Soziale und antisoziale Triebe im Menschen

Quelle: GA 186, S. 158-187, 3. Ausgabe 1990, 12.12.1918, Bern

Die Zeit selbst spricht wohl deutlich genug sich dahin aus, daß wir gerade diejenigen Empfindungen und Betrachtungen, die wir aus unserer geisteswissenschaftlichen Vertiefung gewinnen, auch auf die Verhältnisse dieser Zeit, auf das Leben in dieser Zeit anwenden. Und nicht nur die äußeren Zeitverhältnisse sprechen heute eine deutliche Sprache, sondern auch unsere geisteswissenschaftlichen Anschauungen selbst rechtfertigen ja in einer gewissen Weise diese Sprache. Wir sind ja in so vielen unserer Betrachtungen von einer Grundtatsache der menschlichen Entwickelung ausgegangen: von der Tatsache, daß sich diese Entwickelung in aufeinanderfolgenden Etappen vollzieht, deren zunächst bedeutsame, uns jetzt vorzugsweise angehende, wie wir wissen, mit der großen atlantischen Katastrophe begonnen haben. Von den nachatlantischen Epochen sind vier verflossen, während wir jetzt in der fünften nachatlantischen Etappe der Entwickelung leben. Und diese Entwickelungsetappe, die im fünfzehnten Jahrhundert unserer christlichen Zeitrechnung begonnen hat, ist diejenige, die wir nennen können die der Bewußtseinsseele. Andere menschliche Seelenkräfte sind insbesondere ausgebildet worden in den anderen Kulturzeiträumen. In unserem Kulturzeitraum, der eben auf den griechischlateinischen Zeitraum gefolgt ist in der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts, soll die Menschheit nach und nach ausbilden die Bewußtseinsseele. In dem vorhergehenden Zeitraum, der im achten vorchristlichen Jahrhundert begonnen hat und im fünfzehnten nachchristlichen Jahrhundert vollendet war, hat die Menschheit vorzugsweise kulturmäßig ausgebildet die Verstandes- oder Gemütsseele.

Nun, wir brauchen uns auf die Charakterisierung dieser Etappen nicht einzulassen, aber wir wollen besonders ins Auge fassen, was das Eigentümliche unseres Zeitalters ist, dieses Zeitalters, das ja erst verhältnismäßig wenig Jahrhunderte hinter sich hat. Denn ein solches Zeitalter dauert ja durchschnittlich etwas über zweitausend Jahre. Es ist also noch viel zu absolvieren übrig in diesem Zeitraum der Bewußtseinsseele. In diesem Zeitalter der Bewußtseinsseele wird die Aufgabe der zivilisierten Menschheit die sein, das ganze menschliche Wesen zu erfassen und es auf sich selbst zu stellen, vieles, außerordentlich vieles von dem, was der Mensch in früheren Zeiträumen instinktmäßig gefühlt, instinktmäßig beurteilt hat, ins volle Licht des Bewußtseins heraufzuheben.

Nicht wahr, viele Schwierigkeiten und vieles Chaotische, das in unserem Zeitraume sich um uns herum und mit uns abspielt, wird einem eigentlich sofort erklärlich, wenn man weiß, daß dies die Aufgabe unseres Zeitalters ist: Instinktives ins Bewußtsein heraufzuheben. Denn das Instinktive geschieht gewissermaßen von selbst; aber was bewußt geschehen soll, das erfordert, daß der Mensch sich innerlich anstrengt, daß er vor allen Dingen beginnt, wirklich aus seinem ganzen Wesen heraus zu denken. Und das scheut der Mensch. Das ist etwas, was der Mensch nicht gern tut: bewußt Anteil nehmen an der Gestaltung der Weltverhältnisse. Außerdem liegt hier ein Punkt, über den sich heute die Menschen noch viel täuschen. Die Menschen heute denken: Nun ja, wir leben ja gerade im Zeitalter der Gedankenentwickelung. - Die Menschen sind stolz darauf, daß heute mehr gedacht wird als früher. Aber zunächst ist dies eine Täuschung, eine Illusion, eine der vielen Illusionen, von denen heute die Menschheit lebt. Das, was die Menschen so stolz macht, dieses Fassen von Gedanken, das ist vielfach instinktiv. Erst wenn das Instinktive, das heraufgekommen ist in der Menschheitsentwickelung und das sich heute im Stolzsein auf das Denken äußert, aktiv wird, wenn wirklich das Intellektuelle nicht bloß aus dem Gehirn, sondern aus dem ganzen Menschen entspringt, wenn das Intellektuelle selbst nur ein Teil wird des ganzen geistigen Lebens, wenn es vom Rationalistischen hinweggehoben und ins Imaginative, Inspirierte, Intuitive heraufgehoben wird: erst dann wird dasjenige, was herauswill in diesem fünften nachatlantischen Bewußtseinsseelenzeitraum, nach und nach herauskommen. Was dem Menschen heute entgegentritt - was ihn schon hinweisen kann darauf, daß ihn gewissermaßen selbst die alltäglichsten Gedanken auf seine besonderen Eigentümlichkeiten in diesem Zeitalter hinweisen -, das ist, was man immer wieder erwähnen muß: das Auftauchen der sogenannten sozialen Frage.

Aber es wird derjenige, der ernsthaftig sich in unsere anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft vertieft hat, sehr leicht zu der Empfindung kommen können, daß doch das Wesentliche in der Gestaltung einer gesellschaftlichen Ordnung, ob man sie nun staatlich oder sonstwie nennt, ausgehen muß von dem, was der Mensch aus sich heraus entwickelt, was er aus sich heraus entwickeln kann mit der Aufgabe, zu regeln den Verkehr von Mensch zu Mensch. Alles, was der Mensch aus sich heraus entwickelt, entspricht natürlich gewissen Impulsen, die zuletzt doch in unserem seelisch-geistigen Leben liegen. Wenn man die Sache so anschaut, wird man fragen können: Ja, muß denn nicht vor allen Dingen die Aufmerksamkeit gerichtet werden auf die sozialen Impulse, auf dasjenige, was aus der Menschennatur herauswill als soziale Impulse? Nennen wir, wobei wir aber nicht an etwas bloß Animalisches denken, diese sozialen Impulse meinetwillen soziale Triebe, wobei wir aber schon bedacht sind darauf, daß der Trieb nicht bloß unbewußt oder instinktiv gedacht werden soll, sondern daß, wenn wir von sozialen Trieben sprechen, wir meinen: Wir stehen im Bewußtseinszeitalter, und der Trieb will eben ins Bewußtsein herauf.

Wenn nun so etwas geltend gemacht wird: Es gibt soziale Triebe, sie wollen sich verwirklichen - da setzt gerade in unserem Zeitalter gleich wiederum die furchtbare Einseitigkeit ein, die nicht beklagt werden soll, die ruhig angeschaut werden soll, weil sie überwunden werden muß. Der Mensch in unserer Zeit ist so sehr geneigt, alle Dinge einseitig zu betrachten! Das ist immer so, als wenn man nur gelten lassen wollte den Ausschlag eines Pendels nach der einen Seite, und niemals bedenken würde, daß das Pendel ja vom Mittelpunkt nach der einen Seite gar nicht ausschlagen kann, ohne daß es auch nach der anderen Seite ausschlägt. Ebensowenig wie ein Pendel nur nach der einen Seite ausschlagen kann, ebensowenig können sich äußern im Menschen die sozialen Triebe nur nach der einen Seite. Den sozialen Trieben stehen in der Menschennatur einfach selbstverständlich, wegen dieser Menschennatur, die antisozialen Triebe gegenüber. Und genau ebenso, wie in der Menschennatur es soziale Triebe gibt, gibt es antisoziale Triebe. Das muß vor allen Dingen berücksichtigt werden. Denn die sozialen Führer und Agitatoren, die geben sich der großen Illusion hin, daß sie nur irgendwelche Anschauungen und dergleichen zu verbreiten brauchen, oder irgendeine Menschenklasse aufzurufen brauchen, welche willig oder geneigt ist, die sozialen Triebe, wenn es Anschauungen sind, zu pflegen. Ja, das ist eben eine Illusion, so zu verfahren, denn da rechnet man nicht damit, daß ebenso, wie die sozialen Triebe da sind, sich die antisozialen Triebe immer geltend machen. Das, worum es sich heute handelt, ist, diesen Dingen ohne Illusionen ins Gesicht sehen zu können. Man kann ihnen nur ohne Illusionen ins Gesicht sehen vom Gesichtspunkte einer geisteswissenschaftlichen Betrachtung. Man möchte sagen: Die Menschen verschlafen das Allerwichtigste im Leben, wenn sie dieses Leben nicht vom Gesichtspunkte der geisteswissenschaftlichen Betrachtung ins Auge fassen.

