaftlichen Produktion. Den verdankt man in Europa den Erfahrungen, welche die Pilger nach Europa mitbrachten.

So anschaulich, daß es das Kind förmlich sieht, schildern Sie, wie der Weizen und das Korn schlechter gewachsen sind vor den Kreuzzügen, wie sie niedriger waren, wie sie schütterer waren, weniger voll waren, und wie sie nach den Kreuzzügen voller waren - das alles in Bildern! Dann schildern Sie, wie die Pilger wirklich auch kennengelernt haben, was der Orient damals hatte an Industriellem, was Europa damals noch nicht hatte. Es war der Okzident um vieles hinter dem Orient zurück. Was sich dann so schön herausbildet an industrieller Tätigkeit in den Städten Italiens, auch in den mehr nördlich gelegenen Städten, das ward den Kreuzzügen verdankt. Und auch Künstlerisches wird den Kreuzzügen verdankt. Da können Sie also Bilder hervorrufen von dem geistigen Kulturfortschritt in dieser Zeit.

Aber Sie können den Kindern auch schildern und sagen: «Seht ihr, Kinder, da haben die Europäer zuerst die Griechen kennengelernt; die sind schon im ersten Jahrtausend abgefallen von Rom, sind aber Christen geblieben. In allen westlichen Gegenden hat man geglaubt, daß [] man überhaupt kein Christ sein kann, ohne zu dem Papst als oberstem Haupt der Kirche emporzuschauen.» Jetzt mache man den Kindern klar, wie die Kreuzfahrer kennengelernt haben, zu ihrer großen Überraschung und Belehrung, daß es auch Christen gibt, die nicht den römischen Papst anerkennen. Dieses Loslösen der geistigen Seite des Christentums von der weltlichen Kircheneinrichtung, das war etwas ganz Neues damals. Das mache man den Kindern klar.

Dann, daß unter den Muselmanen, die ja wenig erfreuliche Erdenbürger waren, es aber doch auch edle, freigebige, tapfere Menschen gab. Und dadurch haben die Pilger Menschen kennengelernt, die sogar tapfer und freigebig sein konnten, ohne Christen zu sein. Man konnte also sogar ein guter, tapferer Mensch sein, ohne Christ zu sein. Das war eine große Lehre, die für die damaligen Menschen Europas durch die Kreuzfahrer nach Europa zurückgebracht worden ist.

Also eine ganze Menge haben die Kreuzfahrer sich erobert im Orient, was sie für die geistige Kultur nach Europa gebracht haben.

Man macht den Kindern klar: «Seht, die Europäer, sie hätten nicht einmal Kattun, ja sie hätten nicht einmal ein Wort dafür. Sie hätten kein Musselin, auch das ist ein orientalisches Wort. Sie könnten sich nicht niederlegen, zurückräkeln auf ein Sofa, denn das Sofa haben die Kreuzfahrer, mit dem Ausdruck Sofa, erst mitgebracht. Sie hatten auch keine Matratze, auch Matratze ist ein orientalisches Wort. Auch der Bazar gehört hierher, was gleich auf eine ganze Gesinnung gegenüber dem öffentlichen Schaustellen von Erzeugnissen hinweist, was Schaustellungen im großen produziert. Bazare haben die Orientalen nach ihrer Gesinnung im weiten Umfange gemacht. In Europa gab es früher nicht etwas Ähnliches, bevor die Europäer die Kreuzzüge unternommen haben. Sogar das Wort Magazin ist kein europäisches, so sehr es mit Handeln und so weiter zusammenhängt. Diese Art, Magazine zu brauchen wegen des Umfangreichen des Handelns, das haben die Europäer erst von den Orientalen gelernt. - Man kann sich vorstellen», sagt man zu den Kindern, «wie eingeschränkt das Leben in Europa war, daß sie nicht einmal Magazine gebraucht haben. Auch das Wort Arsenal gehört hierher. Aber seht, etwas anderes haben die Europäer auch gelernt bei den Orientalen; das haben sie sich mitgebracht in dem Wort [] Tarif. Steuerzahlen, das kannten die europäischen Völker bis zum 13. Jahrhundert sehr wenig. Aber tarifmäßig Steuer bezahlen, allerlei Abgaben bezahlen, das wurde erst eingeführt in Europa, als die Kreuzfahrer es bei den Orientalen kennenlernten.»

