Keine Verstaatlichung, sondern Entfernung des Rechts

Quelle: GA 328, S. 149-153, 1. Ausgabe 1977, 03.08.1919, Zürich

Man muss einsehen, dass, wenn der Mensch im Wirtschaftsorganismus sich betätigt, er dann innerhalb dieses Wirtschaftsprozesses bloß wirtschaften muss. Dann handelt es sich darum, dass die Verwaltung, die Gesetzgebung dieses Wirtschaftsprozesses darauf ausgeht, die gegenseitige Bewertung der Ware in der wirtschaftlichen Wirklichkeit auf den Weg zu bringen, in der zweckmäßigsten Weise die Warenzirkulation einzuleiten, die Warenproduktion einzuleiten, die Warenkonsumtion einzuleiten. Aus diesem bloßen Wirtschaftsprozesse muss aber herausgeholt werden alles dasjenige, was sich nun bezieht nicht auf die Befriedigung des Bedürfnisses des einen Menschen mit dem anderen, sondern was sich bezieht auf das Verhältnis eines jeden Menschen zu jedem anderen Menschen. Dasjenige, worinnen alle Menschen gleich sein müssen, ist etwas radikal Verschiedenes von demjenigen, was sich im Wirtschaftsleben allein entwickeln kann. Daher ist notwendig zur Gesundung des sozialen Organismus, dass herausgeholt werde aus dem bloßen Wirtschaftsleben das Rechtsleben, das eigentliche Rechtsleben. Dieser Entwickelung hat eben gerade die neuere Zeit entgegengestrebt.

Die bisher führenden Klassen - was haben sie getan? Auf denjenigen Gebieten, auf denen es ihnen bequem war, auf denen es ihnen für ihre Interessen richtig erschien, da haben sie die alte Verschmelzung, die ja schon gewiss auf vielen Gebieten bestanden hat zwischen dem Wirtschaftsleben und dem politischen Staatsleben, weiter durchgeführt. Und so sehen wir, dass in dieser neueren Zeit, gerade unter dem Einflusse der leitenden Kreise der Menschheit, heraufkommt die sogenannte Verstaatlichung für gewisse Wirtschaftszweige. Post-, Telegraphenwesen und ähnliches zu verstaatlichen ist ja gefunden worden als im modernen Fortschritt gelegen und von diesem modernen Fortschritt verlangt.

In gerade entgegengesetzter Richtung muss derjenige denken, der nun nicht auf die Interessen der bisher führenden Kreise sieht, sondern der frägt: Welches sind die Grundlagen eines gesunden sozialen Organismus? - Der muss anstreben, dass immer mehr und mehr gelöst werde aus dem bloßen Wirtschaftsleben das Leben des eigentlich politischen Staates, desjenigen Staates, der zu sorgen hat für Recht und für Ordnung; der zu sorgen hat vor allen Dingen aber dafür, dass von diesem Gebiete aus in das Wirtschaftsleben das entsprechende Rechtsleben hineinfließt. Derjenige unterscheidet im menschlichen Leben nicht richtig, der kein Auge, kein geistiges Auge dafür hat, wie radikal verschieden Wirtschaftsleben und das Leben des eigentlichen politischen Staates ist.

Sehen wir einmal die Dinge an, wie sie sich heute entwickelt haben. Gewisse Menschen sprechen aus dem heutigen sozialen Zustand heraus so, sie sagen, innerhalb dieses sozialen Zustandes haben wir als erstes:

Tausch von Waren gegen Waren. - Gut, das muss sein im Wirtschaftsleben. Davon ist ja gerade eben gesprochen worden. Dann haben wir als zweites, sagen sie und sie sehen das als berechtigt an: Tausch von Waren, beziehungsweise des Repräsentanten von Ware, des Geldes, gegen Arbeitskraft. Und als drittes: Tausch von Waren gegen Rechte.

Was ist das letztere? Über das zweite habe ich ja schon gesprochen. Nun, wir brauchen nur hinzusehen auf das Grundbesitzerverhältnis in der modernen Wirtschaftsordnung, und uns wird sogleich klar werden, was klar sein sollte auf diesem Gebiete für die Zukunft. Wie man sonst auch über das Besitzverhältnis in bezug auf Grund und Boden denken mag - alles andere hat für den realen Vorgang im sozialen Organismus nicht eigentlich eine Bedeutung; eine Bedeutung hat lediglich das, dass der Besitzer von Grund und Boden das Recht hat, ein Stück Grund und Boden allein zu benützen und bei dieser Benützung sein persönliches Interesse geltend zu machen.