Wir müssen uns fragen: Wie steht es eigentlich mit dem Verkehr des Menschen zum Menschen mit Bezug auf die sozialen und antisozialen Triebe? - Sehen Sie, ein Gegenüberstehen von Mensch und Mensch ist seiner Wirklichkeit nach im Grunde etwas recht Kompliziertes! Wir müssen natürlich den Fall, ich möchte sagen, radikal ins Auge fassen. Wohl ist das Gegenüberstehen ein verschiedenes, differenziert sich nach den verschiedenen Verhältnissen, aber wir müssen das gemeinsame Merkmal im Gegenüberstehen eines Menschen zum andern Menschen ins Auge fassen, müssen uns fragen: Was geschieht da eigentlich in der Gesamtwirklichkeit - nicht bloß in dem, was den äußeren Sinnesanschauungen sich darbietet -, was geschieht in der Gesamtwirklichkeit, wenn ein Mensch dem andern gegenübersteht? - Da geschieht nichts Geringeres, als daß eine gewisse Kraft wirkt von Mensch zu Mensch hinüber. Das Gegenüberstehen von Mensch zu Mensch bedeutet einfach, daß eine gewisse Kraft wirkt von Mensch zu Mensch. Wir können bei dem, was wir tun von Mensch zu Mensch nicht gleichgültig einander im Leben gegenüberstehen, nicht einmal in bloßen Gedanken und Empfindungen, sogar wenn wir dem Raume nach entfernt voneinander sind. Wenn wir irgendwie zu sorgen haben für den anderen Menschen, wenn wir irgendeine Verkehrsmöglichkeit zu schaffen haben, so wirkt eine Kraft von dem einen Menschen zu dem anderen hinüber. Das ist ja dasjenige, was dem sozialen Leben zugrunde liegt. Das ist dasjenige, was, wenn es sich verzweigt, verstrickt, eigentlich die soziale Struktur der Menschen begründet. Man bekommt natürlich das Phänomen am reinsten, wenn man an den unmittelbaren Verkehr von Mensch zu Mensch denkt: da besteht das Bestreben, durch den Eindruck, den der eine Mensch auf den andern macht, daß der Mensch eingeschläfert wird. Also das ist etwas Durchgehendes im sozialen Leben, daß der eine Mensch durch den anderen, mit dem er im Verkehr steht, eingeschläfert wird. Fortwährend ist - der Physiker würde sagen - die latente Tendenz da, daß im sozialen Verkehre ein Mensch den andern einschläfert.

Warum ist denn das so? Ja, sehen Sie, das beruht auf einer sehr wichtigen Einrichtung in der Gesamtwesenheit der Menschen. Es beruht darauf, daß im Grunde genommen dasjenige, was wir soziale Triebe nennen, eigentlich überhaupt nur beim gewöhnlichen gegenwärtigen Bewußtsein sich so recht aus der Seele des Menschen heraus entwickelt, wenn der Mensch schläft. Sie sind, insofern Sie nicht zur Hellsichtigkeit aufsteigen, eigentlich nur von sozialen Trieben durchsetzt, wenn Sie schlafen. Und nur das, was fortwirkt aus dem Schlaf in das Wachen herein, wirkt herein im Wachen als sozialer Trieb. Wenn Sie aber dieses wissen, so brauchen Sie sich nicht zu verwundern darüber, daß das soziale Wesen Sie einschläfern will durch das Verhältnis von Mensch zu Mensch. Im Verhältnis von Mensch zu Mensch soll sich entwickeln der soziale Trieb. Er kann sich nur entwickeln im Schlafe. Daher entwickelt sich im Verkehr von Mensch zu Mensch die Tendenz, daß der eine Mensch den andern behufs Herstellung eines sozialen Verhältnisses einschläfert. Das ist eine Tatsache, die frappierend ist, die sich aber dem Betrachter der Wirklichkeit des Lebens eben sogleich darbietet. Unser Verkehr von Mensch zu Mensch besteht darinnen, daß vor allen Dingen unser Vorstellungsvermögen in diesem Verkehre eingeschläfert wird, behufs der Herstellung der sozialen Triebe von Mensch zu Mensch.

Aber Sie können natürlich nicht fortwährend schlafend im Leben herumgehen. Die Tendenz, soziale Triebe herzustellen, besteht schon darinnen und drückt sich darinnen aus, daß Sie eigentlich fortwährend Neigung haben sollten zum Schlafen. Die Dinge, die ich bespreche, gehen natürlich alle unterbewußt vor sich, aber sie gehen nicht weniger wirklich und nicht weniger unser Leben durchsetzend fortwährend vor sich. Also es besteht gerade zur Herstellung der sozialen Menschheitsstruktur eine fortwährende Neigung, einzuschlafen.

Dagegen wirkt noch etwas anderes. Es wirkt das fortwährende Sichsträuben, das fortwährende Aufbäumen der Menschen gegen diese Tendenz, wenn sie eben nicht schlafen. So daß Sie, wenn Sie einem Menschen gegenüberstehen, immer in folgenden Konflikten drinnenstehen: Dadurch, daß Sie ihm gegenüberstehen, entwickelt sich in Ihnen immer die Tendenz, zu schlafen, das Verhältnis im Schlafe zu ihm zu erleben; dadurch, daß Sie nicht aufgehen dürfen im Schlafen, daß Sie nicht versinken dürfen im Schlafen, regt sich in Ihnen die Gegenkraft, sich wachzuhalten. Das spielt sich immer ab im Verkehr von Mensch zu Mensch: Tendenz zum Einschlafen, Tendenz, sich wachzuhalten. Tendenz, sich wachzuhalten, ist aber antisozial in diesem Fall, Behauptung der eigenen Individualität, der eigenen Persönlichkeit gegenüber der sozialen Struktur in der Gesellschaft. Einfach indem wir Mensch unter Menschen sind, pendelt unser inneres Seelenleben zwischen Sozialem und Antisozialem hin und her. Und dasjenige, was so als diese zwei Triebe in uns lebt, was zu beobachten ist zwischen Mensch und Mensch, wenn man Mensch und Mensch einander gegenüberstehen sieht und sie okkult beobachtet, das beherrscht unser Leben. Wenn wir Einrichtungen treffen - und entfernen sich diese Einrichtungen noch so sehr für das heutige sehr gescheite Bewußtsein von der Wirklichkeit - sie sind doch ein Ausdruck dieses Pendelverhältnisses zwischen sozialen und antisozialen Trieben. Die Nationalökonomen mögen darüber nachdenken, was Kredit ist, Kapital ist, Rente ist und so weiter; diese Dinge, die im sozialen Verkehr Gesetzmäßigkeit ausmachen, sind nur Ausschläge des Pendels dieser beiden Triebe, des sozialen und des antisozialen Triebes.

Sehen Sie, an diese Dinge müßte heute derjenige verständig anknüpfen, real wissenschaftlich anknüpfen, der daran denkt, die Heilmittel in dieser Zeit zu finden. Denn woher kommt es denn, daß in unserer Zeit die soziale Forderung sich erhebt? Nun, wir leben im Zeitalter der Bewußtseinsseele, wo der Mensch auf sich selbst sich stellen muß. Worauf ist er da angewiesen? Er ist darauf angewiesen, um seine Aufgabe, seine Mission in unserem fünften nachatlantischen Zeitraum zu erreichen, sich zu behaupten, sich nicht einschläfern zu lassen. Er ist gerade für seine Stellung in der Zeit angewiesen, die antisozialen Triebe zu entwickeln. Und es würde nicht die Aufgabe unseres Zeitraums vom Menschen erreicht werden können, wenn nicht gerade die antisozialen Triebe, durch die der Mensch sich auf die Spitze seiner eigenen Persönlichkeit stellt, immer mächtigere und mächtigere werden. Die Menschheit hat heute noch gar keine Ahnung davon, wie mächtig immerwährend bis ins dritte Jahrtausend hinein die antisozialen Triebe sich entwickeln müssen. Gerade damit der Mensch sich richtig auswächst, müssen die antisozialen Triebe sich entwickeln.

In früheren Zeitaltern war die Entwickelung der antisozialen Triebe nicht das geistige Lebensbrot der Menschheitsentwickelung. Daher brauchte man ihnen kein Gegengewicht zu setzen und setzte ihnen auch kein solches. In unserer Zeit, wo der Mensch um seiner selbst willen, um seines einzelnen Selbstes willen die antisozialen Triebe ausbilden muß - die sich schon ausbilden, weil der Mensch eben der Entwickelung unterworfen ist, gegen die sich nichts machen läßt -, da muß dasjenige kommen, was der Mensch den antisozialen Trieben nun entgegensetzt: eine solche soziale Struktur, durch die das Gleichgewicht dieser Entwickelungstendenz gehalten wird. Innen müssen die antisozialen Triebe wirken, damit der Mensch die Höhe seiner Entwickelung erreicht; außen im gesellschaftlichen Leben muß, damit der Mensch nicht den Menschen verliert im Zusammenhange des Lebens, die soziale Struktur wirken. Daher die soziale Forderung in unserer Zeit. Die soziale Forderung in unserer Zeit ist gewissermaßen nichts anderes als das notwendige Gegengewicht gegen die innere Entwickelungstendenz der Menschheit.

