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Die eigene Einrichtung gliedern wollen ist „schrullenhaft“
Quelle: GA 190, S. 207-215, 3. Ausgabe 1980, 14.04.1919, Dornach
Sie haben bis jetzt eine Literatur gehabt, die sich auf die innere Entwickelung des Menschen und auf das Wissen über die geistige Welt bezieht, und die da sprach zu dem Menschen so, daß er die Welt, sein Verhältnis zur Welt, sein Verhältnis zu anderen Menschen, soweit es seelisch-geistig ist, von den verschiedensten Gesichtspunkten aus anfassen konnte. Jetzt erzeugt diese Geisteswissenschaft eine gewisse Strömung - natürlich nur mit einer Verzweigung, sie geht als große Geisteswissenschaft weiter, denn gerade die große Geisteswissenschaft ist das Allernotwendigste auch für die Gesundung aller anderen Verhältnisse -, die redet über die soziale Frage, über die Gesundung des sozialen Organismus. Da läuft die Geisteswissenschaft in eine Strömung hinein, die nun gar nicht unaktiv, die gar nicht bloß passiv genommen werden darf, sonst verfehlt sie ihr Ziel, ihren Zweck. Und jetzt wird sich zeigen, wie viele von uns durch die vielen, vorangegangenen Jahre, wo sie Geisteswissenschaft in sich aufgenommen haben, sich reif gemacht haben vor allen Dingen für ein klares Erfassen desjenigen, was jetzt als soziale Frage zu verstehen ist, denn auf ein klares, vorurteilsloses, unsentimentalisches Erfassen desjenigen, was ausgesprochen werden soll namentlich durch mein kommendes Buch über die „Kernpunkte der sozialen Frage“, auf das wird es ankommen. Das wird dasjenige sein, worüber wir jetzt eine gewisse Probe werden zu bestehen haben.
Man konnte bisher ein guter Geisteswissenschafter schon sein, wenn man Geisteswissenschaft studierte, ohne daß man sich kümmerte um dasjenige, was draußen im Leben vorging. Und wir haben ja gerade zwei Erscheinungen innerhalb unserer anthroposophischen Bewegung, über die wir eigentlich nachdenken sollten: Wir haben einerseits ganz gute Anthroposophen, welche aber, trotzdem sie ungeheuer viel wissen über die kosmische Entwickelung, über die Gliederung des Menschen, über Reinkarnation und Schicksal und Karma, von praktischen Gesichtspunkten des Lebens, von der Wirklichkeit des Lebens keine Ahnung haben, die gerade in der Anthroposophie etwas gesucht haben, um sich von dieser Wirklichkeit des Lebens fernzuhalten. Ja, diejenigen, die das, was ich jetzt sage, besonders betrifft, die ahnen nicht einmal, daß es sie betrifft. Denn eigentlich hält sich naiv jeder für einen Lebenspraktiker. Das also ist die eine Erscheinung, die wir unter uns haben.
Die andere Erscheinung ist die Sektiererei in irgendeiner Form. Es ist ja eine tiefe Neigung vorhanden, gerade in solchen Bewegungen, die sich auf das Geistige beziehen, Sektiererei zu treiben. Ob diese Sektiererei nun sich heraus entwickelt aus kleinen Cliquen, die auch mit dem Charakter der Sektiererei, wenn auch in sehr inferioren Dingen, auftreten, oder ob direkt Sektiererei getrieben wird, darauf kommt es nicht an. Denn dasjenige, worauf es ankommt, ist, wirklich einzusehen, daß durch diese hier gemeinte, anthroposophisch orientierte geisteswissenschaftliche Bewegung Objektivität, Unpersönlichkeit gehen muß. Das war ja immer das Schwierige unserer Bewegung, daß das Persönliche, meistens ohne daß man es ahnte, verwechselt wurde mit dem Objektiv-Sachlichen. Die Leute sind in dem guten Glauben, wenn sie sich zu einer Clique zusammentun, die mehr oder weniger groß ist, daß sie ein ganz sachliches Interesse haben. Gewiß, sie sind in dem guten Glauben, denn sie merken gar nicht, daß sie eigentlich doch in der Hauptsache dasjenige treiben, was sie wollen, weil ihnen der gerade geisteswissenschaftlich nahesteht, der ihnen so oder so gegenübersteht, weil sie mit dem gerade das oder jenes Verhältnis haben wollen, und dergleichen. Das ahnen die Menschen nicht. Sie leben in dem guten Glauben, objektiv zu sein. Aber diese Sektiererei, dieses Cliquenwesen, das ist ja gerade dasjenige, was die schrecklichen Tatsachen gebracht hat, daß die Veröffentlichungen, die Kundgebungen der Geisteswissenschaft nach außen, auf welchem Gebiete sie sich auch geltend machen, nicht beurteilt werden nach dem, was sie durch sich selbst sind, sondern, nach dem, was eine Gesellschaft, die Anthroposophische Gesellschaft aus ihnen macht und gemacht hat. [...]
