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Staat und Volk keine abgeschlossene Organismen
Quelle: GA 188, S. 190-191, 2. Ausgabe 1967, 26.01.1919, Dornach
Denn sehen Sie, mit Bezug auf den sozialen Organismus können die meisten Leute heute überhaupt noch nicht denken, weil ihnen die Leitmotive dieses Denkens fehlen. Ich habe es schon einmal erwähnt: Die Menschen gehen auf diesen Gebieten aus von der sonderbaren, grotesken Idee, daß ein einzelner Staat oder ein einzelnes Volksgebiet ein Organismus für sich sei. Sie wollen geradezu Volksorganismen errichten. Das ist an sich ein Unsinn. Ich habe es einmal ausgeführt: Wenn man etwas vergleichen will in bezug auf das Zusammenleben der Menschen über die Erde hin, so darf man nur die ganze Erde wie einen Organismus ansehen; ein einzelnes staatliches oder volksmäßiges Gebiet kann nur ein Glied sein im Organismus. Will man den Begriff des Organismus gebrauchen, so muß das ein abgeschlossener Organismus sein. Derjenige, welcher Nationalökonomie, Volkswirtschaftslehre, Sozialismus begründen will auf dem Gebiete eines einzelnen Landes, der gleicht einem Menschen, der, sagen wir, die Anatomie des ganzen Menschen aus der bloßen Hand oder dem Bein oder dem Magen begründen möchte. Darauf kommt es in viel höherem Masse an, als sich die Menschen heute vorstellen. Denn diese Dreigliederung, die ich Ihnen angeführt habe, die gibt nicht solche abstrakten Zusammenfassungen, wie sie die heutigen Menschen gewohnt sind, sondern die gibt gerade ein lebendiges Hineinstellen in das volkswirtschaftliche Getriebe, in das soziale Getriebe. Wer bloß gelernt hat die Anatomie des Magens, der wird nicht verstehen die Anatomie des Kopfes, des Halses. Wer aber die Anatomie des Menschen kennt, der wird, wenn es darauf ankommt, auch den Magen richtig beurteilen können, den Kopf richtig beurteilen, den Hals richtig beurteilen können. So ist es: Wer den sozialen Organismus in seinen inneren Lebensbedingungen - und das ist etwas, was ausgehen muß von dieser Dreigliederung - kennt, der weiß sich in die richtigen Verhältnisse zu setzen, ob er nun die sozialen Verhältnisse in Rußland oder England oder in Deutschland oder irgendwo sonst zu beurteilen hat.
Heute machen Sie die sonderbar betrübliche Entdeckung, daß die Menschen über die Länder reden, als wenn diese Länder für sich da wären. Sie denken, sie können irgendwelche Sozialisierungen oder dergleichen bewirken mit Bezug auf einzelne abgetrennte Gebiete. Das ist dasjenige, was darstellt einen der Grundirrtümer unserer Zeit, und was in der Praxis wirklich zu dem allergrößten Unheil führen kann. Heute ist es nur unheilsam zu glauben, daß man auf einem gewissen beschränkten Territorium irgend etwas machen kann, ohne Rücksicht zu nehmen darauf, daß seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Erde ein Gesamtorganismus in sozialer Beziehung ist. Mit der Wirklichkeit muß einfach gerechnet werden, sonst kommt man auf keine Weise irgendwie weiter.