Sie sehen daraus zugleich, daß mit einseitiger Betrachtung überhaupt nichts getan ist. Denn denken Sie einmal, daß, so wie die Menschen nun einmal leben, gewisse Worte - ich will gar nicht sprechen von Ideen oder Empfindungen -, gewisse Worte « Wertigkeit », bestimmte Valeurs bekommen. Nun ja, « antisozial », das bekommt so etwas, was einen antipathisch anmutet, man betrachtet das als etwas Böses. Schön, nur kann man sich nicht viel darum kümmern, ob das als etwas Böses betrachtet wird oder nicht, da es etwas Notwendiges ist, da es - sei es bös, sei es gut - eben in unserem Zeitraum gerade mit den notwendigen Entwickelungstendenzen des Menschen zusammenhängt. Und wenn jemand dann auftritt und sagt, die antisozialen Triebe sollen bekämpft werden, so ist das ein ganz gewöhnlicher Unsinn, denn sie können nicht bekämpft werden. Sie müssen, nach der ganz gewöhnlichen Entwickelungstendenz der Menschheit, gerade das Innere des Menschen in unserer Zeit ergreifen. Nicht darum handelt es sich, Rezepte zu finden, um die antisozialen Triebe zu bekämpfen, sondern darauf kommt es an, die gesellschaftlichen Einrichtungen, die Struktur, die Organisation desjenigen, was außerhalb des menschlichen Individuums liegt, was das menschliche Individuum nicht umfaßt, so zu gestalten, so einzurichten, daß ein Gegengewicht da ist für dasjenige, was im Innern des Menschen als antisozialer Trieb wirkt. Daher ist es so notwendig, daß der Mensch in diesem Zeitraum mit seinem ganzen Wesen ausgegliedert wird von der sozialen Ordnung. Sonst kann das eine und das andere nicht rein sein.

Sehen Sie, in früheren Zeitaltern hatte man Stände, hatte man Klassen. Unser Zeitalter strebt über die Stände, strebt über die Klassen hinaus. Unser Zeitalter kann nicht mehr die Menschen in Klassen einteilen, sondern es muß den Menschen in seiner Gesamtheit gelten lassen und in eine solche soziale Struktur hineinstellen, daß nur das von ihm Abgesonderte sozial gegliedert ist. Deshalb sagte ich gestern im öffentlichen Vortrag: Im griechisch-lateinischen Zeitalter konnte noch das Sklaventum herrschen, da war der eine der Herr, der andere der Sklave, da waren die Menschen eingeteilt. Heute haben wir als Rest gerade dasjenige, was den Proletarier in solche Aufregung versetzt: daß seine Arbeitskraft Ware ist, daß also etwas, was in ihm ist, noch äußerlich organisiert ist. Das muß weg. Und nur dasjenige kann sozial gegliedert werden, was nicht am Menschen hängt: seine Position, der Ort, an den er hingestellt ist; nicht etwas, was in ihm selbst ist.

Das alles, was man in dieser Weise erkennt mit Bezug auf die notwendige Entwickelung des sozialen Lebens, das muß man wirklich heute so auffassen, daß so wie zum Beispiel der Mensch keinen Anspruch hat, rechnen zu können, wenn er nie das Einmaleins gelernt hat, er ebensowenig einen Anspruch darauf hat, in bezug auf Sozialreformen und dergleichen mitzureden, wenn er niemals solche Dinge gelernt hat, wie wir sie zum Beispiel jetzt auseinandersetzen: daß es Sozialismus und Antisozialismus gibt in der Weise, wie wir es jetzt konkret charakterisierten. Die Menschen, die heute oftmals an den wichtigsten Stellen unserer staatlichen oder sozialen Organisationen anfangen, von sozialen Forderungen zu reden, die kommen dem Wissenden vor wie Leute, die anfangen wollen, eine Brücke über einen reißenden Strom zu bauen, und die niemals auch nur gelernt haben den Satz von dem Parallelogramm der Kräfte oder dergleichen! Sie mögen ja eine Brücke bauen, diese Leute, aber sie wird bei der ersten Gelegenheit einstürzen. Und so kommen einem die sozialen Führer, oder auch jene, die andere soziale Einrichtungen heute pflegen, vor: ihre Einrichtungen werden bei der nächsten Gelegenheit sich als unmöglich erweisen, denn die Dinge erfordern, daß wir mit der Wirklichkeit arbeiten und nicht gegen sie. Das ist so unendlich wichtig, daß endlich einmal ernst gemacht wird mit dem, was ja, ich möchte sagen, der Grundnerv unserer anthroposophisch orientierten Geistesartung ist.

Einer von den Impulsen, die uns beseelen auf dem Gebiete unserer anthroposophischen Bewegung, ist doch der, daß wir gewissermaßen das, was die meisten Menschen nur für die erste Jugend gelten lassen, ins ganze Menschenleben hineintragen: Wir setzen uns, wenn wir vielleicht sogar längst grau geworden sind, noch auf die Schulbank, auf die Schulbank des Lebens allerdings. Das ist auch einer der Unterschiede, den wir machen gegenüber jenen Menschen draußen, welche glauben, daß sie, wenn sie bis zum fünfundzwanzigsten, sechsundzwanzigsten Jahre gebummelt und gebummelt - nein, ich will sagen, Kollegs belegt, nein, Kollegs studiert haben -, dann für das ganze Leben fertig seien! Dann gibt es ja höchstens noch ein höheres Selbstamusement, nicht wahr, und dergleichen, durch das man sich das eine oder das andere noch aneignet. Aber das ist dasjenige, was uns gründlich als Empfindung vor die Seele tritt, indem wir uns dem Nerv der geisteswissenschaftlichen Bewegung nähern: daß der Mensch wirklich sein ganzes Leben hindurch zu lernen hat, wenn er den Aufgaben dieses Lebens gewachsen sein will. Das ist so sehr wichtig, daß wir auch mit dieser Empfindung uns durchdringen. Wenn nicht gebrochen wird mit dem Glauben, daß man durch die Anlagen, die man entwickelt bis zum zwanzigsten oder fünfundzwanzigsten Jahre, schon alles beherrschen kann, daß man dann nur zusammenzukommen braucht in den Parlamenten oder sonstwo, und über alles entscheiden kann, solange nicht gebrochen wird mit dieser Anschauung, mit dieser Empfindung, solange kann nicht irgend etwas Heilsames in der sozialen Struktur der Menschen zustandekommen.

Das Wechselverhältnis von Sozialem und Antisozialem zu studieren, das ist gerade für unsere Tage außerordentlich bedeutsam. Das Antisoziale können wir aber bloß studieren, denn es liegt, wie ich auseinandergesetzt habe, in der Entwickelung unseres Zeitraums, daß dieses Antisoziale gerade zum Wichtigsten gehört, was sich Geltung verschaffen soll, und sich in uns selber zu entwickeln hat. Dieses Antisoziale kann nur in einem gewissen Gleichgewicht gehalten werden von dem Sozialen; aber das Soziale muß gepflegt werden, muß bewußt gepflegt werden. Und das wird in unserem Zeitalter in der Tat immer schwieriger und schwieriger, weil das andere, das Antisoziale, eigentlich das Natürliche ist. Das Soziale ist das Notwendige, das muß gepflegt werden. Und man wird sehen, daß in diesem fünften nachatlantischen Zeitraum eine Tendenz vorhanden ist, das Soziale gerade außer acht zu lassen, wenn man sich bloß sich selbst überläßt, wenn man nicht aktiv eingreift, wenn man nicht mittut in Seelentätigkeit. Was notwendig ist und was sehr bewußt erworben werden muß, während es früher instinktiv sich im Menschen geltend machte, das ist gerade das Interesse von Mensch zu Mensch. Der Grundnerv allen sozialen Lebens ist das Interesse von Mensch zu Mensch.

Es erscheint heute noch fast paradox, wenn man sagt: Die Menschen werden über die sogenannten schwierigen nationalökonomischen Begriffe keinen Aufschluß gewinnen, wenn nicht das Interesse von Mensch zu Mensch wächst, wenn nicht die Menschen anfangen, die Scheingebilde, welche im sozialen Leben herrschen, mit den Wirklichkeiten zu verbinden. Sehen Sie, wer denkt so ohne weiteres daran, daß einfach durch die Gliedlichkeit, in der er in der sozialen Ordnung drinnensteht, er eigentlich immer in einem komplizierten Verhältnis von Mensch zu Mensch ist? Nehmen Sie an, Sie haben eine Hundertfranken-Note in der Tasche und Sie verwenden diese Hundertfranken-Note, indem Sie an einem Vormittag gehen und einkaufen, soviel einkaufen, daß Sie diese Hundertfranken-Note ausgeben. Ja, was bedeutet das, daß Sie mit einer Hundertfranken-Note in der Tasche ausgehen? Die Hundertfranken-Note ist eigentlich ein Scheingebilde, ist in Wirklichkeit gar nichts wert und wäre es auch nicht, selbst wenn es Metallgeld wäre. Ich will heute nicht von den Metallisten und Nominalisten auf dem Gebiete der Geldtheorie sprechen; aber selbst wenn es ein Metallgeld ist, ist es eigentlich ein Scheingebilde, eigentlich gar nichts wert. Geld schaltet sich nämlich ein zwischen zwei anderen Dingen, und nur dadurch, daß eine gewisse soziale Ordnung, in unserer Zeit eben eine rein staatliche Ordnung besteht, dadurch ist diese Hundertfranken-Note, die Sie haben, und die Sie am Vormittag ausgeben für die verschiedensten Dinge, nichts anderes als der Äquivalenzwert für soundso viele Arbeitstage soundso vieler Menschen.