Diese Dinge muß man doch nur wirklich einmal ernst nehmen können. Heute ist es gerade notwendig; denn wenn dasjenige, was nun gerade in die Welt kommen soll durch die Bestrebungen mit Bezug auf die soziale Frage, wenn das etwa auch getragen werden sollte von sektiererischem oder Cliquengeiste oder den verschiedenen Engherzigkeiten, die ich heute charakterisiert habe, dann würde gerade dieser Sache ganz furchtbar geschadet werden. Hier müssen wir wirklich zu einer größeren Denkweise uns entwickeln. Hier müssen wir wirklich den Eingang suchen in das real praktische Leben. Darauf kommt es an.
Nehmen Sie, wenn ich über diese Dinge etwas sage, es wirklich nur in freundschaftlichstem Sinne. Nehmen Sie es nicht so, als ob ich irgendwie nach der einen oder nach der anderen Seite hin etwas Abträgliches sagen möchte. Aber ich bin einmal genötigt zu warnen, gründlich zu warnen gerade vor der sozialen Seite unserer Sache, ich meine, bevor diese soziale Seite unserer Sache Angelegenheit aller Mitglieder wird, die es werden soll, wirklich werden soll, gerade vorher dringend zu warnen: das Sektiererische, das Kleinliche, dasjenige, was keine großen Horizonte hat, nicht aus klarem Denken entspringt, nur ja nicht in dieses soziale Denken hineinzumischen, nur ja nicht, sondern da immer mehr zu versuchen, aus der Lebenserfahrung und aus der Lebenswirklichkeit heraus zu denken. Ich war ja hoch erstaunt, als vor kurzem einmal so an meine Ohren heranklang die Devise, die von der einen oder anderen Seite doch hier wohl ausgegangen sein muß, man solle die Dinge, die ich jetzt als soziale Ideen vortrage, praktisch ins Leben einführen. Und gemeint war die Überführung dieser praktischen Ideen in das Allerunpraktischste, was es nur geben kann. Wir dürfen wirklich nicht das tun, was gerade in die furchtbarsten Wirrnisse und Schäden der Zeit hineingeführt hat: verwechseln wahre Lebenspraxis mit illusorischer Lebenspraxis. Dasjenige, was da geäußert worden ist, ist so unpraktisch, ist so sektiererisch gedacht, hat so sehr nicht den Willen, wirklich ins praktische Leben einzutreten, daß ich gar nicht weiter darauf eingehen will. Ich bitte Sie, vor allen Dingen auf das zu sehen, was heute im wirklichen Leben vorgeht, kennenzulernen, woraus eigentlich die verschiedenen Sätze entspringen, die ich sage. Glauben Sie denn, das sei eine leichtherzige Theorie, wenn man über die Arbeitskraft mit dem Charakter der Ware redet? Das ist etwas, was nur gesagt werden darf, wenn man es immer wiederum als das Charakteristischste im wirklichen Leben erkannt hat. Und so die anderen Sachen. Klares, scharfes Verstehen der Lebenswirklichkeit ist es, worauf es heute ankommt. Also wirklich sine ira, mit der Bitte, ja nicht diese Dinge persönlich zu nehmen, möchte ich zum Beispiel folgendes sagen. Ich bin gefragt worden, ob denn nicht innerhalb unserer Gesellschaft die Dreigliederung verwirklicht werden könnte: Wirtschaftsleben, Rechtsleben, geistiges Leben.
Man kann gewiß so etwas mit Worten aussprechen, wenn man sehr gut drinnensteht in unserer Bewegung, wenn man es ganz ehrlich und tief meint mit unserer Bewegung. Aber es ist doch so, als ob man den Grundnerv unserer Bewegung gar nicht erfaßt hätte, wenn man dieses sagt. Man hat gar nichts verstanden von dem, was ich über die soziale Frage gesprochen habe, wenn man denkt, unsere Gesellschaft hier könne man wie eine Sekte dreigliedern! Welches sind denn die drei Zweige des gesunden sozialen Organismus? Zunächst das Wirtschaftsleben.
