Positive Auswirkung auf Gesamtheit als Bedingung eines Rechts

Quelle: GA 328, S. 086-091, 1. Ausgabe 1977, 12.02.1919, Zürich

Neben dem Wirtschaftsleben muß stehen das politische Leben, das im Gegensatze zum Wirtschaftsleben, das auf Assoziationen zu beruhen hat, mehr auf der Demokratie ruhen muß, denn das staatliche Leben umfaßt das Verhältnis von Mensch zu Mensch. Es umfaßt alles das, woran alle Menschen in gleicher Weise ihr Interesse haben. Wie das Wirtschaftsleben beruht auf dem wirtschaftlichen Wert der Güter, so wird das Staatsleben zu beruhen haben im wesentlichen auf dem öffentlichen Recht, das im Gesetze gründet oder das das Gesetz begründet, das da bestimmt das Verhältnis des Menschen unter Menschen. Und in lebendiger Wechselwirkung wird dasjenige, was sich aus dem Wirtschaftsleben heraus entwickelt, begrenzt, beschränkt werden müssen. Ansätze dazu sind ja vorhanden, aber eine durchgreifende soziale Einsicht muß Platz greifen. Dasjenige wird sich herausbilden müssen, was vor allen Dingen den Menschen davor schützt, von dem Wirtschaftsleben, das auf den Verbrauch hin orientiert ist, selber mit Bezug auf seine Arbeitskraft verbraucht zu werden.

Ebenso wie Preisbildung, Wertbildung das Wesentliche ist innerhalb des Wirtschaftskörpers, ebenso ist die Ausgestaltung des konkreten Rechtes, des konkreten öffentlichen Rechtes, das reguliert das Leben des Menschen neben dem Menschen, das Wesentliche im Leben des politischen Staates. Kann man in bezug auf die Empfindung, die gegenüber dem öffentlichen Rechte besteht, nicht eigentlich auch heute noch sagen, daß sie zu keiner ganz besonderen Klarheit sich durchgerungen hat? Man kann viel, viel bei denjenigen, die die Sache wissen sollten, die viel nachgedacht und nachgeforscht haben sollten über die Sache, man kann viel bei diesen nachfragen, was eigentlich unter dem Wesen des Rechtes zu verstehen ist, des Rechtes, das ja immer in konkreten Formen auftritt. Man bekommt erst einen Begriff von den Schwierigkeiten, die da vorliegen, wenn man zum Beispiel sich einläßt auf eine solche Frage, wie diejenige war, die in seiner Doktordissertation mein verstorbener Freund Ludwig Laistner zugrunde gelegt hat, «das Recht zur Strafe». Das kann selbst eine Frage werden, worinnen im Konkreten das Recht der menschlichen Gesellschaft zur Strafe besteht.

Man kann vieles versuchen, um nahezukommen dem Impuls des Rechtes. Insbesondere in unserer heutigen Zeit, wo von den verschiedensten Seiten her so viel vom Recht gesprochen wird, liegt es ja auf der Hand, sich immer wieder und wiederum dem nähern zu wollen, was eigentlich das Wesen des Rechtes ist. Wenn man versucht, dahinter zu kommen, worauf ein solches konkretes Recht beruht - auch das Besitzrecht ist auf ein Recht begründet; das Besitzverhältnis gründet auf dem Recht, ein Grundstück oder irgend etwas ausschließlich für sich, zu seiner Betätigung zu benützen mit Hinwegweisung der anderen - , das Gegenstand des eigentlichen politischen Gliedes des sozialen Körpers ist, so finden die einen überhaupt nichts anderes, als daß es zuletzt doch auf Macht zurückgeht. Die anderen finden, daß es auf ein ursprüngliches menschliches Empfinden zurückgehe. Man kommt ja allzuleicht, wenn man der Sache zu Leibe rücken will, auf leere Formen. Ohne daß ich mich - was ja Stunden in Anspruch nehmen würde - einlassen kann auf eine volle Begründung, möchte ich doch dieses sagen, daß das Recht ja begründet ein gewisses Verhältnis des Menschen zu irgend etwas, einer Sache oder einem Vorgang oder dergleichen oder einer Summe von Vorgängen, mit Ausschluß von anderen Menschen. Worauf beruht es denn nun eigentlich, daß man die Empfindung, das Gefühl entwickeln kann: Irgendein Mensch oder ein Volk habe ein Recht auf das, was man im Auge hat?

