Anarchischer Markt im Großen statt Kleinen organisieren

Quelle: GA 330, S. 178-184, 2. Ausgabe 1983, 15.03.1919, Stuttgart

Was heraufgekommen ist unter dem neueren Kapitalismus, was sich immer mehr und mehr entwickelt hat, was heute gewissermaßen auf dem Höhepunkt seines Bewußtseins, nämlich seines Klassenbewußtseins angekommen ist, das ist die soziale Gruppe von Menschen, die vorläufig als soziale Gruppe im Grunde genommen nur aus der handarbeitenden Bevölkerung, aus dem Proletariat besteht. Was ist zu erfüllen mit Bezug auf diese soziale Gruppe? Nun, diese soziale Gruppe hat in einer gewissen Weise Selbsthilfe geübt, sie hat auch mancherlei für sich erzwungen, was sie abgerungen hat dem kapitalistisch geleiteten Staate, der rein kapitalistischen Wirtschaftsordnung und so weiter. Genossenschaften, Gewerkschaften sind zur Organisierung der sozialen Gruppe - es waren zunächst anarchische Arbeitermassen, nicht der Gesinnung nach, sondern der Gruppierung nach zunächst Anarchist - entstanden. Aber solange wir unter der alten Wirtschaftsordnung standen, haben es diese Organisierungsversuche zu keinem rechten Ziel bringen können. Trotz aller Lobhudelei des Arbeiterschutzes, des Arbeiterversicherungswesens, sogar des internationalen Arbeiterschutzes und so weiter sind alle diese Dinge nicht geeignet gewesen, die sozialen Gruppen, die als proletarische Bevölkerung leben, wirklich sachgemäß zu organisieren. Denn es blieb bei allen diesen Organisationsversuchen etwas zurück, es blieb zurück das gegenüberstehende Kapital und seine Vertreter. Und so bildete sich heraus, was da war, und was heute noch nicht anders ist, der Kampf zwischen der einen Gesellschaftsklasse, den Trägern des Kapitalismus, und der anderen Gesellschaftsklasse, dem Proletariat. Kampf, Konkurrenz, das ist es, was sich herausgebildet hat.

Und wozu wir durch diesen Kampf, durch diese Konkurrenz gekommen sind, daß der gewerkschaftlich organisierte Arbeiter seine Lohnerhöhung oder sonst etwas den Vertretern des Kapitals durch die Zusammenschließung abringen muß, das haben wir ja gesehen. In dem, was heute das Proletariat fühlt, spricht sich deutlich aus, wie wenig die bisherige Organisation erfüllen konnte, was als Forderung innerhalb des Proletariats liegt.

Ich habe in früheren Vorträgen bereits darauf hingewiesen, worin der Hauptpunkt liegt. Man könnte sagen, zwei Hauptpunkte des ganzen Sozialismus liegen in zwei Forderungen, zu denen sich dann wie von selbst, als eine selbstverständliche Konsequenz, eine dritte ergibt. Sie liegen erstens in der Forderung, die heute schon bei Besprechung des Kapitals mitbesprochen worden ist, in der Forderung, daß künftighin das in die Produktionsmittel eingeflossene Kapital nicht mehr Besitz sein dürfte. Kapital wird des Besitzcharakters entkleidet. Zweitens, Arbeit darf in der Zukunft nicht mehr Ware sein, das heißt in der zukünftigen sozialistischen oder sozialen Gesellschaft, im gesunden sozialen Organismus wird das Lohnverhältnis aufhören. Arbeit oder Arbeitskraft darf fernerhin nicht Ware sein. Derjenige, der handarbeitet, produziert als Kompagnon mit dem geistigen Arbeiter in der Weise, wie es schon charakterisiert worden ist. Es besteht kein Arbeitsvertrag, es besteht ein Vertrag lediglich über die Teilung der Leistungen. Das ist dasjenige, was nur erreicht werden kann, wenn der Arbeiter dem Arbeitsleiter als ein völlig freier Mensch gegenübersteht, das heißt wenn er imstande ist, auf einem ganz anderen Boden als dem der Wirtschaftsordnung Maß, Zeit, Art seiner Arbeitskraft festzulegen, wenn er frei verfügen kann über sich als ganzen Menschen, bevor er in ein Vertragsverhältnis eintritt.

