Freies Geistesleben oder Gedankenanarchismus

Quelle: GA 330, S. 186-193, 2. Ausgabe 1983, 13.05.1919, Stuttgart

Meine sehr verehrten Anwesenden! Was der zweite Herr Redner hier erörtert hat, das macht, obwohl ich völlig überzeugt bin, daß er sich gar nicht bewußt ist, wie er eigentlich zu seinen Behauptungen gekommen ist, und obwohl ich ihm nicht im geringsten eine Art guten Willen absprechen will, auf mich den Eindruck, daß er Stück für Stück jedesmal das, was ich gesagt habe, zum Teil um ein Viertel, zum Teil um die Hälfte, manchmal auch ganz herumgedreht und dann gegen seine eigenen Behauptungen polemisiert, mit ihnen diskutiert hat, um zuletzt bei etwas anzukommen, was nicht das geringste mehr mit dem zu tun hat, was Sie heute oder gestern von mir gehört haben. Es kommt ja sehr häufig vor, daß man sich die Möglichkeit der Diskussion durch solche Vorbedingungen schafft, und so möchte ich nur einzelnes weniges aus dieser vielleicht recht unbewußten Diskussionspraxis heraus besprechen. Zum Beispiel tanzt der Herr Vorredner wiederholt auf der Meinung herum, ich hätte vertreten die Tyrannis oder die Vorherrschaft der geistig Begabten. Wodurch macht er bemerklich, daß nach dem, was ich auseinandergesetzt habe, eine Folge sein könnte, daß die geistig Begabten herrschen sollten? Nun weiß ich nicht, ob der Herr Redner auch das gehört hat, was ich neulich hier gesprochen habe, oder ob er weiß, was in meinem Buche steht. Er würde sonst wissen, daß es sich bei alledem, was den Impulsen, von denen ich rede, zugrunde liegt, darum handelt, daß alle menschlichen Begabungen an ihre entsprechende soziale Stelle hinkommen. Es handelt sich gerade um die Gliederung eines solchen sozialen Organismus, der nicht irgendeiner Begabung den Vorrang gibt, sondern der es möglich macht, daß eine jede Begabung an den ihr angemessenen Platz kommt. Das kann durch nichts anderes erreicht werden, als wenn die durch und durch verschiedenen Begabungen da ausgelesen und entwickelt werden, wo man sich auf Begabungen versteht, wo Begabungen in der richtigen Weise verwaltet werden können.

Der geistige Organismus wird seine Hauptaufgabe darin sehen müssen, Begabungen zu entwickeln. Lesen Sie aufmerksam mein Buch. Hören Sie nicht ein Eigenschaftswort zu dem hinzu, was ich sage, sondern nehmen Sie die Dinge so, wie ich sie wirklich sage, dann werden Sie sehen, daß auf dem Boden des Geisteslebens nicht nur die geistigen Begabungen entwickelt werden, sondern alle Begabungen bis in die körperlichsten Begabungen herunter. Der geistige Organismus ist nicht dazu da, um eine geistige Aristokratie zu schaffen, sondern um sämtliche Begabungen wirklich zu entwickeln. Abgesehen davon, daß ich das letztemal aufmerksam gemacht habe darauf, daß eine geistige Begabung gar nicht in Wirklichkeit bestehen kann, ohne zu gleicher Zeit die Möglichkeit zu bieten, wenn es nötig ist, eine manuelle Begabung zu entwickeln. Kurz, der Redner hat sich nicht die geringste Mühe gegeben, aus den bisherigen Denkgewohnheiten herauszukommen und wirklich sich aufzuraffen zu dem Willen, umzudenken, sondern er hat nach dem, was bisher üblich war, etwas kritisiert, was bewußt herausstrebt aus dem, was bisher üblich war. Das aber erscheint mir als dasjenige, was vor allen Dingen überwunden werden muß. Die Menschen, welche sich nicht, wenn sie auch guten Willen haben, die Mühe geben, sich hineinzufinden in dasjenige, was der andere sagt und will, das sind gerade diejenigen, die uns in die heutige Lage hineingeführt haben. Und so schmerzlich es mir ist, muß ich doch sagen: Ich kann in dem Herrn Vorredner nur einen derjenigen Menschen sehen, die uns nicht hinauskommen lassen wollen aus der Wirrnis. Vor der großen Weltkatastrophe konnte man meinetwillen solche Menschen verstehen, denn dazumal waren nicht die große Prüfung und die großen Fragen an die Menschheit herangekommen. Heute aber sollten wir wahrlich nicht durch unsere Denkeigensinnigkeit den Gang der Entwickelung aufhalten wollen. Das ist dasjenige, was mich so ängstlich macht, wenn die Menschen mit allen möglichen alter Schablonenbegriffen aufwarten und sogar graulich machen wollen, in dem sie sagen, der andere sei Gedankenanarchist oder so ähnlich, ich habe das Eigenschaftswort nicht verstanden.

