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Kein Protektionismus für die eigene Weltanschauung
Quelle: GA 330, S. 323-325, 2. Ausgabe 1983, 19.06.1919, Stuttgart
Man muß sich doch auch darüber klar sein: Zu einer Uniformierung des menschlichen Seelenlebens dürfen wir durch keine Art von Zukunftspädagogik oder Zukunftsschulverfassung irgendwie kommen. Wir dürfen nicht etwas als allein gültige Anschauung in bezug auf das Seelisch-Geistige betrachten und verlangen, daß es den Kindern beigebracht werden soll. Wir müssen uns auch in die Seelen anders denkender und fühlender Menschen hineinversetzen können. Da handelt es sich durchaus darum, daß man sich nicht davor fürchtet, wenn zum Beispiel katholische Eltern verlangen, daß ihre Kinder auch katholischen Religionsunterricht bekommen. Man braucht sich nicht davor zu fürchten, wenn man selber nur stark auf eigenem Boden steht. Gerade so, wie man sich nicht zu fürchten braucht vor irgendeiner anderen Weltanschauung, wenn man den eigenen Enthusiasmus und die Kraft für eine eigene Weltanschauung hat. Diese Dinge sollen im freien Geistes-Wettstreit sich ausbilden können, aber jedenfalls nicht durch staatliche Gesetzmäßigkeit. So schädlich es ist, wenn durch eine staatliche Gesetzmäßigkeit eine Kirche zur Staatskirche gemacht wird und ihr dadurch der Vorzug des Staates zuteil wird, ebenso schädlich ist es auch, wenn eine Kirche verfolgt wird. Keinerlei Art von Seelenverfassung sollte durch Staatsgesetzlichkeit irgendwie verfolgt oder protegiert werden. Und wer bei diesem Gedanken anfängt und ihn in ausreichendem Maße durchdenkt, der wird schon finden, daß es in der Tat notwendig ist, das Geistesleben und insbesondere das Schul- und Unterrichtswesen auf seinen eigenen Boden zu stellen.
Was darüber gesagt worden ist, daß die Autorität, die der Lehrer ausübt, nicht für das ganze Leben erhalten bleiben soll, sondern daß der junge Mensch davon frei werden soll, das ist entweder eine Selbstverständlichkeit, oder aber etwas ist mißverstanden. Denn es ist natürlich ganz selbstverständlich, daß man nicht sein ganzes Leben unter die Autorität eines Lehrers gestellt sein kann. Sie hat dahin zu arbeiten, daß man sich sagen kann: Wie wäre es, wenn man Lehrer würde? Dann würde man durch das, was die Autorität des Lehrers einem in die Seele gelegt hat, selber Autorität werden können.
Aber man muß die Dinge viel gründlicher und tiefer fassen, denn die Autorität eines Lehrers kann in der Tat durch das ganze Leben hindurch erhalten bleiben. Ich habe schon gesagt, was der Lehrer in der Erziehung gibt, das kann in Wirklichkeit nicht «bezahlt» werden. Die Bezahlung bedeutet dabei etwas ganz anderes. Was aber durch die Erziehung getan werden kann, das ist, daß sich das gegenseitige Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler so gestaltet, daß der Lehrer das ganze Leben hindurch für einen Menschen Autorität bleiben kann. Und ich möchte einmal fragen, was es wohl Schöneres gibt, wenn man sich später, wenn man sechzig Jahre alt geworden ist und zurückblicken kann in seine Jugend, an einen Lehrer erinnert und sich dann sagt: Dieser Lehrer war für mich Autorität, ich stehe ihm heute noch mit vollster Dankbarkeit gegenüber, ich bin das, was ich geworden bin, mit durch ihn geworden! Diese Autorität kann schon erhalten bleiben und kann fortleben durch den lebenslänglichen Dank gegenüber dem Lehrer. Das sind die Dinge, mit denen eine Psychologie, die den heutigen Aufgaben gewachsen ist, rechnen muß.
Wenn dann gesagt worden ist, daß der Staat doch notwendig ist, oder daß er ersetzt werden kann durch einen Geistessenat oder dergleichen, so ist darüber schon gesagt worden: Wer den staatlichen Zwang nicht gefühlt hat, der hat ihn eben nicht gesehen. Und sehen Sie, die Sache ist ja doch so, es ist wirklich, Staatslehrer zu sein, den Menschen vielfach zur zweiten Natur geworden. Und wenn ihnen das zur zweiten Natur geworden ist, dann wissen sie gar nicht mehr, daß nicht eigentlich ihre freie Persönlichkeit lehrt aus den Quellen des Geisteslebens heraus, sondern sie haben sich ja gewöhnt an den Staat, haben sich gewöhnt, das fortzusetzen im Unterricht, was der Staat ihnen bietet. Sie fühlen sich «frei». Aber das Sich-freiFühlen ist insbesondere in der Geistesverfassung der gegenwärtigen Menschheit kein Beweis dafür, daß man auch wirklich frei ist.