Ich weiß, daß die Zöpfe von heute sich das Gesagte noch nicht vorstellen können als etwas Praktisches. Allein, man hat vor fünfzig Jahren sich manches nicht als praktisch vorstellen können, was in den fünfzig Jahren seither etwas Praktisches geworden ist. Der Arbeiter tritt in das Vertragsverhältnis als ein freier Mensch ein, der sagen kann: Weil ich auf einem von dem Wirtschaftsleben unabhängigen Boden den Charakter meiner Arbeitskraft feststellen kann, trete ich dir jetzt entgegen und arbeite so, wie meine Arbeitskraft geregelt ist, mit dir zusammen. Dasjenige, was wir erzeugen, unterliegt einem Teilungsvertrag mit dir!

Sehen Sie, deshalb ist es notwendig, daß in der Zukunft losgelöst werde der eigentliche Staat, das eigentliche soziale Rechtsgebiet von dem Wirtschaftsgebiet. Dadurch, daß dies geschieht, wird man imstande sein, alles, was auf demokratischem Boden als Recht reguliert werden kann, auch wirklich unabhängig vom Wirtschaftsleben zu regulieren. Das Wirtschaftsleben selber kann nur aus der Erfahrung und aus den realen Grundlagen dieses Wirtschaftslebens heraus selber organisiert werden. Arbeitskraft aber kann schon organisiert sein, wenn der Arbeiter überhaupt in das Wirtschaftsleben eintritt. Dann, wenn das der Fall ist, dann wird in der Zukunft leben auf der einen Seite das zirkulierende Kapital beziehungsweise die zirkulierenden Produktionsmittel, die so keines Menschen Besitz sind, sondern zur allgemeinen Verwendung in Wirklichkeit da sind, die immer an den Fähigsten kommen können durch die Einrichtungen, die ich eben vorhin dargestellt habe. Dann wird da sein auf der andern Seite die Freiheit des Menschen, nicht nur in bezug auf allerlei ideale Güter, die aber der Handarbeiter heute nicht zu den seinigen rechnen kann, sondern vor allen Dingen mit Bezug auf die menschliche Arbeitskraft. Dann wird das wirtschaftliche Leben entlastet sein des Lohnverhältnisses, denn dann wird es im Wirtschaftsleben nur Güter geben oder meinetwegen nennen wir es Waren. Dann wird in anderer Weise sich gegenüberstehen das, was heute Kapital, Lohn und Markt ist. Dann wird, wie Sie gesehen haben, das Kapital entfallen sein, der Lohn ebenfalls, denn Leistungen werden da sein, welche der Arbeiter mit dem Arbeitsleiter gemeinsam hervorbringt. Der Lohnbegriff hört auf, einen Sinn zu haben.

Aber auch dasjenige, was heute der Markt ist, wird eine andere Gestalt annehmen. Heute hat der Markt, wenn er auch im Kleinlichen und Kleinen schon vielfach organisiert ist, noch etwas Anarchisches. Der Markt regelt die gegenseitigen Werte der Waren, und das ist das einzige, was an Werten in dem Wirtschaftsleben künftig da sein soll, denn menschliche Arbeitskraft hat einen mit nichts vergleichbaren Wert, darf nicht zu den wirtschaftlichen Werten gezählt werden.