Also man sieht schon, es ist vieles, vieles anders geworden in Europa durch die Kreuzzüge. Von dem hat sich nicht viel erfüllt, was die Kreuzfahrer gewollt haben. Es hat sich aber anderes, Vielfaches an Umgestaltung von Europa vollzogen durch das, was man im Orient kennengelernt hatte. Das alles verband sich dann noch mit der Anschauung der orientalischen Staatswesen, denn das Staatswesen hat sich im Orient schon viel früher ausgebildet als in Europa. In Europa waren die Gebilde der Verwaltung viel loser vor den Kreuzzügen, als sie nach den Kreuzzügen waren. Daß man dann weite Territorien unter staatlichen Gesichtspunkten zusammenfaßte, das ist schließlich auch erst durch die Kreuzzüge gekommen.

Nun kann man aber auch - ich setze immer voraus, daß die Kinder das Alter haben, das ich angedeutet habe - sie mit folgendem bekanntmachen: «Seht, Kinder, ihr habt früher durch geschichtliche Erzählung erfahren, daß die Römer früher einmal ihre Herrschaft ausgebreitet haben. Damals, als die Römer ihre Herrschaft ausgebreitet haben im Beginne der christlichen Zeitrechnung, da wurde Europa sehr arm, immer ärmer. Wodurch kam dieses Armwerden? Man mußte sein Geld hergeben an andere. Mitteleuropa wird jetzt auch wieder arm werden, weil es sein Geld abgeben muß an andere. Damals mußten die Europäer ihr Geld an die Asiaten abgeben. An die Grenzen des Römerreiches wanderten die Geldmassen. Dadurch kam immer mehr die Naturalwirtschaft auf. Das ist etwas, was wieder passieren könnte, so traurig es wäre, wenn die Menschen sich nicht zum Geistigen aufraffen. Allerdings, in dieser Armut, da entwickelte sich der asketische, hingebungsvolle Geist der Kreuzzüge.

Jetzt aber lernten die Europäer durch die Kreuzzüge in Asien drüben allerlei Neues kennen, industrielles Produzieren, Landwirtschaft. Dadurch konnten sie wiederum Dinge hervorbringen, die ihnen die Asiaten abkaufen konnten. Das Geld wanderte wieder zurück. Europa wurde immer reicher, gerade während der Kreuzzüge. Diese Bereicherung [] Europas kam dadurch, daß es seine eigene Produktion erhöhte. Das ist eine weitere Folge. Die Kreuzzüge sind wahre Völkerwanderungen nach Asien. Nach Europa kam wieder zurück ein gewisses Können. Nur durch dieses Können ist Florenz möglich und zu dem geworden, was es eben nachher war. Nur dadurch konnten sich Gestalten entwickeln wie Dante und andere.»

Sehen Sie, es wäre notwendig, daß man die geschichtliche Darstellung von solchen Impulsen durchzogen sein ließe. Wenn heute gesagt wird, man soll mehr Kulturgeschichte treiben, dann denken die Leute, sie müssen recht trocken schildern, wie das eine aus dem anderen folgt. Geschichte sollte aber auch schon auf diesen unteren Schulstufen so geschildert werden, daß man subjektiv dabei ist, daß man Bilder entwickelt, daß die Zeit wirklich aufersteht. Daß aufersteht das arme, nur mit schwachbesetzten Feldern überdeckte Europa, wo keine Städte waren, wo die Leute ihre Landwirtschaft betrieben, die aber spärlich war. Wie aber gerade aus diesem armen Europa hervorgeht die Begeisterung für die Kreuzzüge. Wie dann die Leute ihrer Aufgabe doch nicht gewachsen sind, wie sie in Streit kommen, wie Unmoral um sich greift, wie sie dann in Europa selber in Streit geraten. Wie gerade dasjenige nicht erreicht wird, was durch die Kreuzzüge angestrebt wird, sondern im Gegenteil, wie Boden geschaffen wird für die Muselmanen. Wie aber der Europäer vieles lernte im Orient; wie Städte, blühende Städte entstehen und in den Städten eine reiche geistige Kultur. Aber auch wie die Landwirtschaft sich hebt, wie die Felder fruchtbarer werden, wie die Industrie aufblüht, wie auch die geistige Kultur sich hebt.

Das alles versuche man in anschaulichen Bildern vor die Kinder hinzustellen und ihnen klarzumachen, wie sich die Menschen vor den Kreuzzügen nicht hingeräkelt haben auf Sofas, wie sich Spießbürgerlichkeit noch nicht geltend machen konnte in den Familien auf Sofas in den guten Stuben. Versuchen Sie anschaulich diese Geschichte zu schildern, dann werden Sie eine wahrere Geschichte geben. Zeigen Sie, wie Europa arm geworden ist bis zur Naturalwirtschaft und wieder reich geworden ist durch das, was man gelernt hat. Das wird die Geschichte beleben!

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