Schweizerische Demokratie ersetzt Dreigliederung nicht

Quelle: GA 190, S. 222-223, 2. Ausgabe 1971, 14.04.1919, Dornach

Man kann schon von der einen oder anderen Seite her hören: Was will denn der Fremde gerade hier in der Schweiz? Er soll uns in Ruhe lassen! Unsere Demokratie besteht sechshundert Jahre, die ist gesund, sie ist gefeit gegen das, was da draußen unter den verruchten östlichen und mitteleuropäischen Völkern vorgeht. Ich habe nun die Überzeugung, daß heute das Beste getan werden könnte da, wo es aus freiem Willen noch geschehen könnte. Wenn heute solche sozialen Ideen, wie sie in meinem Buche verzeichnet sind, in Rußland aufblühen würden, so geschähe es, weil die äußerste Not dazu zwingt; und wenn die äußerste Not dazu drängt - ebenso in Mitteleuropa, ebenso in Deutschland -, so ist der rechte Impuls nicht mehr da. Der rechte Impuls gerade für diese Ideen, die der Menschheit soziales Heil bringen wollen, wäre da, wo sie aus Freiheit heraus geschehen würden auf einem Boden, von dem man sagen kann: zu uns sind nicht die Bolschewisten gekommen, wir haben noch etwas von den alten Zuständen. Oh, wenn gerade auf diesem Boden hier, bevor auch hier den Leuten das Wasser in den Mund rinnt, Verständnis entwickelt würde dafür, aus freiem Willen heraus diese Ideen zu entwickeln, dann würde die Schweiz das Blütenland Europas werden können; denn durch ihre geographische Lage ist sie dazu ausgerüstet! Sie ist ausgerüstet mit einer riesigen Mission, trotz ihrer Kleinheit. Aber diese Mission wird sie nur erfüllen können, wenn sie aus freiem Willen das vollbringt, was weder die Ost- und Mittelstaaten heute mehr aus freiem Willen vollbringen können - da hätten sie früher angreifen müssen -, und was die Weststaaten nicht tun werden, weil sie dazu nicht die genügende Anlage haben.. Hier wären Anlagen, hier wäre geographische Voraussetzung, hier wäre alles vorhanden! Hier ist nur notwendig: der gute Wille zum freien menschlichen Entschluß. Dazu gehört eben, gerade Aktivität des Denkens. Dazu gehört Denkwille. Denkwille ist das, was der heutigen Menschheit am meisten fehlt. Denkwille entwickelt sich auch geographisch sehr gut unter denjenigen Menschen - gestern machte ich darauf aufmerksam: auf die Rassen geben die Seelen nicht mehr viel, sie gehen nach der geographischen Lage -, zu denen die Seelen deshalb kommen, weil sie in die Gebirge hinein wollen.

Denkwille entwickelt sich nicht in solchen Gegenden, in denen man «Die drei Zigeuner» dichtet. Das ist ein sehr schönes Gedicht, aber es ist gedichtet in der Ebene. Heute braucht der Mensch nicht Ebenengesinnung, heute braucht der Mensch schon Gebirgsgesinnung. Deshalb könnte aus den schweizerischen Bergen vieles herauskommen, deshalb möchte man hier auch gewisse Grundlagen, einen Ausgangspunkt für etwas haben. Und deshalb scheint es mir wichtig, gerade hier nicht zu schweigen, sondern von den großen Bedürfnissen der Zeit zu reden, solange man kann. Und unsere Freunde hier in der Schweiz rufe ich besonders auf, die Forderung nach der Aufklärung zu verstehen, dafür zu sorgen, daß die Forderungen der Zeit in das Bewußtsein gerade der hiesigen Bewohner übergehen. Je mehr Schweizerköpfe und Schweizerherzen gerade für diese sozialen Ideen gewonnen werden, desto besser wird es für Europa und die Welt sein. Das sage ich insbesondere auch zu den Schweizern. Sie können ja, meine lieben Schweizer unter uns, das Fremde zu einem Schweizerischen machen, dann ist es ein Schweizerisches! Alle diese Unterscheidungen haben ja doch nur einen ephemeren Wert.