Soziale Freiheit statt Blutverwandschaft

Quelle: GA 186, S. 115-124, 3. Ausgabe 1990, 07.12.1918, Dornach

Der Mensch hatte bis in diesen fünften nachatlantischen Zeitraum hinein sich die Möglichkeit des Fortwirkens der vorgeburtlichen Zeit in das nachgeburtliche Leben mitgebracht. Machen wir uns das ganz klar. Bis in unseren Zeitraum herein trägt der Mensch Kräfte in sich, welche von ihm nicht im Laufe des Lebens erworben sind, sondern die er schon hatte, als er, wie man so sagt, das Licht der Welt erblickte, als er geboren wurde, die ihm eingeprägt wurden in der Embryonalzeit. Diese Kräfte, die der Mensch in der Embryonalzeit eingeprägt erhält und die dann das Leben hindurch fortwirken, hatte der Mensch bis in den vierten nachatlantischen Zeitraum herein. Und erst jetzt stehen wir vor der großen Krisis in der Menschheitsentwickelung, daß diese Kräfte nicht mehr maßgebend sein können, daß sie nicht mehr so elementar wirksam sein können wie bisher. Mit andern Worten: Der Mensch wird in diesem fünften nachatlantischen Zeitraum viel mehr den Eindrücken des Lebens ausgeliefert sein, weil die den Eindrücken des Lebens widerstrebenden Kräfte, die vor der Geburt in der Embryonalzeit erworben werden, ihre Tragkraft verlieren. Das ist etwas ungeheuer Bedeutungsvolles, daß diese Kräfte ihre Tragkraft verlieren.

Nur in bezug auf eines war das Leben auch bisher schon so, daß der Mensch etwas erwerben konnte zwischen Geburt und Tod, also etwas, was ihm nicht während der Embryonalzeit eingeimpft war. Das war aber nur durch das Folgende möglich. Wir haben gestern eigentümliche Erscheinungen des Schlafes mit Bezug auf das soziale Leben auseinandergesetzt. Wenn der Mensch schläft, sind sein Ich und sein astralischer Leib außerhalb des physischen und des Ätherleibes. Es ist ein anderer Zusammenhang zwischen dem Ich und dem astralischen Leib einerseits und dem physischen Leib und dem Ätherleib andrerseits im Schlafen vorhanden als im Wachen. Der Mensch verhält sich anders zu seinem physischen und Ätherleib, wenn er schläft. Nun besteht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen unserem Schlafen und unserer Embryonalzeit - Ähnlichkeit, nicht Gleichheit! In einer gewissen Beziehung wird unser Leben, wenn wir einschlafen, bis zum Aufwachen ähnlich - nicht gleich - dem Leben, das wir führen von der Konzeption, der Empfängnis - oder eigentlich drei Wochen danach - bis zur Geburt. Wenn wir als Kind im Mutterleibe ruhen, so haben wir ein ähnliches Leben wie später, wenn wir schlafen. Den Unterschied macht nur ein ganz Bedeutungsvolles, das ist das Atmen, das Atmen der äußeren Luft. Deshalb durfte ich nur sagen ähnlich, aber nicht gleich. Wir atmen nicht die äußere Luft, wenn wir im Mutterleibe ruhen. Wir werden aufgerufen zum Atmen der äußeren Luft, indem wir geboren werden. Dadurch ist wiederum dieses Leben im Schlafe verschieden von dem Embryonalleben. Nun halten Sie dieses fest: Indem der Mensch schläft, hat er in vieler Beziehung ein dem Embryonalleben ähnliches Leben. Nur wirkt herein etwas, was nur zwischen Geburt und Tod da sein kann, nicht im Embryonalleben: es wirkt herein die Atmung. Dadurch, daß der Mensch die äußere Luft atmet, wird sein Organismus in einer gewissen Weise beeinflußt. Aber alles, was unsern Organismus beeinflußt, wirkt auf unsere sämtlichen Lebensäußerungen, auch auf unsere Seelenäußerungen. Wir verstehen anders die Welt, indem wir atmen, als wenn wir nicht atmen würden.