Und man bekommt da doch, wenn man noch so sehr sich abmüht, nichts anderes heraus, als daß man sich sagen kann: Im öffentlichen Leben begründet den Rechtsanspruch das, daß die Voraussetzung bestehen darf, daß der, der seine Betätigung einer Sache oder einem Vorgange oder einer Reihe von Vorgängen zuwenden darf, dies mit der größeren Wahrscheinlichkeit mehr im Sinne der allgemeinen Menschheit tut als irgendein anderer. In dem Augenblick, wo man die Empfindung hat, daß irgend jemandes Verhältnis zu einer Sache oder zu etwas anderem mehr zum Ausdrucke bringt den Nutzen der allgemeinen Menschheit, als wenn ein anderer diese Sache benützt oder in dieses Verhältnis eingeht, so kann man dem Betreffenden das Recht auf diese Sache zusprechen. Das wird es ja auch im wesentlichen sein, was in der Empfindung der Menschheit den Ausschlag geben wird, wenn jetzt die großen Rechtsfragen des internationalen Lebens ins Dasein, ins wirkliche Dasein treten. Man wird demjenigen voll zusprechen das Recht über ein gewisses Territorium, bei dem die Aussicht besteht, daß im Sinne des Wohles der allgemeinen Menschheit gerade dieses Volk das Territorium am fruchtbarsten, am sichersten verwalten kann.

So kommt man zu dem, was im demokratischen Staatswesen durchweben und durchfluten kann die Impulse, die orientieren müssen das Leben von Mensch zu Mensch, die, sei es in der Arbeiterversicherung, sei es irgendwie in anderen Versicherungen, die da sind zum Schutze gegen die Schäden des Wirtschaftslebens, in alledem muß das leben als das Fundament des Rechtes, von dem ich eben gesprochen habe. Und ein Verständnis, aber jetzt nicht ein Verständnis für irgendeine allgemeine abstrakte Definition des Rechtes, sondern ein Verständnis für die Wirksamkeit des Rechtes im einzelnen konkreten Fall, das ist es, was behufs eines gesunden sozialen Lebens der Menschheit eintreten muß. Dieses Rechtsleben, dieses Leben des politischen Staates im engeren Sinn, des zweiten Gliedes eines gesunden sozialen Organismus, das wird es auch sein, welches den eigentlichen Kreuzpunkt, möchte ich sagen, der modernen sozialen Frage allein, nicht durch irgendwelche Verwirklichungen von theoretischen Ansichten und Prinzipien und Programmen, sondern durch das unmittelbare Leben aus der Welt schaffen wird, nämlich den Punkt, den ich vorhin bezeichnet habe als die Forderung des modernen Proletariats: die Arbeitskraft des Menschen des Warencharakters zu entkleiden.

Dazu ist allerdings notwendig, daß man auch verstehe, ich möchte sagen, aus dem Fundament heraus verstehe, worauf es ankommt bei dem Anteil, den menschliche Arbeit im allgemeinen menschlichen Leben, in der Struktur der menschlichen Gesellschaft hat. Wiederum würde es Stunden in Anspruch nehmen, wenn ich ein soziales Grundgesetz der menschlichen Arbeit hier im einzelnen begründen wollte; intuitiv, glaube ich, und instinktiv kann jeder Mensch, der das Leben nur einigermaßen durchschaut, begreifen, was ich jetzt aussprechen werde. Ich habe versucht, bereits im Beginne des Jahrhunderts in einem Aufsatz, der dazumal in meiner damals erscheinenden Zeitschrift «Luzifer-Gnosis» über die soziale Frage erschienen ist, gerade auf dieses fundamentale soziale Gesetz aufmerksam zu machen. Aber man predigte damals und predigt über viele Dinge auf diesem Gebiet auch heute noch tauben Ohren, leider. Dieses Gesetz besteht darin, daß niemand, insofern er dem sozialen Körper, dem sozialen Organismus angehört, für sich selber in Wirklichkeit arbeitet. Wohlgemerkt, insoferne der Mensch dem sozialen Organismus angehört, arbeitet er nicht für sich selbst. Jegliche Arbeit, die der Mensch leistet, kann niemals auf ihn zurückfallen, auch nicht in ihrem wirklichen Erträgnis, sondern sie kann nur für die anderen Menschen geleistet sein. Und das, was die anderen Menschen leisten, das muß uns selbst zugute kommen. Es ist nicht bloß ein ethisch zu fordernder Altruismus, der in diesen Dingen lebt, sondern es ist einfach ein soziales Gesetz. Wir können gar nicht anders, ebensowenig wie wir unser Blut anders leiten können, als in der Zirkulation der menschlichen Betätigung so wirken, daß unsere Tätigkeit allen anderen, und aller anderer Tätigkeit uns zugute kommt, daß niemals unsere eigene Tätigkeit auf uns selbst zurückfällt.

