Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit durch gleichmäßige Mitte

Quelle: GA 330, S. 291-293, 2. Ausgabe 1983, 18.06.1919, Stuttgart

Vorgestern habe ich hingewiesen auf den großen Unterschied, welcher besteht in der menschlichen Seelenverfassung des Orients und des Okzidents. Wir hier in Mitteleuropa sind zwischen diese Seelenverfassung des Orients und die des Okzidents hineingestellt. Erkennen wir, daß wir als das Mittelvolk die Aufgabe haben, aus dem deutschen Volkstum heraus durch eine gleichmäßige, durch eine selbständige Ausbildung des Geisteslebens, des Rechts-, Staats- oder politischen Lebens und des Wirtschaftslebens auch die Ausgleichung zwischen Orient und Okzident zu bringen, dann stellen wir uns auf den Boden, aus dem uns Zukunftssicheres hervorgehen muß, auch wenn von allen Seiten her die Menschen uns heute den Boden unter den Füßen entziehen wollen. Das können sie bis zu einem gewissen Grade, weil wir als Volk Mitteleuropas durch Jahrzehnte versäumt haben, uns auf den Boden zu stellen, aus dem heraus unsere eigentliche Kraft als mitteleuropäisches Volk hervorquillt. Aber nicht vergessen werden dürfen die Zusammenhänge mit denjenigen Kräften unseres Volkstums, aus denen hervorgeblüht sind die großen idealistischen und zugleich größten Menschheitsleistungen der Lessing, Herder, Goethe, Schiller und so weiter. Nicht vergessen werden dürfen diejenigen mitteleuropäischen Impulse, aus denen in einer anderen harten Zeit Johann Gottlieb Fichte Feuer in die Herzen der mitteleuropäischen Völker gegossen hat. Was diesem Faktum eigentlich zugrunde liegt, das ahnen die anderen Völker. Aber wir sollten es nicht bloß ahnen, wir sollten es erkennen. Wir sollten uns sagen, hassen uns die anderen, und konkurrieren die anderen mit uns und wollen uns durch etwas vernichten, so ist es das, was wir ausgebildet haben in den letzten Jahrzehnten nicht als unser ureigenes Wesen, sondern als das, was zu stark den andern gleich ist, was wir ihnen nachgemacht haben als undeutschen Industrialismus. Erkennen wir dann, wo die wahren Wurzeln unserer Kraft sind, dann ist noch Hoffnung für uns! Wir Deutschen dürfen uns nicht auf den Boden stellen, auf den uns das bloß äußere kapitalistische Leben der letzten Jahrzehnte in den Konkurrenzkampf mit den andern gestellt hat. Wir müssen uns auf einen geistigen Boden stellen. Wir müssen es verstehen, daß jener Patriotismus, der darin bestanden hat, sich nur der Hoffnung hinzugeben, daß Deutschland siegend dem Unternehmertum noch mehr Kapital bringen werde, daß jener Patriotismus, der sich nun ersetzt durch den andern: Gehen wir hinüber zu den andern, seien wir jetzt dort Patrioten, weil dorther das Kapital Zins bringen kann, - wir müssen verstehen, daß dieser Patriotismus kein deutscher Patriotismus ist!

Wir müssen uns auf diesen Boden stellen können. Wir müssen uns begreifen können als das Volk, das zwischen Orient und Okzident hineingestellt ist zu einem Neuaufbau aus der Freiheit für den Geist, aus der Gleichheit für das Recht, aus der Brüderlichkeit für die Wirtschaft. Da drüben im Osten ist einstmals das stärkste Geisteslicht aufgegangen, im Westen wird der Brennstoff für dieses Geistesleben erzeugt. Das Geisteslicht des Ostens ist im Abglimmen, ist in Nirwana verfallen. Der Brennstoff des Westens wird nicht leuchten können, wenn er sich bloß in die Dunkelheit des Kapital- und Lohnverhältnisses der Menschen hineinstellt. Wir in Mitteleuropa müssen unsere Hoffnung einzig und allein daraus schöpfen, daß wir den Brennstoff des Westens durch das Licht des Ostens zum Feuer, das die Menschheit befeuern kann, erwecken.

Das ist unsere idealistische, aber höchst praktische Aufgabe. Das ist das, woran man am liebsten denken möchte in diesen Tagen, welche die Herzen und Seelen so furchtbar beklemmen, wo der Brennstoff des Westens uns das nehmen will, was wir noch weniges haben, wo wir hineingestoßen werden sollen in materielle Not und in materielles Elend. Viele begreifen es heute noch nicht, aber es ist so. Diese Tage kündigen es laut: Es geht auf Sein und Nichtsein! Und dasjenige, was aus dieser Erkenntnis, daß es auf Sein und Nichtsein geht, hervorquellen soll, das ist, daß wir berufen sind, den Brennstoff des Westens zu entzünden durch das Licht des Ostens. Wir dürfen uns heute, niedergedrückt in die bitterste Not, an ein Fichtewort erinnern, das auch in harter Zeit gesprochen worden ist, wo er, von Deutschen schlechtweg zu Deutschen schlechtweg sprechend, gesagt hat: Wenn ihr euch nicht selber erkennt, euch nicht in euch selber findet, so verliert die Welt das, was sie nur durch euch haben kann! - Wir dürfen, trotz allem Niederdrückenden, wenn wir Vertrauen in den Geist haben, trotz aller Not und allen Elends die uns erwarten, doch das Haupt erheben zu denen, die uns vernichten wollen, und ihnen entgegenrufen: Vernichtet ihr uns, dann vernichtet ihr etwas, was ihr braucht, was ihr von sonst nirgends als von diesem Mitteleuropa her erhalten könnt, das ihr jetzt in den Staub treten wollte Ihr habt rufen gelernt «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit», wir aber wollen dem, was längst in diesen drei Worten zur Phrase geworden ist, Inhalt geben, Inhalt geben aus dem Kopfe, indem wir ganz, nicht halb sagen: Freiheit für den Geist! Wir wollen ihm Inhalt geben aus dem Herzen, indem wir ganz, nicht halb sagen: Gleichheit für das Recht! Und wir wollen ihm Inhalt geben aus dem ganzen, aus dem vollen Menschen, diesen geistig und leiblich begreifend, indem wir sprechen nicht halb, sondern ganz: Brüderlichkeit für die Wirtschaft! Brüderlichkeit für alles menschliche Zusammenleben!