Was kann den demokratischen Prozess ersetzen?

Quelle: GA 330, S. 326-327, 2. Ausgabe 1983, 19.06.1919, Stuttgart

Auf eines aber möchte ich doch noch eingehen: Auch für den Lehrer werde wieder eine Autoriät notwendig sein. Ich habe ja nichts gesagt über die Autorität, die für den Lehrer notwendig sein wird, sondern ich habe davon gesprochen, daß der Lehrer eine Autorität für das Kind sein soll! Ob für den Lehrer eine Autorität notwendig wäre, ist eine weitaus andere Frage, die sich dadurch beantwortet, daß schließlich das Leben selbst dafür sorgen wird. Beachten Sie nur das Leben, wie es ist, das beachtet man heute viel zu wenig. Beachten Sie es nur lebensgemäß und wirklichkeitsgemäß, so werden Sie sich sagen: Ja, die Menschen sind voneinander so verschieden, daß schließlich jemand, der in der allermannigfaltigsten Art eine Autorität sein kann, doch noch immer eine Autorität über sich finden wird. Dafür wird schon gesorgt sein, daß immer einer noch eine Autorität fürsich finden kann. Nun, nicht wahr, dieses braucht nicht zu führen bis zu einer höchsten Spitze. Es kann einer einfach dadurch eine Autorität sein, daß er einem in anderen Dingen überlegen ist.

Wenn ich von Klopstocks «Gelehrtenrepublik» gesprochen habe, so bedeutet das nicht, daß jeder nun tun wird, was er will: Er wird vielmehr gerade nicht einfach tun, was er will, sondern aus den Bedürfnissen des Geisteslebens heraus, um dieses möglichst fruchtbar zu gestalten, wird wieder das Hinneigen zu denjenigen, die einmal eine Autorität sein sollen, ein freiwilliges sein. Eine «Verfassung», die aber nicht beruht auf starren Gesetzen, auf knöchernen, staatlichen Verordnungen, eine Verfassung kann schon gedacht werden im freien Geistesleben; nur wird sie sich auf die realen, die lebendigen Verhältnisse der Menschen beziehen, die an diesem Geistesleben teilnehmen. Das «Gesetz» muß allerdings auf diesem Boden erst ersetzt werden durch die freien menschlichen Verhältnisse, die ja individuell sind und sich immer von Woche zu Woche ändern können, und die durchaus nicht durch starre Gesetze gebunden und in irgendeiner starren Form verewigt werden können. Worauf es also ankommt, das ist, daß dem Geistesleben die Möglichkeit gegeben werde, in derjenigen Form zu leben, die ihm aus seinen Kräften heraus möglich ist, so daß der Lehrer der Schule nicht in irgendeiner Weise abhängig ist von einem Staatsbeamten, sondern daß er abhängig ist in menschlicher Weise, in sachlicher, sachgemäßer Weise - wie es aus dem Geistesleben heraus folgt - von einem andern, der nun auch im Geistesleben unmittelbar drinnen steht, und der mit ihm in dem gleichen Geistesleben drinnen wirkt. Darauf kommt es an. Man merkt es ja, wie heute noch eine gewisse Furcht vorhanden ist vor der Selbständigkeit des Geisteslebens, wie sich viele wohl fühlen in dem staatlichen Schutz. Aber das ist es ja eben, daß sich so viele wohl fühlen in diesem staatlichen Schutz. Dieser staatlicheSchutz wird aber noch mehr angestrebt gerade von dem, was nun nachkommen will.

Die Entwickelung der letzten Jahrhunderte war doch so, daß der Staat Macht hatte aus früheren Eroberungs- und ähnlichen Verhältnissen heraus, und dann wollten die einzelnen Menschen nach und nach an diese Macht heran, um sich von dieser Macht beschützen zu lassen. Da war es eine Zeitlang die Kirche. Der war es lieber, wenn nicht allein das lebendige Wort, das aus dem Geiste fließt, auf die Menschen wirkt und sie überzeugt, sondern wenn ein bißchen die Polizei nachhilft. Dann kamen andere, kam das ganze «Schulwesen». Dem war es lieber, wenn nicht das, was aus dem Geiste hervorquillt, auf das Kind wirkt, sondern wenn der staatliche Zwang dahinter steht. Dann kamen zuletzt auch die verschiedenen Wirtschaftsklassen und Wirtschaftskorporationen, bis wir zuletzt jene Wirtschaftskorporation bekommen haben - in Deutschland haben es uns ja am meisten die Industriellen und Schwerindustriellen angetan in dieser Richtung - die auch etwas abhaben wollte von der Macht des Staates. Und dann standen dahinter noch die Sozialdemokraten, die wiederum den Staat für sich nehmen wollten. So war die Staatsmacht das Sammelbecken für alle. Was die Zukunft anstreben muß, ist, daß die Staatsmacht kein Sammelbecken ist für alles, was unterkriechen will unter diese Macht, sondern daß sie gestellt werde auf demokratischen Boden. Aber darauf kommt es an, daß auf diesem Staatsboden dasjenige zur Verwirklichung kommt, was der mündig gewordene Mensch mit jedem andern mündig gewordenen Menschen abzumachen hat; da haben wir es mit dem zu tun, was der bloße Rechtsstaat ist. Es ist merkwürdig, daß man das heute noch nicht so begreifen will, obwohl es ganz nahe daran war, diesen Rechtsstaat zu begreifen, als einer, der einmal preußischer Kulturminister war, zum richtigen Erfassen dieser Verhältnisse kam. In Humboldts Schrift «Über die Grenzender Wirksamkeit des Staates» finden Sie schöne Ansätze zu dem, was der Staat eigentlich sein soll. Soll er aber «demokratisch» sein, dann darf in ihm nur dasjenige walten, was jeder mündig gewordene Mensch mit jedem anderen mündig gewordenen Menschen zu tun hat. Dann muß dasjenige, was im Geistesleben auszumachen ist, aus dem eigentlichen Staatsleben herausgenommen werden, und dann darf im Staate auch nicht das Wirtschaftsleben stehen, wo es ankommt auf wirtschaftliche Erfahrung, auf Kredit, den man hat, und so weiter. Das heißt, will jemand ernstlich Demokratie, dann kann er nicht im Staate Sozialismus und Geistesleben wollen, sondern er muß sich sagen: Wenn die Demokratie durchgeführt werden soll, ist das einzig Gesunde, das Geistesleben auf der einen Seite und den Wirtschaftskreislauf auf der anderen Seite auf freien Boden zu stellen.