Ja, meine lieben Freunde, wollen Sie denn das Allerschlimmste machen, wirtschaftliche Sektiererei treiben, indem Sie in dieser Gesellschaft eine gemeinschaftliche Wirtschaft führen innerhalb der anderen Wirtschaft draußen? Wollen Sie denn gar nicht verstehen, daß man sich heute nicht in egoistischer, wenn auch gruppenegoistischer Weise abschließen kann und das andere alles unberücksichtigt lassen! Sie wirtschaften doch mit der anderen Wirtschaft des hiesigen Territoriums. Sie beziehen doch Ihre Milch, Käse, Gemüse, dasjenige, was Sie brauchen, von einem Wirtschaftskörper, von dem Sie sich doch nicht isolieren können! Sie können doch wahrhaftig die Zeit nicht reformieren dadurch, daß Sie sich aus dieser Zeit herauslösen. Mir kommt es vor, wenn jemand eine solche Gesellschaft wie diese, zu einem Wirtschaftskörper machen will, geradeso wie wenn einer eine große Familie hat und sagt: Ich beginne jetzt in meiner Familie die Dreigliederung.
Diese Ideen sind zu ernst, zu umfassend, sie dürfen nicht in das Kleinlich-Bourgeoise der verschiedenen Sektierereien, die es immer gegeben hat, hineingezerrt werden. Sie müssen im Zusammenhang mit der ganzen Menschheit gedacht werden. Das mit Bezug auf das Wirtschaftsleben. Sie würden sich ja ganz abschließen vom wirklichen praktischen Denken mit Bezug auf den Wirtschaftskreislauf der Welt, wenn Sie eine gruppenegoistische Wirtschaft für eine Sekte einrichten wollen.
Und das Rechtsleben: Gründen Sie einmal innerhalb unserer Gesellschaft den Rechtsstaat! Wenn Sie etwas stehlen, wird es ganz und gar bedeutungslos sein, wenn hier drei Leute zusammentreten und urteilen über dieses Stehlen. Es wird das äußere Gericht Sie schon in Anspruch nehmen und urteilen. In bezug auf den Rechtsstaat werden Sie sich aus der äußeren Organisation wahrhaftig nicht herausziehen können.
Und nun, meine lieben Freunde, in bezug auf das Geistesleben: Seit es eine Anthroposophische Gesellschaft gibt, beziehungsweise seit sie mit ihrem anthroposophischen Inhalt zur Theosophischen Gesellschaft gehört hat, wo war irgend etwas, was hier innerhalb dieser geistigen Gemeinschaft getrieben wird, im geringsten Grade abhängig von irgendeiner staatlichen oder politischen Organisation? Vom ersten Tage dieser Gesellschaft an war mit Bezug auf das Geistesleben, das vor allen Dingen unsere Aufgabe ist, unser Ideal erfüllt! Verstehen Sie nicht, daß von Anfang an dieses Ideal erfüllt ist mit Bezug auf dasjenige, was wir gerade sind? Glauben Sie, daß das heute erst gemacht werden sollte mit dieser Anthroposophischen Gesellschaft? Hat diese Anthroposophische Gesellschaft in irgendeinem Staate je eine Staatssubvention gehabt? Sind ihre Lehrer von einem Staate angestellt? Ist nicht alles erfüllt gerade in dieser Anthroposophischen Gesellschaft, was nur zu erlangen ist von den äußeren Geistesorganisationen? Ist sie nicht in bezug darauf geradezu das praktischste Ideal? Wollen Sie jetzt kommen und diese Anthroposophische Gesellschaft nach dieser Richtung hin noch reformieren? Sie müssen ja gar nicht begriffen haben, in welcher Gesellschaft Sie seit so und so viel Jahren sind, wenn Sie jetzt erst das geistige Drittel hier in dieser Gesellschaft realisieren wollen.