Was an wirtschaftlichen Werten da sein wird, werden die vergleichsweisen Werte der Waren sein. Unter den geschilderten Verhältnissen wird möglich sein, daß die Waren solche vergleichsweisen Werte bekommen, welche den Menschen in weitestem Umfange, das heißt allen Menschen, die arbeiten, eine möglichst dem allgemeinen, nicht einem Gruppenwohlstand angemessene Lebenslage geben. Das kann nur dann sein, wenn der Markt aufhört das zu sein, was er heute ist, wenn er durch und durch organisiert wird, wenn aus den umfassendsten wirtschaftlichen Erfahrungen heraus, aus dem Berechnen desjenigen, was die verschiedenen wirtschaftlichen Unterlagen sind, sich ergibt eine Feststellung von Warenwerten, die nicht den anarchischen Verhältnissen von Angebot und Nachfrage unterliegen, sondern die hinorientiert sind auf den durch Erfahrung wohl festgestellten menschlichen Bedarf. Das wird nur erreicht werden können, wenn dieses Wirtschaftsleben, wenn der Markt, oder besser gesagt, die Märkte, verwandelt werden in Assoziationen, in Genossenschaften und so weiter. Dieser genossenschaftliche Aufbau, dieser Aufbau nicht nur etwa auf solchen Genossenschaften, wie sie schon versucht worden sind, sondern die Durchziehung des ganzen Wirtschaftslebens mit genossenschaftlicher Struktur, wird nur dann möglich sein, wenn man aus den Erfahrungen des Wirtschaftslebens heraus sich aneignen wird eine intuitive Erkenntnis der Beziehungen zwischen Produzenten und Konsumenten. In dieser Beziehung gibt es auch Ansätze. Sie können sie kennenlernen in den Bestrebungen zum Beispiel von Sidney Webb, wo in Genossenschaften Großartiges geleistet ist, soweit sich Großartiges leisten läßt innerhalb der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung, die noch außer diesen Genossenschaften besteht. Wird aber die Wirtschaftsordnung überhaupt in der angedeuteten Art umgeändert, dann handelt es sich darum, daß man nicht nach subjektiven Forderungen, sondern nach dem, was die wirtschaftliche Struktur selber ergibt, den genossenschaftlichen Aufbau bewirken muß. Da möchte ich nur, damit Sie sehen, daß die Dinge nicht in der Luft hängen, eine bestimmte Bemerkung machen. Es wird sich selbstverständlich für den, der auf den in meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage» beschriebenen Assoziationscharakter des Wirtschaftslebens Rücksicht nimmt, die Frage aufwerfen: Wie können wir zum Beispiel Genossenschaften begrenzen? -Wenn man sie willkürlich oder aus irgendwelchen außerhalb des Wirtschaftslebens liegenden Rücksichten wird begrenzen wollen, dann werden sich immer falsche Preisbildungen und im Gefolge davon falsche Beeinflussungen der menschlichen Lebenslage ergeben. Nun gibt es ein ganz bestimmtes Gesetz, welches aus der Wirklichkeit heraus zum Aufbau einer genossenschaftlichen Struktur führen kann. Sie können sich zunächst, wenn Sie die beiden Strömungen des Wirtschaftslebens, die Produktion und die Konsumtion, ins Auge fassen, Konsumgenossenschaften vorstellen, wo diejenigen Menschen sich zusammenschließen, welche in ökonomischer Weise kaufen wollen, so daß sie alles das ausnützen, was für das Kaufen auszunützen ist dadurch, daß sich Konsumenten zusammenschließen.

Auf der anderen Seite können sich Produzenten zusammenschließen, bis zum Unfug ist das ja gerade innerhalb unserer Wirtschaftsordnung geschehen, da ergeben sich dann die Produktionsgenossenschaften. Nun haben beide Arten von Genossenschaften ganz verschiedene Tendenzen. Wer Konsumgenossenschaften studiert, findet, daß Konsumgenossenschaften alles Interesse daran haben, erstens möglichst billig einzukaufen und zweitens möglichst viele Menschen in ihren Reihen zu haben. Sie wehren sich niemals gegen die Vergrößerung ihrer Genossenschaft, wenn sie ihr wahres Interesse im Auge haben. Gerade die entgegengesetzte Eigenschaft haben die Produktionsgenossenschaften. Die Teilnehmer werden die Konkurrenz fürchten, wenn sie sich vergrößern, und sie haben doch alles Interesse daran, möglichst teuer zu verkaufen. Das weist Sie darauf hin, daß in der Zukunft das Heil nur bestehen kann in der Zusammenfügung von Menschen mit Konsum- und Produktionsinteressen, in Konsum-Produktions- oder ProduktionsKonsumgenossenschaften, wo nicht nur der Konsum die Produktion regeln wird, sondern wo sogar die Größe der Genossenschaft geregelt werden wird, indem der Konsum die Tendenz hat, die Genossenschaft möglichst groß zu machen, also auszudehnen, zu expandieren - die Produktion die Tendenz hat, der Genossenschaft Grenzen zu geben. Da wird aus der Sache selbst, aus der Wirklichkeit heraus das soziale Gebilde geschaffen. Ich könnte Ihnen unzählige Fälle anführen, woraus Sie ersehen würden, daß, wer wirklichkeitsgemäß zu denken imstande ist, wer wirklich praktische Ideen heute im Kopfe haben will, der findet in den Ansätzen, die in der Wirklichkeit schon vorhanden sind, selber die Grundlagen wahrer, echter, den Menschen heilsamer Sozialisierung.

