Wirklichkeitsgemäße Ideen lassen die Art ihrer Ausführung offen

Quelle: GA 186, S. 292-293, 3. Ausgabe 1990, 20.12.1918, Dornach

Gewiß, wenn man in Abstraktionen und Allgemeinheiten bleibt, dann kann man alles sagen. Denn das ist das Wesentliche solcher Weltanschauungen, die abstrakt sind, daß sie alles, alles in ihre abstrakten Formeln kleiden können. Kommt man zu solchen Begriffen und Ideen, wie ich sie Ihnen neulich dargelegt habe als die grundsoziale Idee der Zukunft, die dreigliedrige Idee, so ist diese Idee, wie ich Ihnen letzten Sonntag gezeigt habe, der Wirklichkeit selber angemessen und breitet sich aus in ihrer Konfigurierbarkeit über die Wirklichkeit. Mit dieser Idee kann man eben nur die Wirklichkeit umfassen, und sie ist geeignet für die Wirklichkeit. Mit einer abstrakten Idee kann man alles umfassen. Gegenüber einer wirklichen Idee kann man so reden, wie ich es getan habe gegenüber verschiedenen Leuten, zu denen ich gesprochen habe. Ich habe darüber gesprochen, ich habe sie ausgeführt, diese dreigliedrige Idee, aber nicht so wie einer, der überzeugt ist von einer Dogmatik, und der da sagt: Das mußt du annehmen - oder es ist alles schlimm! - Darum handelt es sich nicht bei Wirklichkeitsideen. Ich habe deshalb zu den Leuten anders gesprochen. Ich sagte: Diese Ideen, an die braucht man nicht zu glauben wie an Dogmen, sondern man fange irgendwo an in der Wirklichkeit, und man wird sehen, wenn man sie einführt in die Wirklichkeit, daß sich die Wirklichkeit damit bearbeiten läßt; vielleicht, wenn man fertig ist oder wenn man nur in einem sehr kleinen Teil die Wirklichkeit bearbeitet hat, dann kommt es ganz anders. - Ich würde mich gar nicht wundern, wenn die Wirklichkeit, sobald die Idee durchgeführt würde, gerade in der Ausführung keinen Stein auf dem andern ließe von dem, was ursprünglich angeführt wurde. Wenn man nicht dogmatisch vorgeht, hält man an seinen Programmen nicht so fest wie Programmenschen, die für Gesellschaften Programme und Statuten ausarbeiten, sondern man gibt eben, was sich in der Wirklichkeit selber ausgestalten will; dann ist es in der Wirklichkeit anwendbar. Und man fange an! Vielleicht werden dann Ideen herauskommen, die ganz anders sind als diejenigen, die gerade dargestellt worden sind. Das Wirklichkeitsgemäße besteht gerade darin, daß es mit dem Leben sich ändert, und das Leben ändert sich fortwährend. Es handelt sich gar nicht darum, schöne Ideen, sondern wirklichkeitsgemäße Ideen zu haben. Die spricht man nicht abstrakt aus, sondern die versucht man so auszusprechen, daß sie lebendig sind, in die Wirklichkeit sich einfügen. Daher sind sie natürlich von Abstraktlingen furchtbar leicht angreifbar. Das ist aber das Neue an der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft, daß man nicht nur Neues in ihr denkt, sondern daß man auf neue Art denkt. Und darum können so viele Menschen nicht heran an dieses Denken in neuer Art. Auf dieses Denken in neuer Art aber kommt es an, auf dieses Denken, von dem man sagen kann, daß der Gedanke untertaucht in die Wirklichkeit und man mit der Wirklichkeit lebt. Mit der Abstraktion können Sie alles beweisen. Mit einer Abstraktion, sei es selbst die eines Gottes, da können Sie sagen als ein braver, monarchistischer Untertan: Der König ist von Gottes Gnaden eingesetzt. - Die heutige Zeit kann ihm die Lehre geben: Er ist nun auch wieder von Gottes Gnaden abgesetzt! Man kann, wenn man Abstraktionen hat, das Schwarze und das Weiße unter diese Abstraktionen bringen. Mit Abstraktionen kann man sagen, daß der Gott die Heere anführt des einen und des andern. Darauf eben kommt es an bei jenem Streben nach wahrer Wirklichkeit, das gerade der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft zugrundeliegt, daß solches abstrakte Leben, respektive solches abstrakte Reden, das ruinös ist für die Wirklichkeit, ersetzt wird durch wirklichkeitsgemäßes Denken, durch ein Reden, das liebevoll untertaucht in die Wirklichkeit und aus der Wirklichkeit selber heraus redet. Das Denken, das nicht nur etwas anderes denkt, sondern das anders denkt, als man bisher gedacht hat, das strebt nach dem Ideal: « Nicht ich, sondern der Christus in mir » - nach dem paulinischen Worte. Denn dieser Christus suchte nach dem Zusammenklang des äußeren Menschlichen mit dem inneren Menschlichen.

Das muß ein Ideal werden für das ganze menschliche Streben.