Das sind Dinge, die graulich machen können. Dem muß man gegenüberhalten, was aus dem Gesagten wirklich hervorgehen kann. Nach der Einbildung geht das aus der Dreigliederung hervor, was der Redner gesagt hat, aber lesen Sie mein Buch, und Sie werden sehen, daß da alle möglichen Vorkehrungen, wenn ich so sagen darf, getroffen sind, damit eben dasjenige, was hier scheinbar hervorgehen soll, gar nicht hervorgehen kann.

Zum Beispiel hat der Herr Redner behauptet, es treten die gegenteiligen Interessen der Berufe auf. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Aber gerade durch die Abtrennung des Geisteslebens, durch die Abtrennung des Rechtslebens wird das aufgehoben. Ich habe Sie heute lange damit aufgehalten, Ihnen in einer Art Einleitung zu sagen: Wenn der Sozialismus verwirklicht wird und er läßt alles dasjenige drinnen im sozialen Organismus, was das bewirkt, was ich geschildert habe, dann tritt das ein. Gewiß, in dem sozialen Organismus, den der Herr Redner sich vorstellt, würde das drinnen sein. In der Dreigliederung wird eben gerade das, was er in die Wirtschaftsordnung hineinstellen will, aus der Wirtschaftsordnung herausgenommen. Es kam mir der Herr Redner vor, wenn er auch sich zum Rätesystem bekennt, als Vertreter jener Hofratlichen Denkweise, welche nicht aus dem Volksrätesystem, aber aus dem Hofratssystem mir einmal einen ähnlichen Einwand gemacht hat.

Die Sache hat auch nicht die außenpolitische Seite, die der Herr Redner hingemalt hat, sondern eine ganz andere. Die einzige Heilung für unsere außenpolitischen Zustände, die uns in diese Katastrophe hineingeführt haben, hat sich bei Besprechung der außenpolitischen Dinge - ich kann natürlich nicht in einem Vortrag alles besprechen - zeigen sollen. Was wir vor allen Dingen hinwegschaffen durch den dreigegliederten sozialen Organismus, selbst wenn er nur von einem Staate und nicht in Nachbarstaaten, die noch die alte kapitalistische Ordnung behalten, durchgeführt wird, ist das bisherige Interessenspiel.

Es ist ja gerade das eigentümliche, daß die Dreigliederung jeder Staat für sich durchführen kann, ganz gleichgültig, ob die anderen beim alten bleiben, und daß zum Beispiel durch jenes Spiel der Interessen, das ganz anders sein wird als das bisherige, wenn die wirtschaftlichen Interessen allein für sich als Wirtschaftsinteressen auch über die Grenzen hinüberwirken, daß dann diejenigen Konfliktstoffe beseitigt werden, welche zu den Kriegen geführt haben, die man technisch die Rohstoffkriege nennt.

Der Hofrat nun, der diesen Einwand machte, hat mir gesagt: Ja, bisher war ein großer Teil der Kriege Rohstoffkriege, wenn Ihr System verwirklicht wird, dann gibt es ja keine Rohstoffkriege mehr, also widerspricht Ihr System der Wirklichkeit. - Ich mußte ihm sagen: Wenn Sie das zur Bestätigung gesagt hätten, verstände ich es; daß Sie es zur Widerlegung sagen, das ist eigentümlich. So muß ich sagen: Die einzige Hilfe gegenüber jener Stimmung, welche auf der Seite der Entente vorhanden ist, besteht darin, daß wir diese Stimmung, diese Mißgunst in drei Glieder zerfällen. Das ist dasjenige, was auf diesem Gebiete für die augenblickliche Außenpolitik diese Dreigliederung bringen würde. Ich würde dem Herrn Redner empfehlen, gerade von einem weiteren als dem Hofratsstandpunkte heraus die aus der Dreigliederung folgende Außenpolitik zu studieren, er würde sich dann ersparen können die gänzlich unnütze Definition, ob der dreigliedrige Organismus anarchistisch ist oder dergleichen. Er würde einsehen können, wie wahr dasjenige ist, was ich eben nur durch einen Vergleich aussprechen kann, ich habe es hier schon angedeutet, die Einheitsschwärmer, die gleichen eben Menschen, denen man sagen muß: Eine ländliche Familie besteht aus Mann, Frau, Kindern, Knecht und Magd und drei Kühen, sie alle brauchen Milch. Müssen sie deshalb alle Milch geben? Nein, es brauchen nur die drei Kühe Milch zu geben, dann werden alle Milch haben. So ist es notwendig, daß der gesamte Organismus in der richtigen Weise gegliedert wird; dann werden die Glieder auch in der richtigen Weise zur Einheit zusammenwirken, und das, was auf dem einen Boden entsteht, wird auch in der richtigen Weise auf die anderen Glieder wirken können.