Soundso viele Menschen müssen soundso viele Arbeitstage absolvieren, soundso viel menschliche Arbeit muß einfließen in die menschliche soziale Ordnung, sich kristallisieren in Ware, damit überhaupt der Scheinwert einer Banknote zu einem wirklichen Wert wird - aber nur per Befehl der sozialen Ordnung. Die Banknote gibt Ihnen nur die Macht, soundso viel Arbeit in Ihren Dienst zu stellen, respektive über soundso viel Arbeit zu gebieten. Wenn Sie im Geiste das Bild vor sich haben: Da habe ich die Banknote, sie überträgt mir kraft der sozialen Position, in der ich drinnenstehe, die Macht über soundso viel Arbeiter, und wenn Sie jetzt sehen: Stunde für Stunde im Tag verkaufen andere die Arbeit dieser Arbeiter als Äquivalenzwert, als realen Äquivalenzwert dessen, was Sie in Ihrer Geldbörse als Hundertfranken-Note haben: dann haben Sie erst das Bild des Wirklichen.

So kompliziert sind unsere Verhältnisse geworden, daß wir ja auf diese Dinge gar nicht mehr achten, insbesondere wenn sie nicht so naheliegen. Ich habe ein naheliegendes Beispiel, wo die Sache leicht ist, ins Auge gefaßt. Bei dem schwierigeren Nationalökonomischen von Kapital und Rente und Kredit, wo die Sache ganz kompliziert liegt, da wissen nicht einmal die Universitätsprofessoren Bescheid, die Nationalökonomen meine ich, deren Amt es wäre, Bescheid zu wissen. Daraus können Sie schon entnehmen, wie in diesen Dingen gar wohl notwendig ist, daß die Dinge nun richtig angeschaut werden. Wir können uns natürlich nicht gleich heute damit befassen, die Nationalökonomie, die in einen hilflosen Zustand hineingetrieben ist durch das, was man heute lernt als Student der Nationalökonomie, zu reformieren. Aber wir können uns wenigstens fragen in bezug auf Volkspädagogik und dergleichen: Was ist vonnöten, damit das soziale Leben bewußt dem innerlichen antisozialen Leben entgegengestellt werden könne? Was ist da vonnöten? Ich sagte, es sei schwierig in unserer Zeit, das rechte Interesse von Mensch zu Mensch zu finden. Sie haben nicht das rechte Interesse, wenn Sie glauben, Sie können sich für eine Hundertfranken-Note etwas kaufen, und denken nicht daran, daß dies ein soziales Verhältnis bedingt zu soundso vielen Menschen und ihren Arbeitskräften. Erst dann haben Sie das rechte Interesse, wenn Sie jede solche Scheinhandlung, wie das Eintauschen von Waren für eine Hundertfranken-Note, durch die wirkliche Handlung, die mit ihr verbunden ist, ersetzen können in Ihrem Bilde.

Sehen Sie, die bloßen, ich möchte sagen, egoistischen, das Herz erwärmenden Redereien davon, daß wir unsere Mitmenschen lieben und diese Liebe ausführen, wenn wir gerade die allernächste Gelegenheit dazu haben, die machen das soziale Leben nicht aus. Diese Liebe ist zumeist eine furchtbar egoistische Liebe. Gar mancher unterstützt von dem, was er erst, man kann sagen erbeutet, in patriarchalischer Weise seine Mitmenschen, um sich dadurch ein Objekt zu schaffen für seine Selbstliebe, weil er sich da recht innerlich wärmen kann in dem Gedanken: Du tust das, du tust das. Man kommt nicht darauf, wie ein großer Teil der sogenannten Wohltätigkeitsliebe maskierte Selbstliebe ist.

Darum handelt es sich nicht, daß man bloß dieses Allernächste, eigentlich unserer Eigenliebe Frönende ins Auge faßt, sondern darum handelt es sich, daß man sich verpflichtet fühlt, den Blick hinzulenken auf die mannigfaltig verästelte soziale Struktur, in der wir drinnenstehen. Dazu müssen wir wenigstens die Grundlagen schaffen. Diese Grundlagen zu schaffen, sind heute sogar die wenigsten Menschen geneigt.

Ich möchte wenigstens vom Standpunkte der Volkspädagogik einen Satz besprechen, und das ist der: Wie können wir überhaupt den sich auf naturgemäße Weise entwickelnden antisozialen Trieben die sozialen Triebe entgegenstellen, bewußt entgegenstellen? Wie können wir sie so kultivieren, daß sich wirklich in uns anspinnt und immer weiter- und weitergeht und uns keine Ruhe läßt, wenn es nicht weitergeht, das Interesse von Mensch zu Mensch, das gerade in unserem Zeitalter der Bewußtseinsseele furchtbar geschwunden ist? Es sind ja Abgründe in unserem Zeitalter schon aufgerissen zwischen Mensch und Mensch! In einer Weise, wie es die Menschen gar nicht ahnen, gehen sie heute aneinander vorbei, ohne sich im geringsten zu verstehen. Die Sehnsucht, wirklich einzugehen auf den anderen Menschen, auf seine besondere Eigentümlichkeit, die ist heute eine sehr geringe. Wir haben auf der einen Seite den Schrei der Sozialität und auf der anderen Seite immer mehr und mehr das Einreißen des reinen antisozialen Triebes. Wie blind heute die Menschen aneinander vorbeigehen, das sieht man dann, wenn diese Menschen in den mannigfaltigsten Gesellschaften und Sozietäten sich vereinigen. Die sind heute oftmals für die Menschen durchaus nicht eine Gelegenheit, Menschenkenntnis sich zu erwerben. Die Menschen können heute jahrelang mit anderen Menschen zusammensein und sie nicht genauer kennen als sie sie kannten, als sie mit ihnen bekannt geworden sind. Gerade das ist notwendig, daß man, ich möchte sagen, in systematischer Weise in Zukunft zu dem Antisozialen das Soziale bringt. Innerlich-seelisch gibt es dafür verschiedene Mittel, unter anderem, wenn wir versuchen, öfter einmal im Leben auf unser eigenes diesmaliges Leben, auf die diesmalige Inkarnation zurückzublicken, wenn wir zu überschauen versuchen dasjenige, was sich abgespielt hat in unserem Leben zwischen uns und anderen Menschen, die in dieses Leben hereingetreten sind. Wenn wir da ehrlich sind heute, werden wir uns, wenigstens die meisten Menschen, sagen: Dieses Hereintreten von vielen Menschen in unser Leben, das betrachten wir heute doch zumeist so, daß wir unsere eigene Person auch in den Mittelpunkt unserer Lebensrückschau stellen. Was haben wir gehabt von dieser oder jener Person, die in unser Leben eingetreten ist? Das fragen wir uns ganz empfindungsgemäß. Das ist gerade etwas, was wir bekämpfen sollten. Wir sollten versuchen, im Bilde auftauchen zu lassen vor unserer Seele die Personen, die als Lehrer, Freunde, sonstige Förderer in unser Leben eingriffen, oder solche Personen, die uns geschädigt haben und denen wir von gewissen Gesichtspunkten aus manchmal mehr verdanken als jenen, die uns genützt haben. Diese Bilder sollten wir vor unserer Seele vorüberziehen lassen, uns ganz lebendig vorstellen, was jeder an unserer Seite für uns getan hat. Und wir werden sehen, wenn wir auf diese Weise verfahren, daß wir allmählich uns selber vergessen lernen, daß wir finden, wie eigentlich fast alles, was an uns ist, gar nicht da sein könnte, wenn nicht diese oder jene Personen fördernd oder lehrend, oder sonst irgendwie in unser Leben eingegriffen hätten. Dann erst, namentlich wenn wir zurückschauen auf länger vergangene Jahre und auf die Personen, mit denen wir vielleicht nicht mehr in Beziehung stehen, denen gegenüber wir leichter zur Objektivität kommen, wird sich uns zeigen, wie die seelische Substanz unseres Lebens aufgesogen wird von dem, was auf uns Einfluß genommen hat. Unser Blick erweitert sich über eine Schar, die im Laufe der Zeit an uns vorübergegangen ist. Wenn wir versuchen, Sinn dafür zu entwickeln, wieviel wir zu danken haben der einen oder der anderen Person, versuchen, in dieser Weise uns selber im Spiegel derjenigen zu sehen, die im Laufe der Zeit auf uns gewirkt haben und mit uns zusammen waren, dann löst sich allmählich - wir werden das erfahren können - ein Sinn von uns los, der im folgenden besteht: Weil wir uns geübt haben, Bilder von in der Vergangenheit mit uns zusammenhängenden Persönlichkeiten zu finden, so löst sich von unserer Seele ein Sinn los, nun auch dem Menschen gegenüber zu einem Bilde zu kommen, dem wir in der Gegenwart gegenübertreten, dem wir dann von Angesicht zu Angesicht in der Gegenwart gegenüberstehen. Und das ist das ungeheuer Wichtige, daß in uns der Trieb erwacht, nicht bloß den Menschen, wenn wir ihm gegenüberstehen, nach Sympathien und Antipathien zu empfinden, nicht bloß in uns den Trieb erwachen zu lassen, irgend etwas am Menschen zu lieben oder zu hassen, sondern ein liebe- und haßfreies Bild, wie der Mensch ist, in uns zu erwecken. Sie werden vielleicht nicht empfinden, daß das, was ich jetzt sage, etwas ungeheuer Wichtiges ist. Es ist etwas Wichtiges. Denn diese Fähigkeit, ohne Haß und Liebe ein Bild des anderen Menschen in sich gegenwärtig zu machen, den anderen Menschen seelisch in sich auferstehen zu lassen, das ist eine Eigenschaft, die mit jeder Woche in der Entwickelung der Menschen, ich möchte sagen, mehr oder weniger dahinschwindet, das ist etwas, was die Menschen nach und nach ganz verlieren. Sie gehen aneinander vorbei, ohne daß der Trieb in ihnen erwacht, den anderen Menschen in sich auferwachen zu lassen. Das ist aber etwas, was bewußt gepflegt werden muß. Das ist etwas, was auch in die Kinder- und Schulpädagogik einziehen muß: diese Fähigkeit, am Menschen das imaginative Vermögen zu entwickeln. Denn am Menschen können wir zunächst wirklich das imaginative Vermögen entwickeln, wenn wir uns nicht scheuen, statt dessen, was heute in den Sensationen des Lebens angestrebt wird, still in uns selbst jene Rückschau zu machen, die uns die vergangenen Beziehungen zu den Menschen vor die Seele stellt. Dann werden wir auch in die Lage kommen, imaginativ uns zu verhalten zu den Menschen, die in der Gegenwart uns gegenübertreten. Dann stellen wir den sozialen Trieb dem entgegen, was sich ganz notwendig und unbewußt immer mehr entwickelt: dem antisozialen Trieb. Das ist das eine.