So paradox es klingt, wenn Sie untersuchen, welchen wirklichen Zirkulationsprozeß menschliche Arbeit im sozialen Organismus macht, Sie werden finden: sie geht aus dem Menschen heraus, sie kommt den anderen zugute, und das, was die einen von der Arbeitskraft haben, das ist das Ergebnis der Arbeitskraft anderer. Wie gesagt, so paradox es klingt, wahr ist es. Man kann ebensowenig leben von seiner eigenen Arbeit im sozialen Organismus, als man sich selber aufessen kann, um sich zu ernähren.

Obschon im Grunde genommen das Gesetz sehr leicht zu verstehen ist, können Sie einwenden: Wenn ich nun aber ein Schneider bin und unter den Kleidern, die ich für andere herstelle, auch einmal mir selber einen Anzug mache, dann habe ich doch meine Arbeitskraft auf mich selber angewendet! - Das ist nur eine Täuschung, wie es überhaupt immer eine Täuschung ist, wenn ich glaube, daß das Ergebnis eigener Arbeit auf mich zurückfällt. Indem ich mir einen Rock, eine Hose oder dergleichen mache, arbeite ich in Wahrheit nicht für mich, sondern ich setze mich in die Lage, weiter für andere zu arbeiten. Das ist das, was die menschliche Arbeit als Funktion rein durch ein soziales Gesetz innerhalb des sozialen Organismus hat. Wer gegen dieses Gesetz verstößt, der arbeitet gegen den sozialen Organismus. Deshalb arbeitet man gegen den sozialen Organismus, wenn man weiter verwirklicht dasjenige, was sich im neueren geschichtlichen Leben ergeben hat, daß man den proletarischen Arbeiter von dem Erträgnis seiner Arbeitskraft leben läßt. Denn das ist keine Wahrheit, das ist eine durch die sozialen Verhältnismittel kaschierte, realisierte Unwahrheit, die sich hereindrängt als zerstörend in das Wirtschaftsleben. Das ist dasjenige, was aber in dem Wirtschaftsleben nur geregelt werden kann, wenn dieses Wirtschaftsleben sich selbständig entwickelt und neben ihm relativ selbständig das politische, das engere Staatsleben sich entwickelt, das immerzu entreißt dem wirtschaftlichen Leben die Möglichkeit, die menschliche Arbeit auf sich selber zu lenken. Innerhalb des Rechtssystems wird das bewirkt im richtigen sozialen Verständnis, daß die menschliche Arbeit diejenige Funktion erhalte, welche sie erhalten muß gemäß dem wahrhaftigen Verlaufe des Lebens im sozialen Organismus. Der wirtschaftliche Organismus für sich hat immer die Tendenz, die Arbeitskraft des Menschen zu verbrauchen. Das Rechtsleben muß immer der Arbeitskraft ihre naturgemäße altruistische Stellung anweisen, und immer ist es von neuem notwendig, durch neue konkrete demokratische Gesetzgebung das, was das Wirtschaftsleben in Unwahrheit realisieren will, diesem Wirtschaftsleben immer aufs neue zu entreißen, und immer aufs neue die menschliche Arbeitskraft aus den Fängen des Wirtschaftslebens auf dem Wege des öffentlichen Rechtes herauszureißen.

Geradeso wie zusammenwirken müssen das bloße Verdauungssystem mit dem Atmungs-Zirkulationsleben, indem aufgenommen wird von dem zirkulierenden Blute das, was dem Verdauungssystem einverleibt wird, so muß nebeneinanderwirken, aufeinanderwirken das, was im Wirtschaftsleben vorgeht und das, was im Rechtsleben vorgeht, sonst gedeiht das eine und das andere nicht. Der bloße Rechtsstaat, wenn er Wirtschafter werden will, lähmt das Wirtschaftsleben; der Wirtschaftsorganismus, wenn er sich den Staat erobern will, tötet das System, das Leben des öffentlichen Rechtes.