Weil der Vorredner solches nicht beachtet, müßte er die Begabung durch das allgemeine Wahlrecht entscheiden. Nun, man kann die Besetzung von Stellen, man kann alles mögliche durch das allgemeine Wahlrecht entscheiden. Wie Sie aber die Begabungen durch das allgemeine Wahlrecht verwalten wollen, das bitte ich Sie nur einmal gründlich durchzudenken, und Sie werden sehen, wenn ich der Methode des Herrn Vorredners nachgehen und Ihnen die Konsequenzen ausmalen würde - aber diese Methode erkenne ich nur als eine sophistische Methode an, deshalb gehe ich nicht weiter darauf ein -, aber wenn ich Ihnen die Konsequenzen zeichnen würde, dann würden Sie sehen, was dabei herauskäme. Bei einer Demokratisierung der Begabung würden Sie vielleicht nicht sagen Gedankenanarchismus, aber irgend etwas anderes.

Ähnliche Dinge sind noch viel vorgebracht worden. Besonders überrascht war ich, den Ausdruck «Geistkapitalismus» zu hören. Was man sich darunter vorstellen soll, das weiß ich nicht, insbesondere weiß ich nicht, wie er gebraucht werden mag nach einem Vortrag, in dem über die Zirkulation des Kapitals in der Weise gesprochen worden ist, wie ich gesprochen habe. Geistige Besitzer - ja, sehr verehrte Anwesende, man versuche doch nur einmal, mit Realitäten zu denken! Stellen Sie sich den sozialen Organismus - der Redner hat ihn ja nicht geschildert, wie er ihn sich vorstellt - vor nach den wenigen Andeutungen, die der Redner gemacht hat. Dann werden Sie doch wohl sagen müssen: Was ist denn das eigentlich, wenn, sagen wir, durch irgendeine sozialistische Ordnung geistige Arbeiter eben arbeiten neben dem Handarbeiter? Ich weiß nicht, was das für ein Unterschied sein soll gegenüber dem, was auch in meinem Wirtschaftsorganismus da sein muß, daß der geistige Arbeiter arbeitet neben dem Handarbeiter. Ich habe ausdrücklich erklärt: Der Besitz hört auf in dem Moment, wo das Kapital realisiert ist, das heißt das Produktionsmittel da ist. Wie man dann von geistigen Besitzern sprechen kann, das ist mir ganz und gar unerfindlich. Aus einzelnen besonderen Erfahrungen, die der verehrte Redner angeführt hat, kann man selbstverständlich alles mögliche, was man nur will, herleiten. Von der Verkümmerung des Seelenlebens und dergleichen kann man selbstverständlich sehr viel herleiten. Das fand ich nicht sehr geschmackvoll, womit der Herr Redner geschlossen hat, daß er sich darauf bezog, er überläßt mir das Bürgertum, damit dann ihm um so besser das Proletariat gesichert sei. Nun, auf solche Dinge braucht man sich ja nicht weiter einzulassen, denn ob man das nun schließlich als agitatorische Phrase ansieht oder nicht, das ist durchaus Geschmackssache.

Aber was da gesagt worden ist in bezug auf das Vertrauen und in bezug auf den Glauben an das Vertrauen- ja sehen Sie, dazu muß ich schon sagen, es handelt sich heute wahrhaftig nicht darum, das Verhältnis, das man kennengelernt hat aus den alten Zuständen heraus, zu kritisieren, sondern heute handelt es sich darum, neue Zustände zu begründen. Wenn mir heute einer und der zweite und der hundertste und der tausendste erzählen würde, er glaube nicht daran, daß Vertrauen da sei, sondern er hat in soundso vielen Fällen mit Mißtrauen kämpfen müssen, dann sage ich ihm: Besser wird nichts, wenn wir uns nicht bemühen, dieses Vertrauen herzustellen, denn wir müssen heute mit dem Vertrauen arbeiten. Alle anderen Fäden, mit denen man bisher die Massen herangezogen hat, die versagen. Die Fäden der Zukunft können nur die des Vertrauens sein. Würde Mißtrauen morgen und übermorgen noch Platz greifen können, so müßten wir eben auf das, was auf morgen und übermorgen folgt, warten, denn wenn Gutes kommen soll, kann es nur aus dem Vertrauen heraus kommen. Das Vertrauen, das ich meine und an dem wir arbeiten müssen, dieses Vertrauen wird aus den Seelen hervorgehen müssen. Dieses Vertrauen muß eben erzeugt werden, es ist sogar heute wichtiger als alles andere. Dann, wenn dieses Vertrauen erzeugt wird, das ich meine, dann gibt es das rechte Verhältnis zwischen den Handarbeitenden an den Produktionsmitteln und den geistig Arbeitenden. Dann macht dieses Vertrauen unmöglich, was der Redner als ein Schreckbild an die Wand gemalt hat.

