Organismusvergleich in den Kernpunkten nur gestreift

Quelle: GA 192, S. 047-052, 1. Ausgabe 1964, 23.04.1919, Stuttgart

So ist der Mensch dieses dreigliedrige Wesen. Er entwickelt in sich Fähigkeiten, die diesen Abglanz der übersinnlichen Welt in dieses Leben hereintragen. Ein Leben entwickelt er, das die Brücke bildet zwischen dem vorgeburtlichen und dem nachtodlichen Leben, und das sich auslebt in all dem, was nur seine Wurzel hat in dem Leben zwischen Geburt und Tod, was sich äußerlich darstellt in dem äußerlichen Rechts-, Staatsorganismus und so weiter. Und indem er untertaucht in das Wirtschaftsleben, und indem er in der Lage ist, in diesem Wirtschaftsleben ein Moralisches zu pflanzen, das Brüderliche, entwickelt er die Keime für das nachtodliche Leben. Das ist der dreifache Mensch.

Und denken Sie sich diesen dreifachen Menschen nun seit dem fünfzehnten Jahrhundert in einer solchen Entwickelungsphase, daß er alles das, was früher instinktiv war, bewußt ausbilden muß. Dadurch ist er heute in die Notwendigkeit versetzt, daß sein äußeres soziales Leben ihm Anhaltspunkte bietet, daß er drinnen stehe mit seiner dreifachen Menschlichkeit in einem dreifachen Organismus. Wir können nur, weil wir drei ganz verschiedene Wesensglieder, das Vorgeburtliche, das Irdischlebendige, das Nachtodliche in uns vereinigen, in dem sozialen Organismus richtig drinnen stehen in drei Gliedern. Sonst kommen wir als bewußte Menschen in einen Mißklang mit der übrigen Welt. Und wir werden immer mehr und mehr dahin kommen, wenn wir nicht danach trachten würden, diese umliegende Welt als dreigliedrigen sozialen Organismus zu gestalten.

Sehen Sie, da haben Sie die Sache verinnerlicht. Ich versuche zu zeigen, wie sich der geisteswissenschaftlichen Forschung der Finger bietet, um den dreigliedrigen sozialen Organismus zu finden; wie er gefunden werden muß aus der menschlichen Natur selber heraus. Auf den bloßen Gedanken von dem, was ich jetzt entwickelt habe, auf den sind ja manche Menschen schon gekommen. Aber ich habe mich in öffentlichen Vorträgen und auch sonst immer dagegen verwahrt, daß, wenn ich auch Anhaltspunkte gebe für diese Gedanken, man das verwechselt mit den Gedanken des alten Schäffle «Vom Bau des sozialen Organismus», oder mit den Dilettantismen des jüngst erschienenen Buches von Meray über «Weltmutationen», oder ähnliche Dinge.

