Demokratie statt Begabung und Erfahrung

Quelle: GA 190, S. 135-143, 2. Ausgabe 1971, 06.04.1919, Dornach

Wenn man das menschliche Leben in seiner inneren Entwickelung ganz nimmt, so zerfällt es eigentlich in drei Teile. Der eine umfaßt dasjenige, was wir als unsere Begabungen, unsere Talente, unsere Fähigkeiten empfinden. Der zweite Teil umfaßt alles dasjenige, was wir im Verkehr mit unseren Mitmenschen, durch die Wechselwirkung unseres Bewußtseins mit dem Bewußtsein anderer Menschen entwickeln. Und das dritte Gebiet umfaßt unsere Erfahrung. Unsere Zeit verhält sich zu diesen drei Teilen der Menschennatur sehr, sehr einseitig, berücksichtigt eigentlich nur den mittleren Teil. Gewiß, es wird ja heute von gewissen Seiten her viel gejammert über das Verkennen begabter Menschen, aber es sind zumeist die begabten Menschen selber, die so jammern. Die hingebungsvolle Art, Begabungen zu pflegen, die kommt ja immer mehr und mehr ab. Ebenso kommt aber eigentlich die Schätzung der menschlichen Erfahrung ab. Der Mensch ist sich heute nicht mehr bewußt - ich habe das öfters ausgeführt -, daß man nicht bloß älter wird, sondern daß man im Älterwerden Erfahrung ansammelt, daß man im Älterwerden klüger, weiser wird. Dieses Gefühl für die menschliche Entwickelung, das kommt auch den Menschen immer mehr und mehr abhanden. Die Menschen wollen heute, nachdem sie ein gewisses Alter erreicht haben, alle gleich weise sein, über alles in gleicher Weise mitreden, und nach der Ansicht vieler soll sich in dieses Mitreden weder die Begabung hineinmischen, noch die durch das Leben errungene Erfahrung. Darauf beruht im Grunde genommen unsere ganze demokratische Weltanschauung, die immer dazu neigen wird, sich selbst ihr Grab zu schaufeln: daß der Mensch, nachdem er ein gewisses Alter erreicht hat, im Verein mit seinen Mitmenschen über Gott und über die Welt und über noch drei Dörfer, über alles mögliche Entscheidungen treffen kann.

Dasjenige aber, was der Mensch in Verein mit seinen Mitmenschen durch die Wechselwirkung von Bewußtsein zu Bewußtsein entwickelt, das gehört nur dem einen Gebiete des sozialen Lebens, dem Staatsleben an. Der Staat ist allerdings der Götze geworden, gerade aus dem Grunde, weil man nur dasjenige gelten lassen will, was auf die eben angedeutete Weise unter den Menschen pulsiert. Die beiden anderen Gebiete will man nicht als selbständige soziale Organisationen gelten lassen, weil ja in der geistigen Organisation die besondere Pflege der individuellen Fähigkeiten da sein würde. Und in der wirtschaftlichen Organisation würde vor allen Dingen das wirklich ganz durch innere Kräfte zur Geltung kommen, was man die Erfahrung nennt. Im Lebenswirtschaften wird man eigentlich nur gescheiter, wobei ich natürlich unter Lebenswirtschaften nicht bloß Kühe melken und Kohl kochen verstehe, sondern das Lebenswirtschaften im weitesten Kreise. Zum Wirtschaften gehört auch Geistiges, insofern geistige Leistungen einen bestimmten Warenwert haben, und den müssen sie ja haben, sonst würde man von geistigen Leistungen niemals leben können. Sie haben natürlich auch auf anderem Gebiete einen Wert, aber sie haben Warenwert. Gerade aus diesem Wirtschaften, zu dem also das Erzeugen von geistigen Werten gehört, insofern diese Werte Warenwerte sind, ergibt sich die Erfahrung. Nun weiß man heute außer dem Gebiete der Geisteswissenschaft eigentlich gar nicht zu unterscheiden zwischen diesen drei Gebieten der menschlichen Natur. Unsere gewöhnlichen Begabungen, durch die wir entweder in dem einen oder in dem anderen geistigen Zweige begabt sind, oder durch die wir für das eine oder andere geschickt sind, denn auch körperliche Geschicklichkeiten gehören zu den individuellen Begabungen, alle diese Dinge gehören eigentlich, so wie der Mensch heute ist, nicht ganz der individuellen Menschennatur an. Im Grunde genommen, so paradox Ihnen das klingt, je genialer heute ein Mensch ist, desto weniger ist er eigentlich ein individueller Mensch. Denn unsere Begabungen, unsere individuellen Fähigkeiten, sie werden erzeugt durch eine Wechselwirkung des Kosmos vor unserer Geburt beziehungsweise vor unserer Empfängnis, mit den Kräften der Vererbung durch viele Generationen hindurch. Das habe ich einmal dargestellt, wie das ist. Unsere genialen Begabungen und überhaupt unsere individuellen, Fähigkeiten sind alle vom Kopf abhängig.

