Staaten gliedern statt zu einem Staat machen

Quelle: GA 190, S. 045, 2. Ausgabe 1971, 22.03.1919, Dornach

Man muß sich auf der anderen Seite allerdings auch wiederum klar sein darüber, wie gründlich heute die Menschen in Vorurteilen gegen solches Umdenken und Umlernen drinnenstehen. Wenn man die Frage immer wieder und wiederum aufwerfen möchte: Warum wird so großer Widerstand der Geisteswissenschaft entgegengesetzt? - so ist es ja wahrhaftig nicht die Schwierigkeit des Begreifens, das haben wir öfter betont, sondern es ist lediglich die Unfähigkeit der Menschen, den Entschluß zu fassen, ihre Denkgewohnheiten anders einzurichten, als sich diese Denkgewohnheiten in den letzten Jahrzehnten, ja Jahrhunderten allmählich geformt haben. Es ist den Menschen eben viel bequemer, im geraden Geleise fortzuwursteln. Was Wunder daher, daß gegenwärtig die Menschen auch wieder daran denken, wie in Bern der Ausdruck geprägt worden ist, einen «Überstaat» zu gründen, den Völkerbund mit einem Überparlamente. Nicht wahr, die alten Staaten haben ja so Günstiges gewirkt, haben gezeigt, was sie zustande bringen können in den letzten viereinhalb Jahren! Nun, «Überstaaten», «Überparlamente» begründen, das ist so recht ein Zeichen dafür, daß die Menschen nicht herausschlüpfen mögen aus den alten Denknetzen, daß sie drinnenbleiben möchten in diesen alten Denknetzen. Während man den einzelnen Staat zerklüften muß in seine drei Glieder, wollen die Menschen da Gegenteil. Sie wollen die ganze Erde - mit Ausnahme derjenigen, die man zunächst jetzt ausschließt - zu einem einzigen großen Staat zusammenschweißen. Sie wollen das Gegenteil von dem, was in den Entwickelungskräften der Zeit begründet ist. Deshalb sollte gerade derjenige, der im Geisteswissenschaftlichen drinnensteht, wirklich einsehen und es auch überführen in sein Wollen, daß ein starkes Anstürmen notwendig ist gegen dasjenige, was heute noch in der ganz entgegengesetzten Richtung geht.