Existenzminimum, Grundrente, Bodenrente: zur gedeihliche Entwickelung der Menschheit am mindestens ( schwierig ) zu verstehen.

Quelle: GA 189, S. 035-039, . Ausgabe 1980, 16.02.1919, Dornach

Zur Erwerbung von sozialem Verständnis ist erforderlich, daß wir uns in die Lage versetzen, auf das Fundamentale, auf das Primäre zurückzugehen und nicht in dem Sekundären oder Tertiären, in dem, was nur Folge-Erscheinung ist, mit unserem Verständnis stecken zu bleiben. Man kann beispielsweise aus einer gewissen Lebenslage heraus sagen: Der Mensch braucht im Minimum so und so viel an Werten - also sagen wir an Geld, weil wir schon einmal die Werte in Geld umgesetzt haben -, um sein Leben zu fristen. Man kann von einem Existenzminimum reden in einer bestimmten Lebenslage. Man kann aber von diesem Existenzminimum so reden, daß man auf der einen Seite etwas scheinbar höchst Selbstverständliches und auf der anderen einen völligen Unsinn sagt. Das will ich Ihnen an einem Beispiel versuchen klar zu machen.

Wenn Sie die gegebenen Lebensverhältnisse auf irgendeinem Territorium nehmen, so können Sie vielleicht schon aus der Empfindung heraus sagen: ein Handarbeiter braucht so und so viel als Existenzminimum, sonst kann er nicht leben in dieser Gemeinschaft. Das kann ein scheinbar ganz selbstverständlicher Gedanke sein. Wie ist es aber, wenn sich das nach den Voraussetzungen, die ich eben angegeben habe, innerhalb eines bestimmten sozialen Organismus nicht verwirklichen läßt? Diese Frage müssen Sie sich vor allen Dingen beantworten: was dann, wenn das zu verwirklichen unmöglich ist?

Es ist das eben, wenn man so überlegt, wie ich es jetzt eben dargestellt habe, nicht ein primärer Gedanke. Man geht nicht an die fundamentalen Dinge zurück, sondern man knüpft an etwas Sekundäres an, an etwas, was bloß eine Folgeerscheinung ist. Man muß immer in der Lage sein, zu seinem sozialen Verständnis an die fundamentalen Dinge anzuknüpfen. So ist eine fundamentale Sache, daß man sich eine Ansicht verschaffen kann, eine lebenfördernde Ansicht, wie gerade nach den Lebensbedingungen des sozialen Organismus das Existenzminimum sein kann; und mit Leben-fördernd meine ich in diesem Falle eine solche Ansicht, daß eine mögliche soziale Lage und ein mögliches soziales Zusammenleben der Menschen daraus folgt.

Das ist das Primäre.

Und nun kommt man da allerdings auf gewisse Vorstellungen, die der heutigen Menschheit zum großen Teil recht unbequem sind, weil versäumt worden ist in den letzten Jahrhunderten, die primitive Schulbildung, die auf solche Dinge hingehen soll, nach solchen Dingen wirklich hinzuleiten. Es dürfte heute schon bald den Menschen klarwerden, daß man nicht bloß wissen soll, um ein halbwegs gebildeter Mensch zu sein, daß drei mal neun siebenundzwanzig ist, sondern daß man auch wissen sollte, was denn eigentlich zum Beispiel das Ding ist, das man «Grundrente» nennt. Nun frage ich Sie, wieviele Menschen heute eine deutliche Vorstellung haben von dem, was Grundrente ist. Ohne aber den sozialen Organismus in bezug auf solche Dinge zu überblicken, läßt sich überhaupt eine gedeihliche Fortentwickelung der Menschheit nicht herbeiführen.

Diese Dinge sind allmählich in große Verwirrung gekommen. Und die verworrenen Verhältnisse, die führen heute die Menschen zu ihren Vorstellungen, nicht dasjenige, was wahre Verhältnisse auf diesem Gebiete sind. Sehen Sie, die Grundrente, die man irgendwie bewerten kann nach der Produktivität, die auf irgendeinem Territorium ein Stück Boden hat, diese Grundrente, die ergibt nun, sagen wir, eine bestimmte Summe für ein staatlich begrenztes Territorium. Der Boden ist nach seiner Produktivität, das heißt, nach der Art oder nach dem Grade der rationellen Ausnützung gegenüber der Gesamtwirtschaft so und so viel wert. Für die Menschen ist es heute sehr schwierig, diesen einfachen Bodenwert in klaren Begriffen zu denken, weil sich im heutigen kapitalistischen Wirtschaftsleben der Kapitalzins oder das Kapital überhaupt konfundiert hat mit der Bodenrente, weil der wirkliche volkswirtschaftliche Wert der Bodenrente zu einem Truggebilde gemacht worden ist durch das Hypothekenrecht, durch das Pfandbriefwesen, durch das Obligationenwesen und dergleichen. Dadurch ist alles im Grunde genommen in unmögliche, unwahre Vorstellungen hineingetrieben worden. Es ist natürlich nicht möglich, im Handumdrehen wirklich eine Vorstellung von dem zu bekommen, was eigentlich Grundrente ist. Aber denken Sie einfach als Grundrente den volkswirtschaftlichen Wert des Grund und Bodens eines Territoriums, des Grund und Bodens als solchem, aber mit Bezug auf seine Produktivität.