Das ist gerade das, was heute in dieser sozial aufgewühlten Zeit so furchtbar fehlt, der Wille, aufzubauen auf Vertrauen. Oh, dieses Vertrauen, es wird vorhanden sein, je mehr und mehr Prüfungen über die Menschen kommen, und ich würde verzweifeln müssen an der Menschheit, wenigstens an dem Neuaufbau gesunder Verhältnisse, wenn ich nicht mehr glauben könnte, daß ein Mensch den Weg zum anderen Menschen durch Vertrauen wird Enden können. Denn, meine sehr verehrten Anwesenden, sozialisieren Sie soviel Sie wollen, reden Sie von Sozialisierung soviel Sie wollen, eines wird dieser Sozialisierung zugrunde liegen müssen: die Sozialisierung der Seelen. Wer nicht sucht den Weg zur Sozialisierung der Seelen, der mag außen sozialisieren, soviel er will, er wird die Menschen in anarchistischere Zustände hineinführen als dasjenige ist, was der Vorredner als eine Art von Anarchismus hat hinstellen wollen.

Und nicht anders heißt der Seelensozialismus als Vertrauen. Aber an diesem Vertrauen muß eben gearbeitet werden. Und heute, ist dieses Vertrauen nicht ein wenig erschüttert? Meine sehr verehrten Anwesenden, ich bin mit dem, was soziale Bewegung des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts ist, seit langem verknüpft. Ich habe gearbeitet darin; ich weiß es. Was der verehrte Vorredner gesprochen hat, man hat es immer wieder und wieder aussprechen hören können gegen dasjenige, was ich heute gesagt habe. Abgesehen von der Dreigliederung, sind dieselben Einwände, die der Herr Vorredner mir heute gemacht hat, von anderen schon gemacht worden um 1898, l899. Das aber ist das Notwendigste, daß wir hinauskommen über die alten Gedanken, daß wir umlernen können, daß wir nicht beim alten stehenbleiben. So schmerzlich es mir auszusprechen ist, ich glaube, daß diejenigen uns am meisten zurückhalten, die sich nicht überwinden können, aus ihren alten Vorurteilen herauszukommen. Und die Herren, welche die Methode anwenden, die Sätze erst halb oder ganz umzudrehen, um dann gegen ihr Eigenes zu polemisieren, haben immer leichtes Spiel, weil selbstverständlich nach dem einmaligen Anhören eines Vortrages nicht alle verstehen werden, wie die Sachen gemeint sind, wie sie, wenn sie sich in die Wirklichkeit hineinstellen, aufgefaßt werden müssen. Denn gerade dasjenige, was nicht Theorien, nicht bloß gutem Willen entspricht, sondern das herausstammt aus einer gewissenhaften, der Verantwortlichkeit bewußten Lebenserfahrung, Lebensbeobachtung, gerade das kann nicht in einer Stunde erschöpft werden, sondern dafür können nur Anregungen gegeben werden. Aber diese Anregungen, von ihnen habe ich seit der Zeit, und es ist ja schon ziemlich lange her, seit ich von der Dreigliederung spreche, immer wiederum gesagt: Mag sein, daß die Einzelheiten bei ihrer Verwirklichung ganz anders sich ausnehmen werden als das, was ich selbst beispielsweise über diese Einzelheiten sage. Mir kommt es darauf an, daß der Bauplan der Wirklichkeit entnommen ist und sich in die Wirklichkeit hineinleben kann, daß er wirklichkeitsgemäß ist.

Und deshalb, weil ich glaube, daß nicht subjektiver menschlicher Wille es ist, der sich einbildet, diese Impulse realisieren zu müssen, sondern weil die Beobachtung der Entwickelungskräfte der Menschheit in der Gegenwart und Zukunft selber dazu führt, deshalb glaube ich, es wird sich Verständnis dafür finden. Und ich hoffe, das muß ich noch einmal sagen, aus unserer schwergeprüften Zeit und aus unserer schmerzlichen Lage werden wir für manches noch Verständnis finden, wofür Verständnis zu finden wir uns vielleicht heute noch gar nicht vorstellen können.