Solche Analogiespiele treibt der Geisteswissenschafter nicht; sie sind höchst unfruchtbar. Das, was ich möchte, auch wenn ich spreche über sozialen Organismus, das ist, daß der Mensch seine Gedanken schult. Die allgemeine Gedankenschulung ist heute nicht einmal so weit, daß in der Naturwissenschaft begriffen würde, was ich in meinem Buche nach fünfunddreißigjähriger Forschung in meinem Buche «Von Seelenrätseln» dargestellt habe, wo ich gezeigt habe, daß das ganze menschliche Wesen besteht aus den drei Gliedern: Nerven-Sinnesleben, Rhythmusleben, Stoffwechselleben. Das Nerven-Sinnesleben kann man auch das Kopfleben nennen, das rhythmische Leben kann man auch das Atmungsleben, das Blutleben nennen, das Stoffwechselleben ist das, was den übrigen Organismus konstruktionsmäßig umfaßt. Ebenso wie dieser menschliche Organismus dreigegliedert ist und jedes der Glieder in sich zentriert ist, so muß sich auch der soziale Organismus dadurch zeigen, daß jedes seiner Glieder gerade dadurch für das Ganze wirkt, daß es in sich zentriert ist. Die heutige Physiologie und Biologie glaubt, daß der Mensch ein zentralisiertes Wesen als Ganzes ist. Das ist nicht wahr. Sogar bis in die Kommunikation nach außen ist der Mensch ein dreigliedriges Wesen: das Kopfleben steht durch die Sinnenwelt selbsttätig mit der Außenwelt in Verbindung, das Atmungsleben ist verbunden mit der Außenwelt durch die Luft, das Stoffwechselleben wiederum steht durch selbständige Öffnungen mit der Außenwelt in Beziehung. In dieser Weise muß auch der soziale Organismus dreigliedrig sein, jedes Glied in sich zentriert. Wie der Kopf nicht atmen kann, sondern das, was durch die Atmung vermittelt wird, durch das rhythmische System empfängt, so soll der soziale Organismus nicht selber etwa ein Rechtsleben entwickeln wollen, sondern er soll das Recht empfangen von dem Staatsorganismus.

Aber ich sagte: Man darf das, was hier auseinandergesetzt wird, nicht verwechseln mit dem bloßen Analogiespiel, das dann eintritt, wenn man allerlei Hypothesen sucht. Geisteswissenschaft ist wirkliche Forschung und geht auf die Erscheinungen los. Wenn man Geisteswissenschafter ist, glauben nur die anderen Menschen, man denke etwas aus. Bevor man richtiger Geistesforscher ist, fängt man nur an, diese geistige Welt zu beobachten. Man muß sich das Denken erst abgewöhnen; das gilt für die physische Welt. Natürlich nicht für das ganze Leben abgewöhnen, sondern bloß für die geistige Forschung.

Ich habe Ihnen gesagt, man kommt in der Regel auf das Verkehrte, wenn man nach Analogien der sinnlichen Welt die geistige Welt charakterisieren will. Erinnern Sie sich an ein Beispiel. Die Geistesforschung zeigt, daß die Erde eigentlich ein Organismus ist; daß das, was die Geologen, die Mineralogen finden, ein Knochensystem nur ist, daß die Erde lebend ist, daß sie schläft und wacht wie der Mensch. Aber jetzt kann man nicht äußerlich nach einem Analogiespiel gehen. Wenn Sie äußerlich einen Menschen fragen: Wann wacht die Erde und wann schläft die Erde? - dann wird er ganz gewiß sagen: Sie wacht im Sommer und schläft im Winter. - Das ist das Gegenteil von dem, was wahr ist. Das Wahre besteht darin, daß die Erde tatsächlich im Sommer schläft und im Winter wach ist. Auf das kommt man natürlich nur, wenn man wirklich in der geistigen Welt forscht. Das ist das Vexierspiel, was das geistige Forschen so leicht dem Irrtum aussetzt, daß, wenn man etwas hineinträgt aus der physischen in die geistige Welt, man zumeist auf das Gegenteil oder auf Viertelswahrheiten kommt. Man muß eben jeden einzelnen Fall erforschen.

So ist es auch mit dem Analogiespiel, das die Leute treiben zwischen den drei Gliedern des individuellen Organismus und den drei Gliedern des sozialen Organismus. Was wird derjenige sagen, der dieses Analogiespiel treibt? Er muß sagen: Außen ist ein Geistesleben, Kunst, Wissenschaft. Das wird er in Parallele ziehen mit dem, was der menschliche Kopf hervorbringt, mit dem Nerven-Sinnesleben. Wie sollte er anders ! Dann wird er, wenn er das gelten läßt, was ich in meinen «Seelenrätseln» angeführt habe, als das Materiellste das Stoffwechselleben mit dem Wirtschaftsleben in Zusammenhang bringen. Das ist das Verkehrteste, was herauskommen kann. Und man kommt auf keinen grünen Zweig, wenn man die Sache so ansehen will.

