Dreigliederung ohne Mehrheit nur kurzfristig möglich

Quelle: GA 331, S. 067-071, 1. Ausgabe 1989, 22.05.1919, Stuttgart

Ist zur Durchführung einer derartigen neuen Form des Wirtschaftslebens die Demokratie eine Notwendigkeit, oder ist es unter Umständen richtig, wenn eben durch die Demokratie ein derartiger Zustand nicht herbeizuführen ist, Gewalt anzuwenden? Kann die Gewalt in diesem Falle auch ein Recht sein?

In bezug auf die Frage, ob zur Durchführung einer wirklichen Sozialisierung die Demokratie eine Notwendigkeit ist, möchte ich das Folgende sagen: Man kann in einem gewissen Sinne wirklich sagen, daß sich bisher eine Mehrzahl von Menschen noch nicht für neue Gedanken erwärmen konnte, sondern, wie mein verehrter Vorredner schon gesagt hat, immer nur kleine Gruppen. Allein, man wird sich gerade in diesem Punkt darüber klar sein müssen, daß wir heute eben nicht vor kleinen, sondern vor großen Abrechnungen der Weltgeschichte stehen. Es muß vieles anders Werden, und es wird nur anders werden, wenn wir uns gerade in bezug auf die allerwichtigsten Dinge dazu bequemen, etwas anderes anzustreben, als was bisher vorhanden war. Wer heute nicht bloß auf die Gepflogenheiten früherer Zeiten zurückblickt, sondern heute sehen kann, was die Menschen wollen, der wird mit den verschiedensten realen Faktoren rechnen.

Sehen Sie, der Herr Vorredner hat zum Beispiel gesagt, daß eine kleine Kaste die Menschen in den Weltkrieg hineingetrieben hat. Nun, es wird durch mich in den nächsten Tagen eine kleine Broschüre über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges erscheinen, in der gezeigt werden wird, wie klein die Zahl derer war, die zum Beispiel von deutscher Seite her die Sache betrieben haben. Diese kleine Gruppe hat in ihrer Art ganz aus den Verhältnissen aus grauer Urzeit heraus gewirkt. Da sind einfach die alten Verhältnisse in die Gegenwart hineingetragen worden. Damit der Gesinnung nach, nicht mit den technischen Mitteln, in Berlin so regiert werden konnte, wie regiert worden ist, hätte es zum Beispiel gar keiner Buchdruckkunst bedurft, durch die die Bildung und Urteilsfähigkeit in die breitesten Massen hineingetragen worden ist. Aber ist dann nicht wirklich durch diese Weltkriegskatastrophe das in den Abgrund gesunken, was einfach immer nur so weiter fortgewirtschaftet hat?

Wir stehen heute auf einem anderen Boden, und heute sind eben die Menschen nicht so, daß sie sich von kleinen Gruppen dasjenige diktieren lassen wollen, was sie zu tun haben, und daß sie bloß eine kleine Gruppe gegen eine andere kleine Gruppe austauschen wollen. Heute will schon ein jeder mittun. Heute ist die Zeit, in der man lernen muß den Unterschied zwischen herrschen und regieren.

Es scheint ja allerdings so, als ob dieser Unterschied noch nicht gründlich genug erkannt worden Ist. Herrschen muß heute das Volk, eine Regierung darf nur regieren. Das ist es, worauf es ankommt. Und damit ist auch gegeben, daß in einem gesunden Sinne heute die Demokratie notwendig ist. Deshalb habe ich auch keine Hoffnung, daß man mit den schönsten Ideen etwas erreichen kann, wenn man sie durch kleine Gruppen verwirklichen will und wenn man nicht getragen wird von der Erkenntnis und Einsicht der wirklichen Majorität der Bevölkerung. Die wichtigste Aufgabe heute ist, die große Mehrheit der Bevölkerung für das zu gewinnen, was man als Möglichkeit zur Veränderung erkannt hat. So stehen wir heute vor der Notwendigkeit, für das, was zuletzt wirklich an wahrer Sozialisierung erreicht werden wird, in demokratischer Weise die Mehrheit der Bevölkerung zu haben.

