Österreich als Staat an Nationalitäten gescheitert

Quelle: GA 023, S. 147-149, 6. Ausgabe 1976, 24.03.1919, Stuttgart

Das österreichisch-ungarische Staatsgebilde drängte seit mehr als einem halben Jahrhundert nach einer Neugestaltung. Sein geistiges Leben, das in einer Vielheit von Völkergemeinschaften wurzelte, verlangte nach einer Form, für deren Entwickelung der aus veralteten Impulsen gebildete Einheitsstaat ein Hemmnis war. Der serbisch-österreichische Konflikt, der am Ausgangspunkte der Weltkriegskatastrophe steht, ist das vollgültigste Zeugnis dafür, daß die politischen Grenzen dieses Einheitsstaates von einem gewissen Zeitpunkte an keine Kulturgrenzen sein durften für das Völkerleben. Wäre eine Möglichkeit vorhanden gewesen, daß das auf sich selbst gestellte, von dem politischen Staate und seinen Grenzen unabhängige Geistesleben sich über diese Grenzen hinüber in einer Art hätte entwickeln können, die mit den Zielen der Völker im Einklange gewesen wäre, dann hätte der im Geistesleben verwurzelte Konflikt sich nicht in einer politischen Katastrophe entladen müssen. Eine dahin zielende Entwickelung erschien allen, die in Österreich-Ungarn sich einbildeten, «staatsmännisch» zu denken, als eine volle Unmöglichkeit, wohl gar als der reine Unsinn. Deren Denkgewohnheiten ließen nichts anderes zu als die Vorstellung, daß die Staatsgrenzen mit den Grenzen der nationalen Gemeinsamkeiten zusammenfallen. Verstehen, daß über die Staatsgrenzen hinweg sich geistige Organisationen bilden können, die das Schulwesen, die andere Zweige des Geisteslebens umfassen, das war diesen Denkgewohnheiten zuwider. Und dennoch: dieses «Undenkbare» ist die Forderung der neueren Zeit für das internationale Leben. Der praktisch Denkende darf nicht an dem scheinbar Unmöglichen hängen bleiben und glauben, daß Einrichtungen im Sinne dieser Forderung auf unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen; sondern er muß sein Bestreben gerade darauf richten, diese Schwierigkeiten zu überwinden. Statt das «staatsmännische» Denken in eine Richtung zu bringen, welche den neuzeitlichen Forderungen entsprochen hätte, war man bestrebt, Einrichtungen zu bilden, welche den Einheitsstaat gegen diese Forderungen aufrechterhalten sollten.

Dieser Staat wurde dadurch immer mehr zu einem unmöglichen Gebilde. Und im zweiten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts stand er davor, für seine Selbsterhaltung in der alten Form nichts mehr tun zu können und die Auflösung zu erwarten, oder das innerlich Unmögliche äußerlich durch die Gewalt aufrechtzuerhalten, die sich auf die Maßnahmen des Krieges begründen ließ. Es gab 1914 für die österreichisch-ungarischen «Staatsmänner» nichts anderes als dieses: Entweder sie mußten ihre Intentionen in die Richtung der Lebensbedingungen des gesunden sozialen Organismus lenken und dies der Welt als ihren Willen, der ein neues Vertrauen hätte erwecken können, mitteilen, oder sie mußten einen Krieg entfesseln zur Aufrechterhaltung des Alten. Nur wer aus diesen Untergründen heraus beurteilt, was 1914 geschehen ist, wird über die Schuldfrage gerecht denken können. Durch die Teilnahme vieler Völkerschaften an dem österreichisch-ungarischen Staatsgebilde wäre diesem die weltgeschichtliche Aufgabe gestellt gewesen, den gesunden sozialen Organismus vor allem zu entwickeln. Man hat diese Aufgabe nicht erkannt. Diese Sünde wider den Geist des weltgeschichtlichen Werdens hat Österreich-Ungarn in den Krieg getrieben.