Das andere ist etwas, was mit dieser Rückschau der Beziehungen zu Personen verknüpft werden kann: daß wir versuchen, uns selber immer objektiver zu werden. Da müssen wir wiederum in frühere Zeiten zurückgehen. Da können wir aber, ich möchte sagen, direkt losgehen auf die Tatsachen selbst, zum Beispiel darüber nachdenken, wenn Sie, sagen wir, dreißig, vierzig Jahre alt sind: Ja, wie war es denn damals, als ich zehn Jahre alt war? Ich will mich zuerst einmal so ganz in der Situation drinnen vorstellen, ich will mich so vorstellen, wie wenn ich einen anderen zehnjährigen Jungen oder ein zehnjähriges Mädchen mir vorstelle; ich will einmal vergessen, dass ich das gewesen bin, ich will mich wirklich bemühen, mich zu verobjektivieren. Dieses Sich-Verobjektivieren, dieses sich in der Gegenwart loslösen von seiner Vergangenheit, dieses Herausschälen des Ich aus seinen Erlebnissen, das müssen wir in der Gegenwart besonders anstreben; denn die Gegenwart hat die Tendenz, das Ich immer mehr und mehr zu verknüpfen mit den Erlebnissen. Heute will der Mensch ganz instinktiv das sein, was ihm seine Erlebnisse geben. Deshalb ist es ja so schwer, die Aktivität zu erlangen welche die Geisteswissenschaft gibt. Da muß man jedesmal neu den Geist anstrengen, da kann man sich nicht aufs Behalten verlegen. - Sie werden ja auch wirklich bemerken: mit dem Behalten, mit dem bequemen Behalten läßt sich in der wahren Geisteswissenschaft nichts machen. Man vergißt die Dinge, muß sie immer wieder pflegen; das ist aber gerade gut, das ist gerade das Richtige, daß man sich immer von neuem anstrengen muß. Derjenige nämlich, der recht fortgeschritten ist gerade in bezug auf das geisteswissenschaftliche Gebiet, der versucht jeden Tag, die allerelementarsten Dinge sich vor Augen zu führen; die andern schämen sich, dies zu tun. In der Geisteswissenschaft soll nichts davon abhängen, daß man sich die Sache gedächtnismäßig merkt, weil ja alles darauf ankommt, daß man es im unmittelbaren Erleben der Gegenwart anfaßt. Und so handelt es sich darum, daß wir uns gerade zu dieser Fähigkeit hinordnen dadurch, daß wir uns verobjektivieren, daß wir uns diesen Kerl oder diese Kerlin so vorstellen, als wenn es ein uns fremdes Wesen in früheren Lebensaltern wäre, uns immer mehr bemühen, loszukommen von den Erlebnissen, immer weniger und weniger als Dreißigjähriger noch so zu sein, daß eigentlich nur die Impulse des Zehnjährigen noch nachspuken. Uns loslösen von unserer Vergangenheit, das ist nicht etwas, was unsere Vergangenheit verleugnen heißt - wir gewinnen sie auf andere Weise wiederum zurück; aber das ist etwas, was ungeheuer wichtig ist. Also auf der einen Seite pflegen wir bewußt den sozialen Trieb, den sozialen Impuls, indem wir uns die Imaginationen für den Menschen der Gegenwart verschaffen dadurch, daß wir auf die Menschen, die in der Vergangenheit in Beziehung mit uns gewesen sind, hinsehen und uns selber seelisch wie das Produkt dieser Menschen ansehen. Auf der anderen Seite gewinnen wir durch unsere Verobjektivierung die Möglichkeit, direkt die Imagination von uns selbst zu entwickeln. Diese Verobjektivierung in frühere Zeiten nützt uns dann, wenn sie nicht unbewußt in uns wirkt. Denken Sie nur: Wenn unbewußt der zehnjährige Kerl oder die zehnjährige Kerlin in Ihnen weiterwirkt, so sind Sie, der Dreißigjährige oder Vierzigjährige, vermehrt um den Zehnjährigen; aber Sie sind auch vermehrt um den Elf-, Zwölfjährigen und so weiter. Der Egoismus ist ungeheuer potenziert. Er wird immer geringer und geringer, wenn Sie das Frühere von sich absondern, wenn Sie es verobjektivieren, wenn es mehr Gegenstand wird. Das ist das, was bedeutungsvoll ist, was wir ins Auge fassen müssen.

Und so wird Grundvoraussetzung sein - das sollte heute eigentlich dem Volke, das unverständig, in illusionistischer Weise soziale Forderungen erhebt, immer klarer und klarer gemacht werden -: Es sollte Einsicht herrschen, wie der Mensch erst sich selber zum sozial wirkenden Wesen macht in dem Zeitalter, in dem gerade die antisozialen Triebe zur Erhöhung der Menschennatur herauskommen müssen.

Was wird dann geschaffen? Die ganze Bedeutung dessen, was ich jetzt auseinandergesetzt habe, finden Sie, wenn Sie folgendes bedenken. Sehen Sie, 1848, da erschien die erste gewissermaßen wirksame Schrift, die heute nachwirkt selbst im radikalsten Sozialismus, im Bolschewismus: « Das Kommunistische Manifest » von Karl Marx, worin zusammengefaßt war dasjenige, was in den Köpfen und auch in den Herzen des Proletariers vielfach herrscht. Karl Marx hat die proletarische Welt zu erobern vermocht aus dem einfachen Grunde, weil er das gesagt hat, was der Proletarier versteht, was er dadurch, daß er proletarisch ist, denkt. 1848 ist dieses « Kommunistische Manifest », dessen Inhalt ich Ihnen nicht auseinanderzusetzen brauche, erschienen. Es war das erste Dokument, die erste Aussaat zu dem, was jetzt, nachdem andere widerstrebende Dinge zerstört worden sind, eben als Frucht aufgeht. Ein Wort enthält dieses Dokument, einen Satz, den Sie heute fast in jeder sozialistischen Schrift zitiert finden: « Proletarier aller Länder, vereinigt euch!» Das ist ein Satz, der durch alle möglichen sozialistischen Vereinigungen ging: « Proletarier aller Länder, vereinigt euch!» Was drückt er denn aus? Er drückt aus das Allerallerunnatürlichste, das man sich für unser Zeitalter denken kann. Er drückt aus einen Impuls für die Sozialisierung, für die Vereinigung einer gewissen Menschenmasse. Worauf soll diese Vereinigung, diese Sozialisierung gebaut werden? Auf den Gegensatz, auf den Haß gegen diejenigen, die nicht Proletarier sind. Die Sozialisierung, das Zusammensein der Menschen, soll gebaut werden auf dem Auseinandersein! Sie müssen das nur bedenken, und Sie müssen die Realität dieses Prinzips verfolgen in dem, was heute als reale Illusion - wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf, Sie werden ihn verstehen - zuerst in Rußland aufgetreten ist, jetzt auch in Deutschland, in den österreichischen Ländern, und immer weiter- und weiterfressen wird. Deshalb ist es das Unnatürlichste, weil es auf der einen Seite ausdrückt die Notwendigkeit der Sozialisierung und auf der andern Seite diese Sozialisierung gerade gebaut wird auf dem antisozialsten Instinkt, nämlich dem Klassenhaß, dem Klassengegensatz.

