Krieg durch wirtschaftsstaatliche Grenzen

Quelle: GA 024, S. 220-225, 2. Ausgabe 1982, 08.1919

Eine der bedeutsamsten Tatsachen in der neuesten Entwickelungsgeschichte der Menschheit ist der Widerspruch, der sich allmählich herausgebildet hat zwischen den Aufgaben, die sich die Staaten gegeben haben, und der Tendenz, die das Wirtschaftsleben angenommen hat. Die Staaten strebten darnach, in den Kreis ihrer Obliegenheiten die Ordnung des Wirtschaftslebens innerhalb ihrer Grenzen aufzunehmen. Die Personen und Personengruppen, welche das Wirtschaftsleben besorgen, suchen in der staatlichen Macht eine Stütze für ihre Betätigung. Ein Staat steht dem andern gegenüber nicht nur als geistiges und politisch-rechtliches Kulturgebiet, sondern auch als Träger der innerhalb dieses Gebietes sich geltend machenden wirtschaftlichen Interessen.

Die aus dem Marxismus hervorgehende sozialistische Denkungsart möchte diese Bestrebungen der Staaten nicht nur fortsetzen, sondern sogar bis zum Extrem ausbilden. Sie möchte die privatkapitalistische Wirtschaftsform durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel in eine genossenschaftliche überleiten und dabei sich der Rahmen der gegenwärtigen Staaten bedienen. Die in diesen befindlichen Betriebe sollen zusammengefaßt werden zu wirtschaftlichen Organismen, in denen planmäßig gemäß den vorhandenen Bedürfnissen produziert und die Verteilung der Produkte an die im Staate wohnenden Menschen besorgt wird.

Diesem Streben steht gegenüber die Entwickelung, welche das Wirtschaftsleben in der neuesten Zeit genommen hat. Dieses hat die Tendenz, ohne Berücksichtigung der gegebenen Staatsgrenzen, sich zur einheitlichen Weltwirtschaft zu entwickeln. Die Menschheit über die ganze Erde hin will eine einzige Wirtschaftsgemeinschaft werden. In dieser stehen die Staaten darinnen so, daß die in ihnen lebenden Menschen nach Interessen zusammengehalten werden, die in weitem Umfange den wirtschaftlichen Beziehungen, die sich entfalten wollen, widersprechen. Das Wirtschaftsleben will hinauswachsen über die Staatsgebilde, die aus geschichtlichen Bedingungen erstanden sind, die keineswegs den wirtschaftlichen Interessen immer angepaßt waren.

Die Weltkriegskatastrophe hat das Mißverhältnis der historisch gewordenen Staatsgebilde und der Weltwirtschaftsinteressen zur Offenbarung gebracht. Ein großer Teil der Kriegsursachen wird darin gesucht werden müssen, daß die Staaten das Wirtschaftsleben zur Verstärkung ihrer Macht ausnützten, oder daß die wirtschaftenden Menschen durch die Staaten die Förderung ihrer wirtschaftlichen Interessen suchten. Die nationalen Wirtschaften stellten sich störend in die nach Einheit strebende Weltwirtschaft hinein. Sie suchten wirtschaffend für sich als Gewinne einzuheimsen, was nur in dem allgemeinen Wirtschaftsleben zirkulieren sollte.

In den Staaten verbinden sich die geistigen und politisch-rechtlichen Interessen mit den wirtschaftlichen. So, wie sie im Laufe des geschichtlichen Werdens die Staatsgrenzen ergeben haben, wird innerhalb ihrer die beste Art, das Geistige oder Politisch-Rechtliche zu besorgen, nicht zusammenfallen mit der vorteilhaftesten Betätigung auf wirtschaftlichem Gebiete. Und wenn ernst gemacht wird mit den berechtigten Forderungen der neueren Menschheit nach Freiheit im geistigen Leben, nach Demokratisierung des Staatslebens und Sozialisierung des Wirtschaftswesens, dann kann gar nicht daran gedacht werden, daß die Verwaltungen des Geistigen und der Rechtsverhältnisse auch maßgebend sein sollen für die Ordnung des Wirtschaftslebens. Denn es müßten die internationalen geistigen und Rechtsbeziehungen sklavisch den Wirtschaftsverhältnissen sich anpassen, die in ihrer Art etwas Zwingendes für ihre Gestaltung haben.

Der marxistische Sozialismus kommt theoretisch über das gekennzeichnete Bedenken allerdings leicht hinweg. Er gibt sich der Meinung hin, daß die geistigen Errungenschaften und die rechtlichen Maßnahmen ideologische Ergebnisse der wirtschaftlichen Tatsachen sind. Er glaubt daher, daß er sich zunächst um die Gestaltung des Geistigen und des Rechtlichen nicht zu sorgen hat. Er will abgeschlossene Großwirtschaften schaffen und ist der Ansicht, innerhalb dieser werden geistige und rechtliche Lebensverhältnisse entstehen, deren internationale Beziehungen « von selbst » sich einstellen werden, wenn die Großwirtschaben miteinander in Verkehr treten werden. Dieser Sozialismus hat eine Wahrheit durchschaut; aber diese Wahrheit ist eine einseitige. Er hat erkannt, daß in den bisherigen Staaten Produktionszweige geleitet und Waren verwaltet werden und daß diese Leitung und diese Verwaltung vereinigt ist mit einer Regierung über Menschen, die der Freiheit des Geisteslebens und der vollkommenen Gestaltung des Rechtslebens nicht entspricht. Er zieht aus dieser Erkenntnis die Folgerung, daß in der Zukunft von dem sozialen Organismus nur mehr Waren verwaltet und Produktionszweige geleitet werden sollen. Weil er meint, daß daraus das Geistige und das Politisch-Rechtliche sich « von selbst » ergibt, so übersieht er, daß in dem Maße, in dem aufgehört wird, mit der Ordnung der Produktionszweige zugleich die in diesen betätigten Menschen zu regieren, diese Regierung durch etwas anderes ersetzt werden muß.