Deshalb muß man sich, um zur Wahrheit zu kommen, alles Spielen mit Analogien abgewöhnen. Die außer der Geisteswissenschaft Stehenden glauben, daß man durch ein Gedanken-Analogiespiel zu diesen Dingen komme. Das ist das Allertäuschendste. Es paßt nichts, wenn man das äußere physische Geistesleben mit dem Kopfleben parallelisiert. Es paßt nichts, wenn man das Wirtschaftsleben mit dem Stoffwechselleben zusammenhält. Sobald man eingehen will auf die Sache, so paßt nichts. Wenn man wirklich forscht, so erhält man ein sehr paradoxes Resultat. Wenn man vergleicht den sozialen Organismus mit dem menschlichen Organismus, so kommt man nur zurecht, wenn man sich den sozialen Organismus umgekehrt hingestellt denkt: Wenn man das Wirtschaftsleben mit dem menschlichen Nerven-Sinnesleben vergleicht. Dann allerdings kann man vergleichen das Staatsleben mit dem rhythmischen System. Aber das physische Geistesleben, das muß man mit dem Stoffwechsel vergleichen, denn da sind ähnliche Gesetze vorhanden. Denn das, was als Naturgrundlage vorhanden ist für das Wirtschaftsleben, das ist für den sozialen Organismus ganz gleichbedeutend mit den individuellen Befähigungen, die der Mensch durch die Geburt mitbringt. Wie der Mensch im individuellen Leben von der Erziehung, von dem, was er mitbringt, abhängt, so hängt der wirtschaftliche Organismus ab von dem, was die Natur ihm liefert durch eigene Vorbedingungen des Wirtschaftslebens. Die Vorbedingungen des Wirtschaftslebens, der Boden und so weiter, ist dasselbe wie die individuellen Begabungen, die der Mensch mitbringt in das individuelle Leben. Wieviel Kohle, wieviel Metalle unter der Erde sind, ob ein fruchtbarer oder unfruchtbarer Boden vorhanden ist, das sind gewissermaßen die Begabungen des sozialen Organismus.

Und in demselben Verhältnis, in dem das Stoffwechselsystem des Menschen zu dem menschlichen Organismus und seinen Funktionen steht, in diesem Verhältnis stehen die menschlichen Hervorbringungen des Geisteslebens zum sozialen Organismus. Der soziale Organismus ißt und trinkt dasjenige, was wir ihm zuführen in Form von Kunst, Wissenschaft, technischen Ideen und so weiter. Davon nährt er sich. Das ist sein Stoffwechsel. Ein Land, das ungünstige Naturbedingungen für sein Wirtschaftsleben hat, ist wie ein Mensch, der schlecht begabt ist.

Und ein Land, dem seine Bewohner nichts zuführen an Kunst, an Wissenschaft, an technischen Ideen, das ist wie ein Mensch, der verhungern muß, weil er nichts zu essen hat. - Das ist die Realität, das ist die Wirklichkeit. Der soziale Organismus ißt unsere geistigen Erzeugnisse und trinkt sie. Und die Befähigungen, die Begabungen des sozialen Organismus, das sind die Naturbedingungen. Der Vergleich des geistigen Organismus mit dem Kopfleben hat nur so lange eine Bedeutung, solange man ein Analogiespiel treibt. Dann erst kommt man auf das Richtige, was einem helfen kann, wenn man weiß, daß die Sache so ist, daß die Gesetze so sind, wie ich es dargestellt habe. Man kann wissen: die Gesetze des menschlichen Stoffwechsels sind diese. Aber dabei muß man dasselbe Denken anwenden, das man anwendet auf den sozialen Organismus, und dann bekommt man das weitere leicht heraus. Geistige Dinge ohne solchen Leitfaden zu treiben, ist außerordentlich schwierig und langwierig. Weil heute dadurch, daß manchmal ein Analogiespiel getrieben wird, eine starke Abneigung vorhanden ist gegen dieses Parallelisieren des sozialen Organismus mit dem menschlichen Organismus, habe ich das in meinem Buche nur gestreift; aber ich versuchte es wenigstens anzudeuten, weil für die, welche die Sache gesund denken, es wiederum eine große Hilfe sein kann.