Solche Dinge muß man aber eben nur im höheren Lichte betrachten, sonst kommt man nicht weit; sonst kommt man vor allen Dingen nicht zu einem heilsamen Eingreifen in den Gang der Menschheitsentwickelung an dem Platze, an dem man steht. Und es gibt heute kein Mittel außer der Geisteswissenschaft, diese Dinge wirklich im umfassenden Sinne zu sehen, das heißt seine Zeit zu verstehen. Geradeso wie man sich davor scheut, einzugehen auf das, was als Geist und Seele dem physischen Menschen zugrunde liegt, so scheut man sich, so will man auch - weil man Furcht hat, mutlos ist - nicht eingehen auf dasjenige, was man im sozialen Leben nur mit dem Geist erfassen kann. Die Leute fürchten sich davor, machen sich Binden vor die Augen, stecken, wie der Vogel Strauß, den Kopf in den Sand vor solchen allerdings sehr realen, bedeutungsvollen Dingen: daß wenn Mensch dem Menschen gegenübersteht, der eine Mensch immer einzuschläfern bemüht ist, und der andere Mensch sich immerfort aufrecht erhalten will. Das ist aber, um im Goetheschen Sinne zu sprechen, das Urphänomen der Sozialwissenschaft. Aber es greift hinaus über dasjenige, was ein bloß materialistisches Denken zu wissen vermag, es greift hinein in dasjenige, was nur erfaßt werden kann, wenn man weiß, daß man im menschlichen Leben nicht nur schläft, wenn man auf der faulen Haut liegt und grobklotzig schläft, stundenlang schläft, sondern daß auch in das sogenannte wache Leben fortwährend die Tendenz des Schlafens hineinspielt, daß eigentlich dieselben Kräfte, die uns morgens aufwachen und abends einschlafen lassen, fortwährend im alleralltäglichsten Leben spielen und in ihrem Spiele mitverwirklichen das Soziale und Antisoziale. Es kann nichts werden aus allem Denken über menschliche soziale Ordnung, es kann nichts werden aus der einzelnsten Einrichtung, wenn man sich nicht bemüht, diese Dinge wirklich ins Auge zu fassen.

Von diesem Gesichtspunkte ausgehend ist es notwendig, auch vor den sich über die Erde verbreitenden Tatsachen den Blick nicht blind zu machen für diese Tatsache, sondern hinzuschauen auf dasjenige, was über die Erde zieht. Der Sozialist von heute, was denkt er? Er denkt, er kann soziale Maximen, sozialistische Maximen ausdenken, oder die Menschen über alle Länder der Erde aufrufen: « Proletarier aller Länder, vereinigt euch!», und dann muß es möglich sein, über die ganze Erde international, wie man heute sagt, so eine Art Paradies herzustellen.

Nun, das ist eine der größten Illusionen, und eine der verderblichsten, die es geben kann! Die Menschen sind nicht nur der abstrakte Mensch, sondern sie sind konkrete Menschen. Dasjenige, was zugrunde liegt, ist, daß jeder Mensch eine Individualität ist. Das versuchte ich geltend zu machen in meiner « Philosophie der Freiheit » gegenüber dem nivellierenden Kantianismus und Sozialismus. Aber die Menschen sind auch nach Gruppen über die Erde hin differenziert. Und eine dieser Differenzierungen wollen wir besprechen, damit wir sehen können, daß man nicht einfach sagen kann: Du fängst im Westen an, und führst durch den Osten und über die ganze Erde hin eine gewisse soziale Ordnung durch, bis du wieder zurückkommst. Wie man eine Weltreise gemacht hat in früheren Zeiten, so möchte man den Sozialismus heute über die ganze Erde verbreiten, und man betrachtet die Erde als eine Kugel, wo man, wenn man im Westen anfängt, im Osten ankommt. Die Menschen sind über die Erde hin differenziert, und in der Differenzierung lebt gerade wiederum ein Impuls, wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf, ein Motor des Fortschritts.

In dieser Weise sehen Sie es veranlagt, daß gerade ganz besonders die Bewußtseinsseele zum Ausdruck kommen muß in unserem Zeitalter. Ich möchte sagen: Durch ihr Blut, durch ihre Geburtsanlagen, durch ihre Vererbungsanlagen darauf eingerichtet, daß der Menschheit die Bewußtseinsseele eingeprägt wird, sind eigentlich nur die Menschen der englisch sprechenden Bevölkerung in unserer Zeit. So ist einmal die Menschheit differenziert. Die Menschen der englisch sprechenden Bevölkerung sind heute dafür besonders veranlagt, die Bewußtseinsseele auszubilden, so daß sie in einer gewissen Weise die repräsentativen Menschen für diese fünfte nachatlantische Zeit sind; sie sind dafür ausgebildet.

Die Menschen des Ostens müssen in anderer Weise die richtige Entwickelung der Menschheit repräsentieren, bewirken. Bei den Menschen des Ostens, schon beginnend bei der russischen Bevölkerung, dann mit dem ganzen asiatischen Hintervolke, das nur die Nachschübe bilden wird, ist es so, daß nun gerade ein Anstürmen, ein Sichsträuben gegen dieses Instinktiv-Selbstverständliche in der Entwickelung der Bewußtseinsseele stattfindet. Die Menschen des Ostens wollen dasjenige, was das hauptsächlichste Seelenvermögen in unserer Zeit ist, den Intellekt, nicht mit Erlebnissen vermischen; das wollen sie loslösen und es aufsparen für das folgende Zeitalter, für den sechsten nachatlantischen Zeitraum, wo dann ein Zusammenschluß stattfinden soll, nun nicht mit dem Menschen, wie er heute ist, sondern mit dem dann entwickelten Geistselbst. Also während die charakteristische Kraft unseres Zeitraumes wegen der Zeitentwickelung gerade vom Westen aus da ist, und zwar von der englisch sprechenden Bevölkerung besonders kultiviert werden kann, sind wiederum die Menschen des Ostens als Volkstum - der Einzelne ist damit nicht gemeint, er ragt als eine Individualität immer aus seinem Volkstum heraus, es handelt sich ums Volkstum - dazu da, gerade das nicht aufkommen zu lassen in ihren Seelenkräften, was das Charakteristische des Zeitraums ist, damit sich keimhaft in ihnen dasjenige entwickeln kann, was erst für den folgenden Zeitraum, der im vierten Jahrtausend beginnen wird, das ganz besonders Maßgebende ist. So ist das einmal, daß im Menschenleben und Menschenwesen Gesetzmäßigkeit ist. In bezug auf die Natur wundern sich die Menschen heute nicht, daß sie, sagen wir, Eis nicht anzünden können, daß da alles einer Gesetzmäßigkeit unterliegt. Aber in bezug auf die soziale Struktur der Menschheit, da glauben die Menschen, daß man in Rußland zum Beispiel nach denselben sozialen Grundsätzen eine soziale Struktur bewirken kann wie in England oder Schottland oder gar in Amerika. Das kann man nicht; denn die Welt ist gesetzmäßig organisiert, und nicht so, daß man willkürlich überall alles tun kann. Das ist dasjenige, was ins Auge zu fassen ist.

Und in den Mittelländern ist nun eben gerade der mittlere Zustand. Da ist es so, daß man, wie man sagen könnte, in einem labilen Gleichgewichte ist nach der einen und nach der anderen Seite hin. So daß Sie die Bevölkerung über die Erde hin dreigegliedert haben. Sie können nicht sagen: « Proletarier aller Länder, vereinigt euch!», denn diese Proletarier sind auch dreigliedrig differenziert. Dreigliedrig ist die Bevölkerung. Sehen wir noch einmal die Bevölkerung des Westens an, so finden wir für alle, die englisch sprechen - als Volkstum, der Einzelne kann sich sehr herausheben -, eine besondere Begabung, eine besondere Veranlagung, eine besondere Mission, diese Bewußtseinsseele auszubilden, das heißt, im Zeitalter der Bewußtseinsseele die charakteristischen Eigenschaften in dem Seelenglied nicht loszureißen, sondern die Ausbildung der Intelligenz, die besondere Eigenheit der Intelligenz mit den Erlebnissen zu verbinden. Selbstverständlich, instinktiv, möchte ich sagen, triebmäßig sich in die Welt hineinzustellen als Bewußtseinsseelenmensch, darauf beruht die ganze Größe in der Ausbreitung des Britischen Reiches! Darinnen liegt das Urphänomen in der Ausbreitung des Britischen Reiches, daß dasjenige, was in der Anlage seiner Menschen beruht, gerade zusammenfällt mit dem innersten Impuls dieses Zeitalters. Sie wissen, das Wesentliche über das alles finden Sie schon in meinem Vortragszyklus über die europäischen Völkerseelen, da ist ja alles dieses schon enthalten, in jenem Vortragszyklus, der lange vor dem Kriege gehalten worden ist, und der eigentlich das wesentlichste Material zur objektiven Beurteilung dieser kriegerischen Katastrophe bietet.