Nun gab es ein Kulturelement in der Entwickelung der Menschheit - wir rühren an ein bedeutsames Geheimnis der Menschheitsentwickelung, indem wir dieses auseinandersetzen -, und das war das alttestamentliche, welches besonders tief durchdrungen war bei seinen Eingeweihten von dieser Tatsache, daß der Mensch zwischen Geburt und Tod sich durch das Atmen unterscheidet von dem Embryonalleben, dem sonst sein Schlafesleben ähnlich ist. Auf diese innere Erkenntnis von der Natur des Atmens war aufgebaut das Verhältnis, welches die alten jüdischen Eingeweihten, die hebräischen Eingeweihten des Alten Testamentes zu ihrem Jahve-Gotte hatten. Der Jahve-Gott offenbarte sich, das brauchen wir ja nur der Bibel zu entnehmen, seinem Volke. Welches war das Volk Jahves? Dasjenige Volk, das eine besondere Beziehung hatte zu dieser Wahrheit vom Atmen, die ich eben ausgesprochen habe. Und damit hängt es zusammen, daß gerade dieses Volk als Offenbarung empfing, daß der Mensch Mensch wurde, indem ihm der lebendige Odem gegeben wurde.

Aber man erlangt ein ganz besonderes Verständnis, wenn man auf diese Natur des menschlichen Atmens baut. Man erlangt das Verständnis für das abstrakte Gedankenleben, das im Alten Testament genannt wird das Gesetzesleben, für die Aufnahme von abstrakten Gedanken. So sonderbar das heute dem materialistischen Denken klingt, wahr ist es doch: Durch den Atmungsprozeß ist gerade die menschliche Abstraktionskraft wesentlich bedingt. Daß der Mensch abstrahieren kann, daß er abstrakte Gedanken fassen kann in dem Sinne, wie ja auch die Gesetze abstrakte Gedanken sind, das hängt auch physiologisch mit seinem Atmungsprozeß zusammen. Das Instrument des abstrakten Denkens ist ja das Gehirn. Dieses Gehirn ist in einem fortwährenden Rhythmus begriffen, der dem Atmungsrhythmus angemessen ist. Ich habe über dieses Verhältnis des Gehirnrhythmus zum Atmungsrhythmus auch hier schon, sogar wiederholt, gesprochen. Ich habe Ihnen auseinandergesetzt, wie das Gehirn im Gehirnwasser eingebettet ist, wie das Gehirnwasser, wenn die Luft ausgeatmet wird, herunterfließt durch die Rückenmarkssäule und sich nach unten in die Bauchhöhle ergießt; wie beim Einatmen wieder das Wasser zurückgedrängt wird, so daß ein fortwährendes Vibrieren stattfindet: mit dem Ausatmen ein Sinken des Gehirnwassers, mit dem Einatmen ein Steigen des Gehirnwassers und ein Einbetten des Gehirnes im Gehirnwasser. Mit diesem Rhythmus des Atmungsprozesses hängt auch physiologisch das Abstraktionsvermögen des Menschen zusammen.

Ein Volk, das ganz besonders baute auf den Atmungsprozeß, war das Volk des Abstraktionsprozesses zugleich. Daher konnten die Eingeweihten, indem sie auf ihre Jahve-Weise empfanden, ihrem Volke eine ganz besondere Offenbarung geben, weil diese Offenbarung ganz angepaßt war dem abstrakten Denken. Das ist das Geheimnis der alttestamentlichen Offenbarung, daß der Mensch eine Weisheit empfangen hat, welche dem Abstraktionsvermögen, dem Vermögen des abstrakten Denkens angepaßt war. Und Jahve-Weisheit ist dem abstrakten Denken angemessen. Im gewöhnlichen Bewußtseinszustande verschläft der Mensch diese Jahve-Weisheit. Die Jahve-Eingeweihten haben einfach bei ihrer Initiation das empfangen, was der Mensch durch das Atmen vom Einschlafen bis zum Aufwachen erlebt. Aus diesem Grunde wird von solchen, die halbe Wahrheiten lieben, sehr häufig Jahve als diejenige Gottheit bezeichnet, die den Schlaf reguliert. Das ist auch der Fall. Er hat dem Menschen dasjenige an Weisheit überliefert, was der Mensch erleben würde, wenn er so hellsichtig wurde, wie es die Eingeweihten eben wurden, um bewußt das Leben vom Einschlafen bis zum Erwachen zu erleben. Dieses wurde nun nicht erlebt vom gewöhnlichen Bewußtsein im alttestamentlichen Leben, sondern den Menschen als Offenbarung gegeben, so daß also die Menschen als Offenbarung in der Jahve-Weisheit dasjenige empfingen, was von ihnen verschlafen werden muß. Es muß verschlafen werden, weil sonst der Lebensprozeß nicht weitergehen könnte.