Die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus trägt dem Rechnung, was der marxistische Sozialismus übersieht. Sie macht Ernst damit, das Wirtschafsleben nur von den Gesichtspunkten aus zu verwalten, die sich aus ihm selbst ergeben. Aber durch sie wird auch erkannt, daß die geistigen Bedürfnisse und die rechtlichen Forderungen der Menschen in besonderen Verwaltungen geordnet werden müssen. Dadurch aber werden auch die internationalen geistigen Beziehungen und die Rechtsverhältnisse unabhängig von dem Weltwirtschafsleben, das seine eigenen Wege gehen muß.

Dadurch werden Konflikte, die sich auf einem Lebensgebiete ergeben, ausgeglichen von einem andern aus. Zwei Staaten oder Staatenbündnisse, die in einem wirtschaftlichen Konflikte sind, ziehen ihre geistigen und rechtlichen Interessen in den Konflikt mit hinein, wenn sie Einheitsstaaten in dem Sinne sind, daß in ihren Verwaltungen geistige, rechtliche und wirtschaftliche Regelungen verbunden sind. Bei sozialen Organismen, die für jedes dieser drei Lebensgebiete eine eigene Verwaltung haben, wird zum Beispiele auf widerstreitende geistige Interessen die wirtschaftliche Interessenbeziehung ausgleichend wirken können.

In dem südöstlichen Winkel Europas, von dem die Weltkriegskatastrophe ihren Ausgang genommen hat, konnte man beobachten, wie die Vermengung der drei Lebensgebiete durch die Einheitsstaaten wirkte. Der geistige Gegensatz zwischen Slawentum und Germanentum lag dem Geschehen im allgemeinen zugrunde. Zu ihm kam ein politisches Element des öffentlichen Rechts. In der Türkei traten die demokratisch denkenden Jungtürken an die Stelle der alten reaktionären Regierung. Als Folge dieser politischen Umgestaltung trat die Annexion Bosniens und der Herzegowina durch Österreich ein, das nicht zusehen wollte, wie durch die türkische Demokratie die Bewohner dieser Länder in deren Parlamentarismus einbezogen wurden, obgleich sie trotz ihrer seit dem Berliner Kongreß schon bestehenden Okkupation rechtlich zur Türkei gehörten. Als drittes ergab sich ein wirtschaftliches Streben Österreichs. Dieses beabsichtigte, eine Bahnlinie von Sarajevo nach Mitrowitza auszubauen und auf diese Weise eine in seinem Interesse liegende Handelsverbindung mit dem Ägäischen Meere zu begründen. Aus diesen drei Momenten ergaben sich wichtige Teilglieder der Kriegsursachen. Würden Bahnlinien nur aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten heraus von Wirtschaftsverwaltungen gebaut, so könnten sie nicht in die Konfliktskräfte aufgenommen werden, die zwischen Staaten aus anderen Untergründen vorhanden sind.

Deutlich ist auch an den Verhandlungen über das Bagdadproblem zu ersehen, wie da fortwährend national-geistige und politisch-rechtliche Interessen sich gegenüber den wirtschaftlichen Gesichtspunkten geltend machten. Die wirtschaftlichen Vorteile einer solchen Bahn würden ganz vom Gesichtspunkte der Weltwirtschaf ins Auge gefaßt werden können, wenn an den Verhandlungen nur Wirtschaftsverwaltungen beteiligt wären, die nicht in ihren Entschlüssen durch ihren Zusammenhang mit andern, staatlichen Interessen bestimmt werden könnten.

Man kann selbstverständlich einwenden, daß auch in älteren Zeiten Konflikte zwischen den Staaten durch solche Vermengung der wirtschaftlichen Interessen mit den geistigen und den politisch-rechtlichen entstanden sind. Aber dieser Einwand sollte nicht gegen die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus gemacht werden. Denn diese Idee wird aus dem Gegenwartsbewußtsein der Menschheit heraus geformt, dem Katastrophen, die in der geschichtlichen Art entstehen, unerträglich sind, während sie von den Menschen früherer Zeitepochen anders empfunden worden sind. Menschen, die nicht wie die gegenwärtigen die Freiheit des Geisteslebens, die Demokratisierung der politischen Verhältnisse und die Sozialisierung des Wirtschaftens anstrebten, konnten nicht einen sozialen Organismus in Aussicht nehmen, der allein ernst mit diesem Streben macht. Für die Art, wie sie sich den sozialen Organismus als ihnen angemessen instinktiv dachten, waren die entsprechenden internationalen Konflikte auch etwas, das sie wie eine Naturnotwendigkeit hinnehmen mußten.