Nun bedingt gerade diese Veranlagung, die mit der Entwickelung der Bewußtseinsseele zusammenhängt, daß bei der englisch sprechenden Bevölkerung vorliegt die besondere Geeignetheit für das politische Leben. Man kann studieren, wie die politische Art, Gesellschaften, Strukturen einzuteilen, sich von England aus überall hin verbreitet hat, wo aus dem älteren vierten nachatlantischen Zeitraum die Dinge geblieben sind - die sind, so wie sie da sind, zurückgeblieben - bis in die ungarische Komitateneinteilung mit dem Obergespan an der Spitze; also bis in diese turanischen Volksglieder Europas hinein hat sich verbreitet dieses politische Denken Englands, weil eben nur aus diesem Blute heraus dieses politische Denken des fünften nachatlantischen Zeitraums kommen kann. Für Politik sind diese Leute besonders veranlagt. Es hilft nicht, heute ein Urteil zu fällen über diese Dinge - da entscheiden nur Notwendigkeiten. Es kann einem sympathisch oder antipathisch sein, das ist Privatangelegenheit. Für die Angelegenheiten der Welt aber entscheiden objektive Notwendigkeiten. Es ist wichtig, sich diese objektiven Notwendigkeiten gerade heute im Zeitalter der Bewußtseinsseele vor Augen zu führen.

Goethe hat in seinem « Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie » die Kräfte, die in der menschlichen Seele sind, als drei Glieder angeführt: Gewalt, Schein oder Erscheinung, Erkenntnis und Weisheit - der eherne König, der silberne König, der goldene König. In diesem Märchen ist, wenn man von Herrschaftsverhältnissen spricht, vieles in einer sonderbaren Weise ausgesprochen, was sich heute vorbereitet und immer weiter- und weitergehen wird. So muß man eben darauf hinweisen, daß dasjenige, was Goethe symbolisiert mit dem ehernen König, dem Impuls der Gewalt, sich über die Erde hin ausbreitet von der englisch sprechenden Bevölkerung aus. Das ist wegen des Zusammenfallens der Bewußtseinsseelenkultur mit der besonderen Anlage des Britentums und des Amerikanertums eine Notwendigkeit.

Sehen Sie, in den Mittelländern, die jetzt schon in das Chaos mit hineingerissen sind, da ist ein labiles Gleichgewicht zwischen dem Hinneigen des Intellekts zu der Bewußtseinsseele und dem sich Losreißenwollen, und daher überwiegt einmal das eine, dann das andere. Da ist eine ganz andere Tendenz. Die Mittelländer sind alle nicht zur Politik veranlagt. Wenn sie politisch sein wollen, sind sie sehr dazu veranlagt, aus der Realität herauszufallen, die immer da ist, wenn das politische Denken in der anglo-amerikanischen Bevölkerung erdfest dasteht, verankert in der Seele. In den Mittelländern ist die zweite der Seelenkräfte herrschend: Schein, Erscheinung. Diese Mittelländer bringen auch die Intellektualität mit besonderem Glanz in Erscheinung. Vergleichen Sie damit irgend etwas, was von der englisch sprechenden Bevölkerung ausgeht in bezug auf Gedanken: diese Gedanken sind fest zusammenhängend mit der erdfesten Realität. Nehmen Sie die glänzenden Leistungen gerade des deutschen Geistes, so finden Sie, es ist mehr eine ästhetische Gestaltung der Gedanken, wenn diese ästhetische Gestaltung auch die logische Form annimmt. Da ist besonders hervorragend, wie man einen Gedanken zum andern hinüberleitet, weil dann das, was besondere Veranlagungen hat, in Dialektik, in ästhetischer Durcharbeitung der Gedanken erscheint. Will man das auf die erdfeste Realität anwenden, will man gar Politiker damit werden, so kann man leicht unwahr werden, kann man leicht auf diese Weise in den sogenannten träumerischen Idealismus hineinkommen, wo man Einheitsreiche begründen will, wo man schwärmt für Einheitsreiche durch Jahrzehnte, und nachher Gewaltreiche begründet, von dem einen ins andere verfällt. Es ist niemals irgendwo das politische Leben so in zwei Kontrasten zusammengestoßen wie die deutschen Einheitsträume von 1848 mit dem, was dann begründet wurde 1871. Da sehen Sie das Schwanken, das Hin- und Herpendeln dessen, was eigentlich nach der ästhetischen Gestaltung strebt, und was unwahr werden, Scheingebilde, Traumgebilde werden kann, wenn es sich auf den Boden der Politik stellen will. Denn da ist keine Anlage zur Politik; wenn politisiert wird, wird geträumt oder gelogen. - Das sind Dinge, die durchaus nicht mit Sympathie oder Antipathie gesagt werden dürfen, auch nicht gesagt werden dürfen, um anzuklagen oder freizusprechen, sondern die gerade gesagt werden, weil sie entsprechen auf der einen Seite der Notwendigkeit, auf der andern Seite der Tragik. Das sind Dinge, die man eben ins Auge fassen muß.

Und dann blicken Sie nach dem Osten, auf das, was sich da vorbereitet. Da geht die Sache so weit, daß man, wenn man etwas radikal spricht, sagen kann: Nun, der Deutsche, wenn er politisch werden will, so verfällt er ins Träumen, in den Idealismus; wenn es gut wird, in den schönen Idealismus, wenn es schlimm wird, in die Unwahrhaftigkeit. Der Russe, wenn er politisch werden will, wird überhaupt krank, oder stirbt daran, am Politischwerden. Er ist so gar nicht veranlagt dafür, daß er daran krank wird, daß er daran stirbt. Das ist nur etwas deutlich, radikal ausgesprochen, aber die Erscheinung ist diese. Es ist gar nichts in der russischen Volksseele, was innerlich verwandt ist mit dem Gründlichen dieses Politischen der englischen oder amerikanischen Volksseele. Dafür ist eben dieser Osten veranlagt, hinüberzutragen den Intellekt, den er loslöst von dem selbstverständlichen Verknüpftsein mit den Erlebnissen, in das künftige Zeitalter des Geistselbstes.

So muß man kennen, wie die Anlagen der Menschen über die Erde hin differenziert sind. Und das drückt sich aus bis in die bedeutsamsten Erlebnisse hinein. Sie alle kennen aus den verschiedensten Besprechungen, die gepflogen worden sind, dasjenige, was man nennt im höheren übersinnlichen Erleben die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle. Auch die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle hat Differenzierungen. Natürlich, wenn die Einweihung, die Initiation völlig unabhängig erfolgt von jedem Volkstum, da ist die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle auch allseitig. Wird aber von einseitigen Menschen oder Gesellschaften eine Einweihung besorgt, und geschieht sie volkstümlich, so differenziert sich auch das Erlebnis mit dem Hüter. Es ist der Mensch, welcher der englisch sprechenden Bevölkerung angehört, wenn er nicht von höheren Geistern, die ja führend sind, sondern vom Volksgeist initiiert wird, vorzugsweise dafür veranlagt, zur Schwelle diejenigen geistigen Wesenheiten mit hinzubringen, die uns als ahrimanische Geister fortwährend in der Welt hier umgeben, die uns begleiten, wenn wir zur Schwelle nach der übersinnlichen Welt hingehen, und die wir dann mitnehmen können, wenn sie gewissermaßen eine Neigung für uns entwickeln. Sie führen uns vor allen Dingen zum Anblick der Mächte von Krankheit und Tod. So daß Sie von den weitaus meisten in anglo-amerikanischen Ländern in die übersinnlichen Geheimnisse Eingeweihten, die an die Schwelle getreten sind, hören werden, daß sie als dem wichtigsten Erlebnisse einer Erkenntnis der übersinnlichen Welt zuerst begegnet sind denjenigen Mächten, die Krankheit und Tod aussprechen. Sie lernen das als etwas außer ihnen Stehendes kennen.

Gehen Sie in die Mittelländer, und wirkt da der Volksgeist mit bei der Initiation, hebt man den zu Initiierenden nicht heraus aus dem Volkstum zum Allmenschlichen, sondern wirkt der Volksgeist mit, so ist da das erste, das bedeutendste Ereignis, daß man aufmerksam wird auf jene Kämpfe, welche stattfinden zwischen gewissen Wesenheiten, die nur der geistigen Welt angehören, die jenseits des Stromes stehen, und gewissen Wesenheiten, die hier in der physischen Welt stehen, diesseits des Stromes, aber unsichtbar für das gewöhnliche Bewußtsein. Da findet ein fortwährender Kampf statt. Auf diesen Kampf wird man in den Mittelländern zunächst aufmerksam. Dieser Kampf, auf den man da aufmerksam wird, pulsiert an der Schwelle dadurch herauf, daß man in den Mittelländern, wenn man ein ernster Wahrheitssucher ist, namentlich durchtränkt ist von den Mächten des Zweifels. Man wird bekannt mit all dem, was die Mächte des Zweifels sind, was die Mächte der Vielseitigkeit sind. Man ist in westlichen Gebieten viel mehr geneigt, sich mit einer geraden Wahrheit zufriedenzugeben; in den Mittelländern fällt einem sogleich die andere Seite der Sache ein. Man schwebt eben da auch in bezug auf das Wahrheitssuchen im Labilen: Jedes Ding hat zwei Seiten. Man ist ein Philister, wenn man in den Mittelländern überhaupt einer geraden, einseitigen Behauptung sich hingibt. Das muß man aber auch tragisch erleiden, wenn man an die Schwelle kommt. Man muß da aufmerksam darauf werden, wie dieser Kampf, der an der Schwelle stattfindet zwischen den Geistern, die nur dem Geistleben, und denen, die nur der sinnlichen Welt angehören, alles das bedingt, was im Innern des Menschen den Zweifel hervorruft, das Schwanken in bezug auf die Wahrheit, die Notwendigkeit, sich zu der Wahrheit erst erziehen zu lassen, nichts auf die anerkannten Impulse der Wahrheit zu geben.