Nun besteht ein notwendiges Verhältnis zwischen dieser Grundrente und dem, was ich vorhin als Existenzminimum des Menschen angegeben habe. Nicht wahr, es gibt heute manche Sozialreformer und Sozialrevolutionäre, die träumen von einer Abschaffung der Grundrente überhaupt, die glauben, daß zum Beispiel die Grundrente abgeschafft ist, wenn man den gesamten Grund und Boden, wie sie sagen, verstaatlicht oder vergesellschaftet. Dadurch, daß man etwas in eine andere Form bringt, ist aber die Sache nicht abgeschafft. Ob nun die ganze Gemeinschaft den Grund und Boden besitzt, oder ob ihn so und so viele besitzen, das ändert gar nicht das Vorhandensein der Grundrente. Sie maskiert sich nur, sie nimmt andere Formen an. Grundrente so definiert, wie ich es vorhin definiert habe, ist eben immer da. Wenn Sie auf einem bestimmten Territorium die Grundrente nehmen, sie dividieren durch die Einwohnerzahl des betreffenden Territoriums, so bekommen Sie einen Quotienten heraus, und dieser Quotient ergibt das allein mögliche Existenzminimum.

Das ist ein Gesetz, das, wie meinetwillen das Boyle-Mariottesche Gesetz in der Physik ein ganz bestimmtes Gesetz ist, das nicht anders sein kann. Das ist aber eine primäre Tatsache, das ist etwas Fundamentales, daß eigentlich niemand in Wirklichkeit mehr verdient in irgendeinem sozialen Organismus, als die gesamte Grundrente dividiert durch die Einwohnerzahl. Was sonst mehr verdient wird, wird verdient durch Koalitionen und durch Assoziationen, wodurch Verhältnisse geschaffen werden, durch die auf eine Persönlichkeit mehr Werte kommen als auf die andere Persönlichkeit. Aber wahrhaftig, in den mobilen Besitz eines einzigen Menschen übergehen kann gar nichts mehr als dasjenige, was ich jetzt bezeichnete. Und aus diesem Minimum, das überall wirklich existiert, wenn auch die realen Verhältnisse es zudecken, geht alles wirtschaftliche Leben, insofern dieses wirtschaftliche Leben sich bezieht auf dasjenige, was man als einzelner an mobilem Besitz hat, hervor. Von dieser fundamentalen Tatsache muß ausgegangen werden. Darauf kommt es an, daß man nicht von einer sekundären, sondern von dieser primären Tatsache ausgeht. Sie können diese primäre Tatsache vergleichen mit irgendeiner anderen primären Tatsache, sagen wir zum Beispiel mit der primären Tatsache, die auch für das Wirtschaftsleben eine solche ist, daß auf einem bestimmten Territorium nur eine bestimmte Menge eines Rohproduktes ist. Da könnten Sie es natürlich auch als wünschenswert bezeichnen, wenn dieses Rohprodukt mehr vorhanden wäre, und könnten ausrechnen, wieviel man dann mehr haben würde auf diesem Territorium. Aber das Rohprodukt können Sie nicht vermehren. Das ist eine primäre Tatsache. Ebenso ist es eine primäre Tatsache, daß in Wirklichkeit in einem sozialen Organismus niemand mehr verdient — man verdient nicht durch Arbeit, auch wenn man noch so viel arbeitet — als dasjenige, was dieser Quotient, den ich angeführt habe, ergibt. Alles übrige ist durch Koalitionen und so weiter unter den Menschen bewirkt.

Gegen eine solche Tatsache können die sozialen, können die politischen Einrichtungen handeln. Sie können dagegen verstoßen. Darum handelt es sich, daß man das ganze organisierende Denken in die Richtung bringt, in der die Tatsachen laufen. Darauf kommt es an. Zufriedenheit unter Menschen kann nur dadurch entstehen, daß solche Dinge eingesehen werden. Denn bringt man das ordnende, das in die Wirklichkeit sich umsetzende Denken in solche Richtungen, die die Natur des sozialen Organismus fordert, dann richtet sich das andere danach, dann kann es gar nicht eintreten, daß der eine sich benachteiligt glaubt gegenüber dem anderen. Das ist dasjenige, was als ein Gesetz dem sozialen, dem wirklichen Leben des sozialen Organismus zugrunde liegt. Aber in der richtigen Weise können Sie über solche Dinge nur denken — ich habe Ihnen dieses Beispiel von der Beziehung des Existenzminimums zu der Grundrente angegeben —, über solche Dinge können Sie nur Begriffe bekommen, die in die Wirklichkeit eingreifen, wenn Sie ausgehen von der Dreigliederung, die wir als das Fundamentale haben. Denn nur unter dem Einflusse dieser Dreigliederung ist es möglich, daß die Menschen solche Maßnahmen treffen, daß nun wirklich das Zusammenleben der Menschen über ein Territorium sich in der produktivsten Weise entwickelt. In der produktivsten Weise wird sich nämlich das Leben entwickeln, wenn es in der Richtung der Gesetzmäßigkeit verläuft, nicht gegen diese Gesetzmäßigkeit; also im Sinne des sozialen Organismus leben, das ist es, worauf es ankommt.