Der Staat ist das Gegenteil der geistigen Welt

Quelle: GA 189, S. 117-119, 3. Ausgabe 1980, 07.03.1919, Dornach

Fritz Mauthner ist aus seinen Anschauungen auch zu einer Art von Antwort gekommen auf die Frage: Was ist eigentlich der Staat? - Und er kommt zu keiner anderen Definition als: Der Staat ist ein notwendiges Übel. - Nicht wahr, seine Notwendigkeit ableugnen können die Leute nicht. Aber einigen Menschen ist doch schon aufgegangen, daß diejenige soziale Struktur, die wir heute den Staat nennen, eben schließlich zu dem geführt hat, in dem wir halt drin leben. Also nennen sie ihn ein notwendiges Übel, denn sein übler Charakter in seiner heutigen Gestalt steht den Leuten vor Augen. Es frägt sich aber nur, wie man zu einer positiven Vorstellung kommt gegenüber dieser negativen.

Nicht wahr, wenn einer etwas verneint, so muß eigentlich auf das Bejahende hingewiesen sein. Nun, wenn jemand sagt: der Staat ist ein notwendiges Übel, so handelt es sich eigentlich darum, auf das Positive hinzuweisen. Es wird ja da der Staat geradezu dargestellt wie das Gegenteil von etwas. Was ist denn also dieses Etwas, wovon er das Gegenteil sein soll? Da ergibt sich für den geisteswissenschaftlichen Zusammenhang etwas sehr Merkwürdiges. Nicht wahr, man versteht ja den Staat nur, wenn man die Rechtsstruktur, die sich im Staate ausbreitet und nach der Besitzverhältnisse, Arbeitsverhältnisse und so [] weiter geregelt werden, durchschaut und sich frägt: Womit läßt sich diese Rechtsstruktur denn eigentlich vergleichen?