So sehen Sie, daß wir heute als Menschen in einer eigentümlichen Lage sind. Die Naturwissenschaft, welche diese großen Fortschritte gemacht hat, welche die Denkgewohnheiten der Menschen so beeinflußt hat, daß im Grunde genommen alles soziale Denken bei den Leuten, die sozial denken, naturwissenschaftlich orientiert wird, wenn sie es auch nicht wissen - die Naturwissenschaft ist nicht fähig, den Menschen in der richtigen Weise zu beurteilen. Sie sagt zum Beispiel den krassen Unsinn: Wenn Sie etwas fühlen, das Gefühl sei auch durch das Nervensystem vermittelt. Es ist der reine Unsinn. Das Gefühl ist direkt ebenso durch das Atmungssystem, das rhythmische System vermittelt, wie der Gedanke durch das Nerven-Sinnessystem. Und der Wille ist durch den Stoffwechsel vermittelt, gar nicht durch das Nervensystem in elementarer Weise. Erst der Gedanke des Wollens ist durch das Nervensystem vermittelt.

Nur indem Sie als Menschen ein deutliches Bewußtsein haben von dem Wollen, ist das Nervensystem beteiligt. Indem Sie Ihr Wollen mitdenken, ist das Nervensystem beteiligt. Weil man das nicht weiß, ist herausgekommen jenes furchtbar Beirrende der heutigen Physiologie und Anatomie, daß man sensitive Nerven und Bewegungsnerven unterscheidet. Es gibt gar keine krassere Unrichtigkeit als diese Unterscheidung der sensitiven Nerven und Bewegungsnerven im menschlichen Leibe. Die Anatomen sind immer in Verlegenheit, wenn sie dieses Kapitel besprechen, aber sie kommen nicht darüber hinaus. Sie sind in furchtbarer Verlegenheit, weil sich anatomisch diese beiden Arten von Nerven nicht unterscheiden. Das ist reine Spekulation. Und alles das, was sich durch Untersuchungen der Tabes anschließt, das ist durchaus alles ohne Halt. Die Bewegungsnerven unterscheiden sich nicht von den sensitiven Nerven, weil die Bewegungsnerven nicht dazu da sind, die Muskeln in Bewegung zu setzen. Die Muskeln werden in Bewegung gesetzt durch den Stoffwechsel. Und während Sie mit den sogenannten sensitiven Nerven auf dem Umweg durch die Sinne die Außenwelt wahrnehmen, nehmen Sie mit den anderen Nerven ihre eigenen Bewegungen, die Muskelbewegungen wahr. Die heutige Physiologie nennt sie nur falscherweise Bewegungsnerven.

Solche furchtbaren Vorurteile sind in der Wissenschaft und korrumpieren das, was in das populäre Bewußtsein übergeht und viel korrumpierender wirkt, als man gewöhnlich denkt.

Also die Naturwissenschaft ist nicht so weit, diesen dreigliedrigen Menschen zu durchschauen. In der Naturwissenschaft kann man warten, ob theoretische Anschauungen ein paar Jahre früher oder später populär werden. Das macht nichts aus für das Glück der Menschen. Aber das Denken ist nicht vorhanden, um diesen dreigliedrigen Menschen zu begreifen. Dieselbe Art zu denken muß aber vorhanden sein, um den sozialen Organismus in seiner Dreigliedrigkeit zu begreifen. Da wird die Sache ernst. Da stehen wir heute an dem Zeitpunkte, wo begriffen werden muß.