Zur Einheitsschule braucht es keinen Staatszwang

Quelle: GA 330, S. 061-062, 2. Ausgabe 1983, 23.04.1919, Stuttgart

Man kann zum Beispiel sagen: Wir haben uns nun glücklich dazu durchgerungen, die Einheitsschule anzustreben; wenn nun das Geistesleben befreit werden und nicht Staatszwang die Kinder in die Schule führen soll, sondern jeder aus freiem Willen heraus seine Kinder in die Schule schicken kann, die er wählt, da werden doch wieder die Höhergestellten ihre eigenen Schulen begründen. Die alte Ständeschule wird wieder auftauchen. Dieser Einwand war noch berechtigt in der alten Ordnung, aber in sehr kurzer Zeit wird er nicht mehr berechtigt sein. Die alten Stände werden nicht mehr da sein. Und was in diesem Aufruf für das Geistesleben gefordert wird, die Emanzipation des Geisteslebens von der untersten Schule bis herauf zur Universität, die wird nicht gefordert als einzelne Einrichtung, sondern im Zusammenhang mit einer ganzen Neugestaltung, die es möglich machen soll, daß bis zu dem Zeitpunkte, wo der Mensch der Schule entwächst, etwas anderes existieren wird als die Einheitsschule. Die Einwände, die gegen diese Dinge gemacht werden, sind nur konservative Vorurteile. Darüber muß man hinauskommen. Wir müssen sehen lernen, daß das Geistesleben emanzipiert werden muß, daß es freigestellt werden muß auf sich selbst, damit es nicht mehr ein Diener der Staats- und Wirtschaftsordnung ist, sondern ein Diener dessen, was das allgemeine menschliche Bewußtsein an Geistesleben hervorbringen kann; damit das Geistesleben nicht für eine Klasse da ist, sondern für alle Menschen gleich.

Sehr verehrte Anwesende, Sie arbeiten heute von morgens an, so weit Ihre Arbeit reicht, in der Fabrik. Sie gehen aus der Fabrik heraus und gehen höchstens vorbei an den Bildungsanstalten, die für gewisse Menschen errichtet sind. In diesen Bildungsanstalten werden die fabriziert, die bisher die herrschende Klasse waren, die die Regierung geführt haben und so weiter. Ich frage Sie: Hand aufs Herz, haben Sie eine Ahnung davon, was da drinnen getrieben wird? Wissen Sie, was da drinnen vorgeht? Nichts wissen Sie! Da zeigt sich unmittelbar anschaulich die Scheidung der Klassen. Da ist der Abgrund. Was in dem Aufruf angestrebt wird, ist, daß alles, was auf geistigem Boden getrieben wird, alle angeht, und daß der geistige Arbeiter der ganzen Menschheit verantwortlich ist. Das können Sie nicht erreichen, wenn Sie nicht das geistige Leben befreien und auf sich stellen.»