Kapital und individuelle Fähigkeiten

Quelle: GA 329, S. 020-021, 1. Ausgabe 1985, 11.03.1919, Bern

Das Kapital, die kapitalistische Verwaltung des Wirtschaftslebens, muß man, will man sie ganz klar durchschauen, ganz entschieden trennen von dem, womit sie heute verbunden ist. Zwei Dinge sind heute mit dem verbunden, was man Kapitalismus nennt: das eine weist auf etwas hin, was von dem Kapitalismus gar nicht ablösbar ist; das andere ist etwas, das von ihm Abstand nehmen muß. Man mengt heute in eines zusammen wirtschaftliche Betriebe auf Grundlage des Kapitals, und privaten Besitz von Kapital. Die Frage muß aber gestellt werden: Sind diese beiden Dinge voneinander lösbar? Denn die private Verwaltung der wirtschaftlichen Betriebe, die aufgebaut ist auf die größere oder geringere Intensität individueller menschlicher Fähigkeiten, diese private Verwaltung, die zu ihrer Betätigung eines Hilfsmittels, des Kapitals, bedarf, die kann nicht aufgehoben werden. Wer irgendwie sich unbefangen bemüht zu fragen, unter welchen Verhältnissen der soziale Organismus lebensfähig ist, wird immer darauf kommen, sich sagen zu müssen: Dieser soziale Organismus ist nicht lebensfähig, wenn ihm seine wichtigste Quelle entzogen wird, nämlich dasjenige, was in ihn hineinfließt durch die individuellen Fähigkeiten, die sich in verschiedenen Maßstäben der eine oder der andere Mensch aneignen kann. Was in der Richtung des Kapitals arbeitet, das muß auch in der Richtung der individuellen menschlichen Fähigkeiten arbeiten. Das weist darauf hin, daß in keinerlei Art im Zukunftsstaat trennbar sein kann die notwendige Beigabe zum sozialen Leben, die von Seiten der individuellen menschlichen Fähigkeiten kommt, von seinem Mittel, dem Kapital.

Etwas anderes aber ist der private Besitz an Kapital, ist das Eigentum an Privatkapital. Dieses Eigentum an Privatkapital, das hat eine andere gesellschaftliche Funktion als die Verwaltung der Betriebe, zu denen Kapital notwendig ist, durch die individuellen menschlichen Fähigkeiten. Dadurch, daß jemand, wodurch auch immer, Privatkapital erwirbt oder erworben hat, dadurch kommt er zu einer gewissen Macht über andere Menschen. Diese Macht, die zumeist eine wirtschaftliche Macht sein wird, kann auf keine andere Weise geregelt werden als dadurch, daß sie in Zusammenhang gebracht wird mit den Rechtsverhältnissen des sozialen Organismus. Dasjenige, was dem sozialen Organismus wirklich fruchtbare Kräfte zuführt, das ist die Arbeit, die die individuellen Fähigkeiten durch das Kapital leisten. Dasjenige aber, was den sozialen Organismus schädigt, das ist, wenn Menschen, die selber durch ihre individuellen Fähigkeiten eine solche Arbeit nicht leisten können, dennoch durch irgendwelche Verhältnisse in dauerndem Besitze von Kapital sind. Denn solche haben wirtschaftliche Macht. Was heißt es denn: Kapital haben? - Kapital haben heißt: eine Anzahl von Menschen nach seinen Intentionen arbeiten zu lassen, Macht haben über die Arbeit einer Anzahl von Menschen.

Die Gesundung kann nur dadurch herbeigeführt werden, daß alles, was mit dem Mittel des Kapitals erarbeitet werden muß im sozialen Organismus, nicht abgetrennt wird von der menschlichen Persönlichkeit mit ihren individuellen Fähigkeiten, die dahinter stehen. Gerade aber durch den Besitz des Kapitals auf seiten solcher Personen, welche nicht ihre individuellen Fähigkeiten in die Verwendung des Kapitals hineinlegen, gerade dadurch wird immer wieder und wiederum im sozialen Organismus losgelöst das Fruchtbare der Kapitalwirkung von demjenigen, was Kapital im allgemeinen ist, und was auch sehr, sehr schädliche Folgen für das soziale Zusammenleben der Menschen haben kann. Das heißt, wir stehen im gegenwärtigen, geschichtlichen Augenblicke der Menschheit vor der Notwendigkeit, daß abgetrennt werden muß der Besitz des Kapitals von der Verwaltung des Kapitals.