Alles das aber, was ich Ihnen gesagt habe, setzt voraus die wirkliche Dreigliederung des sozialen Organismus. Kapitalisten im heutigen Sinne, die rein aus dem Wirtschaftsleben heraus entstehen, wird es nicht geben. Geben muß es diejenigen Menschen, welche aus dem freien Geistesleben herauswachsen, wie ich es charakterisiert habe in den vorigen Vorträgen, aus jenem Geistesleben, das nicht lebensfremde, abstrakte Geistesprodukte produzieren wird, sondern das ein Geistesgut entfalten wird, welches allerdings auf der einen Seite zu den höchsten Höhen des Geistes steigt, auf der anderen Seite den Menschen ausbildet zum wirklich praktischen Menschen. Auf allen Stufen des Geisteslebens werden nicht Menschen, die lebensfremd sind, weil sie nur wissen, ausgebildet, sondern Menschen, die denken können, die disponieren können.

Ein Kreislauf wird stattfinden in den Grenzen, die ich heute bereits angedeutet habe, innerhalb dessen hinüberschicken werden - wie ich es in meinem Buche ausgeführt habe - die Verwaltungen der geistigen Organisationen ihre befähigtsten Leute in das Wirtschaftsleben und das Wirtschaftsleben hinüberschicken wird seine Leute in die geistigen Organisationen, damit sie dort dasjenige, was sie an Erfahrungen im Wirtschaftsleben gewonnen haben, weiter vertiefen oder wohl auch als Lehrer die heranwachsende Jugend unterweisen im Wirtschaftsleben.

Ein lebendiger Kreislauf, getragen von Menschen selbst, wird stattfinden zwischen den drei Gliedern des sozialen Organismus. Nicht zerfallen wird der dreigliedrige Organismus in drei nebeneinander stehende Gebiete. Der Mensch, der in allen drei Gliedern leben wird, wird die lebendige Einheit werden.

Der Mensch mit seinen sozialen Interessen und Kräften wird in der Zukunft überhaupt dasjenige bilden, was allem Leben zugrunde liegt. Auf den Menschen wird es viel mehr ankommen als heute, wo der scheinbare Einheitsstaat gerade die Menschheit noch gliedert in Klassen und Stände und die Menschen nicht volle und ganze Menschen sein läßt. Heute glaubt man noch, hat man irgendwo eine Verfassung, nun, dann ist viel gewonnen. In der Zukunft wird man verstehen, daß eine Verfassung nichts ist, wenn die Menschen nicht da sind, die in ihrer eigenen Lebendigkeit die Kräfte tragen, sich gegenseitig zu verfassen, wenn ich so sagen darf. Das ist es, worauf es ankommt, daß man verstehe, was ich neulich schon damit andeutete: Gladstone, der englische Staatsmann, sagte einmal, die vorteilhafteste Verfassung habe der nordamerikanische Freistaat. Ein anderer Engländer, der mir geistreicher zu sein scheint als Gladstone, sagte darauf: Aber diese Nordamerikaner das war eben seine Ansicht - könnten eine viel, viel schlechtere, sogar eine spottschlechte Verfassung haben, sie sind solche Leute, die aus einer guten und aus einer schlechten Verfassung dasselbe machen werden! Daß wir das Menschliche an die Stelle setzen müssen des vom Menschen Abgesonderten, das ist es, was erreicht werden muß. Aus einem lebendigen Geistesleben werden die lebendigen Leiter der Betriebe hervorgehen. Das Kapital entfällt! Neben solchen lebendigen Leitern wird der freie Arbeiter als ein ganzer Mensch dastehen. Er wird, wenn er die Frage aufwirft: Gibt mir die Gesellschaftsordnung meine Menschenwürde? - mit ja zu antworten wissen. Und ein Markt, der nicht anarchisch, sondern organisiert ist, wird einen gerechten Ausgleich in den Warenwerten hervorzurufen imstande sein.