Es könnte natürlich Übergangszeiten geben, in denen eine kleine Gruppe irgend etwas verwirklichen würde, was von der Mehrheit nicht erkannt wird. Aber das würde doch nur von kurzer Dauer sein. Gerade in diesem Punkt muß man sich klar darüber werden, daß sogar heute bereits die Zeit da ist, in der durch die Demokratisierung die Menschen als Gleiche zu betrachten sind, und deshalb müssen wir den Boden schaffen, auf dem alle Menschen in ihrem Urteil gleich sein können, den wir loslösen von dem, worin die Menschen nicht gleich sein können in ihrem Urteil. Denken Sie doch einmal, wenn irgendein Kind in der Schule besonders dazu begabt ist, rechnen zu lernen, und Sie wollen es zum Musiker machen, so entziehen Sie ja dadurch, daß Sie das Kind falsch ausbilden, dem sozialen Leben eine ganz besondere Kraft. Die gesunde Entwicklung der Individualität muß gerade im sozialen Organismus gepflegt werden. Da können Sie nicht demokratisieren, da können Sie nur die Einsicht in die wirkliche Menschenkenntnis walten lassen. Auf dem Boden der Erziehung, des Unterrichtswesens muß etwas ganz Neues eintreten.

Und im Wirtschaftsleben, wollen Sie da demokratisch entscheiden? Etwa wie man Stiefel fabrizieren muß oder Ventile?

Da muß man aus sachlicher Kenntnis heraus Korporationen bilden in bezug auf Produktion und Konsumtion; da müssen sachliche Interessen maßgebend sein. Nach links und nach rechts müssen die rein sachlichen Interessen abgesondert werden, dann bleibt in der Mitte der Boden der Demokratie übrig, auf dem nichts anderes in Betracht kommt als das, was jeder reife, ausgewachsene Mensch von jedem ausgewachsenen, reifen Menschen als gleichem zu fordern hat, und von wo dann das Recht in das Geistesleben und Wirtschaftsleben hineinstrahlt. Gerade weil heute der Ruf nach Demokratie so berechtigt ist, müssen wir erkennen, wie die Demokratie durchgeführt werden kann. Das war nicht notwendig in der kapitalistischen Gesellschaft. Da haben sich die Leute auch Demokraten genannt, aber da war es noch nicht notwendig, daß man so gründlich zu Werke ging mit dem Begriff Demokratie wie heute. Heute sind wir an dem Punkt angelangt, wo wir uns fragen müssen: Weil die Demokratie kommen muß, wie können wir sie praktisch verwirklichen? - Die Antwort muß lauten: Nur dadurch, daß wir sie auf ihren eigenen Boden stellen, und was nicht demokratisch verwaltet werden kann, was nicht alle Menschen beurteilen können, das wird nach links und rechts sachlich abgesondert.

Es ist so einfach zu verstehen, warum dieser dreigliedrige soziale Organismus notwendig ist, daß man sich eigentlich immer wundern muß, daß die Leute so viel dagegen haben. Wenn sie fragen: Wer ist offen und ehrlich zum Beispiel in der Demokratie, so ist es gerade der dreigliedrige soziale Organismus, weil er danach suchen will, wie man die Demokratie verwirklichen kann und nicht vermischen und verwirren will alles, damit keine Demokratie im Einheitsstaat sein kann. Diejenigen haben natürlich keine Demokratie gemacht, die immer den Ruf ertönen lassen: «Für Thron und Altar!» - Aber, meine sehr verehrten Anwesenden, die werden auch keine Demokratie machen, die an die Stelle des Thrones das Kontor setzen und an die Stelle des Altars die Kasse. Eine Demokratie werden nur diejenigen machen, die es ehrlich meinen mit der menschlichen Gesellschaft und nicht das Demokratische dorthin tragen wollen, wo Sachkenntnis das einzig Maßgebende sein kann.

Deshalb werden sich die Menschen schon dazu bequemen müssen, einzusehen, was übrigens die vernünftigen Sozialisten immer schon gesagt haben, daß es in der Zukunft sachliche Verwaltungen und keine Scheinverwaltungen durch Wahlen und dergleichen geben muß. Gewiß, es muß gewählt werden, aber über die Technik des Wählens hinaus wird man noch andere Dinge lernen müssen, als man heute schon kennt. Ich will nur darauf aufmerksam machen: Demokratie muß kommen, aber wir müssen einen solchen sozialen Organismus haben, der Demokratie gründlich möglich macht.