Gehen Sie nach den Ostländern und fragen, und es steht da der Volksgeist Pate bei dem zu Initiierenden, wenn da der Mensch also an die Schwelle geführt wird unter Patenschaft des Volksgeistes, dann sieht derjenige, der diesen östlichen Völkerschaften angehört, vor allen Dingen alle die Geister, welche auf die menschliche Selbstsucht wirken. All das sieht er, was Veranlassung geben kann zur menschlichen Selbstsucht. Das sieht zum Beispiel der Westländer, der an die Schwelle tritt, nicht als erstes. Er sieht die Geister, welche als Krankheit und Tod im weitesten Sinne, als lähmende, als zerstörende, nach abwärts führende Kräfte in die Welt und Menschheit eindringen. Derjenige, der im Osten initiiert wird, sieht zuerst an der Schwelle all das, was an den Menschen herantritt, um ihn zur Selbstsucht zu verleiten.

Daher ist das Ideal, welches vor allen Dingen im Westen aus der Initiation hervorgeht: Gesund zu machen, die Menschen gesund zu erhalten, zu bewirken, daß für alle Menschen äußere gesundheitliche Entwickelungsmöglichkeit da sei. Im Osten geht vor allen Dingen, selbst aus dem instinktiven Bekanntsein, dem nur religiösen Bekanntsein mit dem Initiationstum, der Drang hervor, sich klein zu fühlen dem Erhabenen der geistigen Welt gegenüber. Denn es sind die Mächte, die einem zuerst aus der geistigen Welt entgegenkommen. Auf das Erhabene wird der Mensch des Ostens der geistigen Welt gegenüber zunächst hingewiesen, darauf, die Selbstsucht zu kurieren, auszutreiben die Selbstsucht, weil er auf ihre Gefahren verwiesen wird. Selbst im äußeren Volkscharakter drückt sich das im Osten aus. Und manches, was dem Westländer unsympathisch ist an dem östlichen Volkscharakter, das rührt davon her, was sich gerade an der Schwelle zeigt.

So differenzieren sich gerade dann die menschlichen Eigenschaften, wenn wir auf die innere Entwickelung, auf die innere Gestaltung des Geistig-Seelischen am Menschen sehen. Das ist wichtig, daß man von diesen Dingen den Blick nicht abwendet. Sie konnten in gewissen okkulten Kreisen der englisch sprechenden Bevölkerung, dort, wo man mit diesen Dingen bekannt ist - wenn auch gerade unter Patenschaft des Volksgeistes -, in der ganzen zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts prophetisch hingewiesen finden auf Dinge, die sich heute vollziehen. Denken Sie, was es geheißen hätte, wenn die Menschen des übrigen Europa, außer der englisch sprechenden Bevölkerung, sich nicht beide Ohren zugestopft und beide Augen verbunden hätten vor dem Aufmerksammachen auf diese Dinge! Ich will Ihnen eine Formel sagen, die immer wiederum in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts da ausgesprochen worden ist, es ist diese: In Rußland muß, damit das russische Volk sich entwickeln kann, der russische Staat verschwinden, denn in Rußland müssen sozialistische Experimente vollführt werden, die niemals in westlichen Ländern vollführt werden können. - Dies ist eine für den Nichtengländer vielleicht unsympathische, aber große, durchgreifende Weisheit, Gescheitheit im höchsten Maße. Und derjenige, der diese Dinge so in sich hat, daß er daran glauben kann als den Impulsen, an deren Verwirklichung er sich beteiligt, der steht eben in seinem Zeitalter wirklich drinnen, während der andere sich heraussetzt.

Diese Dinge müssen ins Auge gefaßt werden. Es war natürlich das berechtigte Los von Mittel- und Osteuropa, sich beide Ohren zu verstopfen und beide Augen blind zu machen vor den okkulten Tatsachen, nicht hinzuhören auf sie, abstrakte Mystik zu treiben, abstrakten Intellektualismus zu treiben, abstrakte Dialektik zu treiben. Aber jetzt beginnt das Zeitalter, wo es so nicht weiter geht! Es ist aus solchen Betrachtungen ja nicht Pessimismus zu holen, nicht Trostlosigkeit zu holen. Nein, Kraft, Mut, Sinn für Bekanntwerden mit dem, was nottut, das ist dasjenige, was wir daraus ersehen. Und in diesem Sinne sollen wir eingedenk sein, daß wir wahrhaftig nicht gegen die Aufgabe des Zeitalters, sondern mit den Aufgaben des Zeitalters uns innerhalb dieser anthroposophisch orientierten geisteswissenschaftlichen Bewegung zu betätigen haben. Seien wir uns klar darüber, was wir sonst verschlafen. Auch zur Ausbildung der sozialen Triebe führt uns wachend und bewußt jene Geisteswissenschaft, die dem Bewußtsein zeigt, was sich sonst dem Bewußtsein verbirgt, die uns zeigt, welche Kräfte der Mensch entwickelt, wenn er frei vom Leibe ist, wie er es von dem Einschlafen bis zum Aufwachen ist. Seien wir uns klar: Wir pflegen die dem Zeitalter notwendigsten Kräfte, wenn wir wachend denken über dasjenige, was unsere Seele doch nur kraftvoll durchdringen kann, wenn wir wachend darüber denken. Sonst werden wir machtlos, wenn wir es nur schlafend entwickeln müssen.

Zwei Mächte wirken in der Gegenwart. Die eine ist die Macht, die in den verschiedenen Metamorphosen des Christus-Impulses seit dem Mysterium von Golgatha durch alle folgenden Zeiten der Erdenentwickelung hindurchgeht. Wir haben öfter davon gesprochen, daß gerade in unseren Jahrhunderten eine Art Wiedererscheinung, nun des ätherischen Christus, stattfinden soll. Gar nicht weit hin ist es zu dieser Wiedererscheinung Christi. Daß er erscheint, ist wiederum etwas, was wahrhaftig nicht Veranlassung zu irgendeinem Pessimismus geben kann, was aber auch nicht Veranlassung geben soll zu einer Sehnsucht, nebulos nur dahinzuleben und sich nur nach sozusagen egoistisch-seelenwärmenden theosophischen Theorien zu erkundigen. Dieser Christus-Impuls in seinen verschiedensten Gestaltungen, er wird auch in der Gestalt, die er jetzt hat, wo er der Menschheit dasjenige verkündigen will, was sich aus der geistigen Welt heraus offenbaren will als spirituelle Weisheit für unser Zeitalter, helfen, daß sich das verwirklichen kann. Es wird sich verwirklichen wollen, und es wird der Christus-Impuls Hilfe sein für diese Verwirklichung. Diese Verwirklichung, sie wird dasjenige sein, worauf es ankommt. Und vor einer wichtigen Entscheidung steht die Menschheit in diesem kritischen Augenblicke. Auf der einen Seite steht der Christus-Impuls, der uns aufruft, aus freiem Seelenentschlusse heraus uns zu dem hinzuwenden, von dem heute gesprochen worden ist, bewußt aufzunehmen die sozialen Impulse, alles das, was der Menschheit heilsam ist und helfen kann, frei aus der Seele heraus aufzunehmen. Deshalb vereinigen wir uns nicht unter solchen Gesichtspunkten, um uns der Liebe, welcher Haß zugrunde liegt, wie in dem Ruf: « Proletarier aller Länder, vereinigt euch!», hinzugeben; sondern wir vereinigen uns, indem wir anstreben, den Christus-Impuls zu verwirklichen und dasjenige zu tun, was der Christus für unsere Zeit will.

Dem steht gegenüber der Widersacher, dasjenige, was die Bibel den widerrechtlichen Fürsten dieser Welt nennt. In den verschiedensten Gestalten macht er sich geltend. Eine dieser Gestalten ist diese: die Kräfte, die uns als Menschen zur Verfügung stehen, um aus freiem Entschluß heraus uns zu solchem zu wenden, wie das ist, von dem heute gesprochen worden ist, diese Kräfte, die in den freien Entschluß gestellt werden sollen, in den Dienst der Körperlichkeit zu stellen. Verschiede