Worinnen auch die besondere Begabung eines Menschen bestehen mag, mag sie auch scheinbar zusammenhängen mit besonderen Muskelausbildungen, diese besonderen Begabungen haben doch im Kopfe ihren Ursprung, auch insoferne sich diese Begabungen in der Menschenstatur und dergleichen ausdrücken. Ob einer ein Riese ist, der Bäume zerbrechen kann, dickstämmige Bäume, oder ob einer ein kleiner Knirps ist, davon hängt doch seine individuelle Fähigkeit in vieler Beziehung ab. Das hat alles im Kopfe den Ursprung. Was am Menschen gewissermaßen eingeboren ist an individuellen Fähigkeiten, das hat alles aus dem Kopfe den Ursprung.

Was der Mensch im Verhältnis zum Menschen wirkt, das hat eben im Wechselverkehr, in dem Leben zwischen der Geburt und dem Tode den Ursprung, wie die Sprache, so alle sozialen Elemente in dem Menschenleben. Aber mit den Erfahrungen, die wir durchmachen, da betreten wir ein viel, viel schwierigeres Kapitel, als die meisten Menschen sich heute vorstellen, denn die Menschen heute werden sehr selten erfahrene Menschen, weil sie die Erfahrung nicht an sich herankommen lassen. Die meisten Menschen haben gegenwärtig sogar ein gewisses Geniertsein vor dem Erfahrenwerden. Wenn sie gestehen sollten, die Menschen, daß sie über etwas anders urteilen als vor zehn Jahren, sind sie beschämt, obwohl sie nicht beschämt sein sollten, daß sie seit zehn Jahren gescheiter geworden sind, aber sie sind doch beschämt. Die Anwendung des Lebens, um weiser zu werden, das ist kein Ideal des heutigen Menschen. Der Mensch verschleudert heute zum großen Teil sein Leben mit Bezug auf das Erfahrenerwerden. Aber in diesem Erfahrenerwerden drückt sich das Individuelle aus. Sie können ein Kapitalgenie sein: das, was Sie durch Ihr Kapitalgenie hervorbringen, dazu wird nur in sehr geringer Weise mitwirken, was Sie durchgemacht haben in Ihren früheren Inkarnationen. Diese früheren Inkarnationen sind meistens höchst unschuldig an dem eigentlichen Genie-Sein, denn das ist etwas, was bewirkt wird durch eine Wechselwirkung des Kosmos mit den Kräften der Vererbung durch Generationen hindurch. Die Genies, werden der Menschheit gegeben, werden wahrhaftig nicht vom Himmel fallengelassen, damit sie sich selbst befriedigen. Aber dasjenige, was wir uns erwerben, indem wir von Jahr zu Jahr gescheiter werden, bis in unsere alten Tage hinein, davor genieren sich ganz besonders heute die Leute. Daß wir von Jahr zu Jahr gescheiter werden, daß wir die Erfahrungen des Lebens hinnehmen zum Weiserwerden, das hängt mit unseren Inkarnationen zusammen.

[...] Ich frage Sie: Ist es nicht eine ernste Aufgabe für die Zukunft, daran zu denken, das Geistesleben, das uns befähigt, Lebenserfahrungen zu machen auch über den Geist, wirklich zu trennen von demjenigen, was niemals intime Lebenserfahrungen geben könnte, von dem demokratischen Staatsleben? Glauben Sie, daß jemals irgend etwas aufkommen könnte an der theologischen oder juristischen oder philosophischen oder medizinischen oder staatswissenschaftlichen oder naturwissenschaftlichen Fakultät - ich glaube, diese Fakultäten gibt es heute schon alle -, was zum Beispiel darauf aufmerksam machen könnte: In dieser gefährlichen Zeit nach dem siebenundzwanzigsten bis zum fünfunddreißigsten Jahre, da kann den Menschen innerlich Verödung ankommen, in einem extremen Fall so, daß die Seele sogar herausfahren kann, so daß der Mensch später eigentlich nur noch scheinbar lebt, indem er besessen ist von irgendeiner ahrimanischen Natur. Die Kompliziertheit des modernen Lebens fordert, daß das Geistesleben wirklich hineinmünden kann in das Geistige. Die Fragen, die die wichtigsten sind, lassen sich heute nicht an der Oberfläche des Lebens anfassen. Und wie sollte die bloße staatliche Demokratie, die auf dem Gebiete des Staatslebens ganz berechtigt ist, es möglich machen, was nun kommen muß über die Menschheit, daß in der Zukunft Menschen auftreten, die immer notwendiger und notwendiger sein werden, die dasjenige, was sie über das Leben zu sagen haben, ganz und gar als geistige Botschaft aus der geistigen Welt bringen. Würde das nicht möglich sein, daß in die Zukunft der Menschheit hinein geistige Botschaft aus der geistigen Welt getragen werde, dann würde die Erdenentwickelung keineswegs ihr Ziel erreichen können. Aber die Möglichkeit des Auftretens eines solchen Geisteslebens hängt an der Freiheit des Geisteslebens, hängt daran, daß wirklich das Geistesleben emanzipiert vom Staate und auf sich selbst gestellt wird. Sonst wird sich immer wieder vollziehen, was einmal irgendwo, weit von hier, geschehen ist: An einer Hochschule, wo immer nur Menschen lehrten, die nichts Besonderes zu sagen hatten, machten sich in der demokratischen Versammlung Rufe laut, es sollten «Kapazitäten» berufen werden. Aber die Demokraten stießen mit ihren Stöcken auf den Erdboden: Wir wollen keine Kapazitäten, wir wollen mittlere Lüt! Mittlere Lüt!