Betrachten Sie also gerade das, was wir sein konnten, was man noch retten konnte an einem Zipfel, die Freiheit des geistigen Forschens und Lehrens wenigstens bei Menschen, die für das, was sie hier lernten, keine Staatsanstellungen verlangen, betrachten Sie das doch wenigstens als eine Art von Ausgangspunkt für das andere. Sehen Sie doch, was wirklich ist, und denken Sie nicht daran vorbei. In meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage» wird als ein Erbübel der gegenwartigen Zeit immer wieder angeführt, daß eben die sogenannten Lebenspraktiker von heute vorbeidenken und vorbeisprechen an demjenigen, worauf es ankommt. Soll bei uns dieses Übel grassieren, daß vorbeigesprochen wird an demjenigen, worauf es ankommt? Nicht das kann unsere Aufgabe sein, hier das freie Geistesleben hereinzutragen, sondern das kann die Aufgabe sein, daß Sie dasjenige, was hier als freies Geistesleben immer existiert hat, daß Sie das in die andere Welt hinaustragen, den Menschen klarmachen, daß alles Geistesleben von dieser Art sein muß, von dieser Art von Verfassung sein muß.
Worauf es ankommt, das ist, wenigstens zunächst die nächste Wirklichkeit zu sehen. In dieser Richtung muß zunächst von den Anthroposophen verstanden werden, was von mir über die soziale Frage vorgebracht wird. Man soll wenigstens innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft vermeiden, schrullenhafte Ideen zu verbreiten unter der Devise, das praktisch machen zu wollen, was hier vertreten wird. Nehmen Sie ernst, was wie ein Grundzug durch die Vorträge der letzten Wochen, ja vielleicht der letzten Monate durchgegangen ist, nehmen Sie vor allem ganz und gar ernst, daß die Gegenwart eine Neueinstellung der Menschen mit Bezug auf das Leben notwendig macht, daß es nicht getan ist damit, daß wir nur neue Gedanken aufnehmen, sondern daß wir die Möglichkeit finden, uns in einer neuen Weise dem Leben gegenüber einzustellen, daß wir alles vermeiden, was nach Isolierung und Abschluß hindrängt. Nehmen Sie vor allen Dingen ernst, daß die Menschheit mit ihrer sogenannten Kultur auf allen drei Gebieten in eine wirkliche Sackgasse hineingeraten ist [...]
Wenn heute einer davon spricht, es solle das Wirtschaftsleben in der Anthroposophischen Gesellschaft eingeführt werden, so würde ich mir höchstens unter diesem Satze etwas Reales vorstellen können, wenn einer eine Kuh kaufte, und sie pflegte und sie melken würde, und dadurch etwas produzieren würde und dieses Produzierte in der richtigen Weise verwalten würde; dann wäre das keine Sektiererei innerhalb unserer Gesellschaft, denn im Wirtschaftsleben handelt es sich vor allen Dingen um diejenigen Maßnahmen, die die Produktivität erhöhen, die den notwendigen Bedürfnissen Rechnung tragen [...] Mit Bezug auf diese äußeren Dinge, die dem Produzieren zugrunde liegen, und mit Bezug auf manches andere, werden Sie nicht weit kommen, wenn Sie die Ideen, die in meinem Buche über die soziale Frage stehen, nicht im großen Stile auffassen. Denn schließlich, zur Reform des wirtschaftlichen Lebens gehört wirtschaftliche Praxis; sogar Kühe melken muß man verstehen, und es ist wichtiger, Kühe melken zu können, als in einer kleinen Sekte irgendeine Wirtschaft einzurichten und die Milch natürlich doch von außen zu beziehen [ ... ] Sie können nicht von heute auf morgen gleich Einrichtungen treffen mit den neuen Ideen, Sie können aber diese Ideen, die in meinem Buche stehen, weil sie praktisch sind, bis zu den extremsten Spezialitäten herunter differenzieren. Sie können meinetwillen eine Meierei einrichten in dem Sinne, wie es in diesem Buche gemeint ist, aber wenn Sie nicht eine einzige Meierei bloß einrichten, wo Sie selbst Ihre Kühe melken drinnen, was ja nicht viel soziale Wirkung haben wird, die eine, einzige Meierei, wenn die anderen alle in dem alten Stile sind, wenn Sie nicht eine einzige einrichten, sondern wenn Sie verschiedene einrichten, so brauchen Sie ja doch Leute dazu. In deren Köpfen sind aber die alten Ideen. Diese Einrichtungen werden bald entweder verkrachen oder die alten Formen annehmen, und alles ist beim alten. Daraus sehen Sie, was heute das Wichtigste ist.