Nun, meine lieben Freunde, Sie haben aus mancherlei Ausführungen aus meinen Büchern und Vorträgen Schilderungen der geistigen Welt kennengelernt, haben da die Beziehungen kennengelernt, die in der geistigen Welt, also in den Zeiten, die der Mensch durchlebt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, stattfinden. Und die Frage ist: Wie verhalten sich diese Beziehungen, in denen Mensch zu Mensch ist zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, zu den Rechtsbeziehungen, die innerhalb der staatlichen Gemeinschaft auf dem physischen Plane hergestellt werden? - Sobald man diese Frage verständig aufwirft, bekommt man die Antwort: Das staatliche Gefüge ist das genaue Gegenteil; das staatliche Gefüge mit Bezug auf die menschlichen Beziehungen, die durch den Staat hergestellt werden, ist das genaue Gegenteil von dem, was die menschlichen Beziehungen in der geistigen Welt sind. - Das gibt Ihnen ja, meine lieben Freunde, eine wirkliche Vorstellung von dem Staate. Die Menschen, die nichts von der geistigen Weit kennen, sie können nämlich gar keine Vorstellung von dem Staate gewinnen, weil sie lauter negative Bestimmungen haben zwischen Mensch und Mensch. Die positiven Bestimmungen sind diejenigen, welche sich ergeben, wenn Seele sich zu Seele in Beziehung setzt in der geistigen Welt. Lesen Sie zu diesem Zwecke, der hier angedeutet wird, das Kapitel über die seelische Welt in meiner «Theosophie»; da werden Sie finden, daß eine gewisse Regelung der Beziehungen von Seele zu Seele stattfindet, die sich dann fortsetzt auch in dem, was man das Geisterland nennen kann, und Sie werden sehen, daß diese Beziehungen geregelt sind durch gewisse Kräfte, die von Seele zu Seele gehen, und die man ausdrücken kann durch das Zusammenwirken von Sympathie und Antipathie. Lesen Sie in diesem Kapitel in meiner «Theosophie», wie Sympathie und Antipathie ein gewisses Verhältnis zustande bringen zwischen Seele und Seele in der geistigen Welt, da werden Sie sehen, daß in der geistigen Welt alles auf Innerlichkeit beruht, nämlich auf dem, was von Seele zu Seele wirkt durch die Sympathie- und Antipathiekräfte. Das was da wirkt von Seele zu Seele durch die Antipathiekräfte, das wird zugedeckt [] durch die Leiblichkeit beim Menschen auf dem physischen Plan; und weil das zugedeckt wird, weil das eigentliche, wesenhafte Verhältnis von Seele zu Seele hier auf dem physischen Plan zugedeckt ist, muß das Äußerlichste gerade auf dem Staatsgebiete hier auf dem physischen Plane stattfinden: das Rechtsverhältnis. Während dasjenige, was geschildert werden muß von der eigentlichen Geisteswelt, die Entfaltung der innerlichsten Kräfte der Seele ist, ist das, was im Staate leben kann, allein das Alleräußerlichste in der Beziehung von Mensch zu Mensch. Und der Staat ist nicht gesund, wenn er ein anderes Verhältnis begründen will, als das alleräußerlichste Rechtsverhältnis. Deshalb muß von dem Staate alles ausgeschaltet werden, was nicht auf dem alleräußerlichsten Rechtsverhältnis zwischen Mensch und Mensch beruht. Und es muß dem eigentlichen Gebiete des Staates gegenüberstehen das geistige Gebiet, die Verwaltung der geistigen Kulturangelegenheiten, und es muß ihm auf der anderen Seite gegenüberstehen das reine Wirtschaften, der dritte Teil des sozialen Organismus. Während der eigentliche Staat das volle Gegenteil der geistigen Welt darstellt, so ist, wie ich Ihnen schon einmal von einem anderen Gesichtspunkte hier angedeutet habe, das geistige Leben eine Art Fortsetzung dessen, was wir in der wirklichen geistigen Welt durchgelebt haben, bevor wir durch die Geburt ins irdische Dasein heruntergestiegen sind. Was wir hier durchleben in Religion, in Schule, in Erziehung, in Kunst, in Wissenschaft und so weiter, neben anderem, was wir entwickeln in dieser Beziehung von Mensch zu Mensch, das ist die irdische Fortsetzung, aber nur als bloßer Abglanz, als bloße Spiegelung desjenigen, was wirkliches geistiges Leben vor der Geburt ist. Und was wir im Wirtschaftsleben haben, was wir in diesem gewöhnlich materiell genannten Leben haben, das ist die Ursache von mancherlei, was wir wiederum zu durchleben haben, wenn wir durch die Todespforte gegangen sind, also im nachtodlichen Leben. Aber der Staat hat keine Beziehung zu dem geistigen Leben. Er ist das volle Gegenteil des geistigen Lebens. Das muß der Mensch, der die Gegenwart verstehen will mit ihren schauderhaften Tatsachen durchschauen lernen. Der gegenwärtige Mensch muß verstehen lernen, wie notwendig es ist, die geistige Wirklichkeit wiederum ins Auge zu fassen, um zu einer Anschauung über die äußere Wirklichkeit zu kommen. Antipathie und Sympathie wirken zusammen in der geistigen Welt. Dasjenige, was in der geistigen Welt uns an Antipathien bleibt, wenn wir durch die Geburt ins irdische Dasein heruntersteigen, das, was noch weiter auszuleben ist wegen der Antipathien, die wir in der geistigen Welt uns erhalten haben, das lebt sich hier als geistige Kultur aus. Wir lernen als Menschen durch die Sprache uns verstehen und gewissermaßen dadurch ein geistiges Band von Mensch zu Mensch zu knüpfen, weil wir durch dieses Verstehen der Sprache gewisse Antipathien überwinden müssen, die uns geblieben sind aus der geistigen Welt. Wir lernen in gewissen Vorstellungen miteinander sprechen, gemeinsame Gedanken zu haben in einer gemeinsamen Kunst, in einem gemeinsamen Religionsbekenntnis, weil wir dadurch gewisse Antipathien überwinden, die wir in der geistigen Welt gegeneinander gehabt haben. Und wir lernen hier im Wirtschaftsleben aufeinander angewiesen sein, füreinander zu arbeiten, miteinander im Wirtschaftsleben Vorteile gegen Vorteile austauschen, weil wir dadurch die Grundlage legen für gewisse Sympathien, welche sich im nachtodlichen Leben zwischen den Seelen entspinnen sollen, zwischen denen nicht schon hier ein Anziehungsband da ist durch das gewöhnliche Karma.