Das hat nicht das geringste in seinem Ursprunge mit dem Wirtschaftsprozesse als solchem zu tun. Mit dem Wirtschaftsprozesse hat einzig und allein - dagegen kann nur eine verkehrte Nationalökonomie etwas einwenden - dasjenige zu tun, was auf dem Grund und Boden als Ware oder mit Warenwert erzeugt wird.

Dieses Recht allerdings verwandelt sich innerhalb der modernen kapitalistischen Wirtschaftsordnung, namentlich durch die Verquickung des Kapitalismus mit den Grundrenten, wiederum in eine Gewalt. Und so haben wir auf der einen Seite die Gewalt, welche ausschließt von solchen Rechten; auf der anderen Seite jene wirtschaftliche Gewalt, welche die menschliche Arbeitskraft zwingen kann, zur Ware zu werden.

Von beiden Seiten her wird nichts anderes, als eine Lebenslüge verwirklicht, wenn nicht angestrebt wird - angestrebt wird aus wirklicher sozialer Einsicht heraus - die Gliederung des sozialen Organismus in einen Wirtschaftsorganismus und in einen Organismus des im engeren Sinne politischen Staates.

Der Wirtschaftsorganismus wird begründet werden müssen auf assoziativer Grundlage, aus den Bedürfnissen der Konsumtion in ihrem Verhältnisse zur Produktion. Aus den verschiedenen Interessen der mannigfaltigsten Berufskreise werden die mannigfaltigsten Genossenschaften - man könnte sie mit einem alten Wort auch Bruderschaften der Menschheit nennen - entwickelt werden müssen, in denen verwaltet werden die Bedürfnisse und ihre Befriedigung.

Was sich innerhalb dieser Assoziationsgrundlage des wirtschaftlichen Organismus heraus bildet, das wird immer zu tun haben mit der Befriedigung des einen Kreises von Menschen durch einen anderen Kreis. Auf diesem Gebiete wird maßgebend sein müssen die sachverständige Verwertung erstens der Naturgrundlage, dann aber auch die sachverständige Ausgestaltung der Warenproduktion, -zirkulation und -konsumtion. Da wird geltend sein müssen das menschliche Bedürfnis, das menschliche Interesse.

Dem wird immer gegenüberstehen als etwas radikal Verschiedenes dasjenige, worinnen Mensch und Mensch wesentlich gleich sich gegenüberstehen, wo sie gleich sein müssen, wie man mit einem heute schon trivial gewordenen Worte sagt: Wo sie gleich sein müssen vor jenem Gesetze, das sie sich als gleiche Menschen selber geben.

Auf assoziativer Grundlage wird beruhen müssen der Kreislauf des Wirtschaftsprozesses; auf rein demokratischer Grundlage, auf dem Prinzip der Gleichheit aller Menschen in ihrem Verhältnis zueinander wird ruhen müssen im engeren Sinne die eigentliche politische Organisation. Aus dieser politischen Organisation wird entspringen etwas ganz anderes als die wirtschaftliche Gewalt, welche die Arbeitskraft zur Ware macht. Aus dem vom Wirtschaftsleben getrennten politischen Leben wird entspringen das wahre Arbeitsrecht, wo einzig und allein nach dem, was über Arbeitskraft zwischen Mensch und Mensch als Menschen verhandelt werden kann, Maß und Arbeit und anderes über die Arbeitskraft festgesetzt werden kann.

( ... )Man kann innerhalb gewisser Grenzen die technische Fruchtbarmachung des Bodens und dergleichen etwas verschieben, die festen Grenzen der Naturgrundlage etwas verschieben; allein diese Naturgrundlagen bestimmen das Wirtschaftsleben dennoch in ausgiebigstem Maße von der einen Seite her. Ebenso wie von dieser Seite her das Wirtschaftsleben von außerhalb bestimmt wird, so muß von der anderen Seite her das Wirtschaftsleben von außen bestimmt werden, indem es nicht mehr die Arbeitskraft von sich abhängig macht, sondern die aus rein menschlichen Untergründen heraus bestimmte Arbeitskraft dem Wirtschaftsleben dargeboten werden kann. Dann macht die Arbeit den Preis der Ware, dann bestimmt nicht mehr die Ware den Preis der Arbeit!