Das ist das Wesentliche der alttestamentlichen Kultur, daß als Jahve-Weisheit geoffenbart wird die Nachtweisheit. Bis zu einem gewissen Grade - aber ich bitte zu beachten: bis zu einem gewissen Grade - war diese Möglichkeit für die Menschen in derjenigen Zeit erschöpft, als das Mysterium von Golgatha herannahte. Denn diese Weisheit, die gewissermaßen die Schlafes-Atmungs-Weisheit ist, die ist ein Siebentel dessen, was der Mensch im Lauf seiner Entwickelung an Weisheit entwickeln muß - ein Siebentel! Sie ist die Weisheit des einen der Elohim, des Jahve. Die andern sechs Siebentel, die konnten und können an die Menschheit nur herankommen, indem der Christus-Impuls in die Menschheit einfließt. So daß man sagen kann: Indem Jahve sich offenbart, offenbart er - ich möchte sagen im voraus - die Nacht-Atmungs-Weisheit. Die sechs andern Elohim, die in ihrer Gesamtheit nun mit dem siebenten Elohim den Christus-Impuls darstellen, sie offenbaren das übrige, was außer durch das Atmen an den Menschen zwischen Geburt und Tod herankommt.

Der Mensch wäre nun innerhalb des alttestamentlichen Kulturlebens ein ganz antisoziales Wesen geworden, wenn nicht Jahve das soziale Element seinem Volke in demjenigen abstrakten Gesetze geoffenbart hätte, welches das Leben gerade dieses Volkes regelte und harmonisierte. Nun hat Jahve diese Alleinherrschaft erobern können, indem er die andern Elohim, wie ich Ihnen auseinandergesetzt habe, zurückschob, gewissermaßen entthronte. Dadurch sind aber andere, niedrigere geistige Wesenheiten an die menschliche Natur herangekommen und haben von der menschlichen Natur Besitz ergriffen. Der Mensch wurde diesen anderen Wesenheiten ausgesetzt, so daß wir während der alttestamentlichen Entwickelung zweierlei haben: erstens die harmonisierende Jahve-Weisheit in dem, was die Juden das Gesetz nannten, worinnen zu gleicher Zeit das soziale Leben beschlossen war, und ferner dasjenige, was widerstrebte diesem sozialen Zusammenhalte, die der menschlichen Natur nahen, niedrigeren Wesenheiten, weil die anderen Elohim noch nicht zugelassen waren in der Zeit vor dem Mysterium von Golgatha. Diese niedrigeren Wesenheiten richteten ihre starken Angriffe im antisozialen Sinne gegen das Jahve-Element.

Nun liegt die eigentümliche Tatsache vor, daß in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, in den vierziger Jahren, Jahve in seinem Einflusse gewissermaßen nicht mehr Herr werden konnte über die widerstrebenden Geister, so daß diese besondere Macht erlangten. Und es ist auch eigentlich erst im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts die Notwendigkeit eingetreten, den Christus-Impuls, der vorher nur vorbereitet wurde, was ich ja oft erwähnt habe, wirklich zu verstehen, weil ohne ihn die menschliche Kultur nicht weitergehen kann. Vor dieser bedeutsamen Krisis stand gerade das soziale Element des Menschenlebens, daß der Christus-Impuls für die Zukunft im eminentesten Sinne verstanden werden muß. Ohne diesen Christus-Impuls zu verstehen, geht keine soziale Forderung irgendwelchen heilsamen Zielen entgegen.

Alle die Jahrhunderte - es sind ja deren fast zwanzig -, in denen sich bisher das Christentum ausgebreitet hat, waren nur Vorbereitungen für die wirkliche Erfassung des Christus-Impulses. Denn der Christus-Impuls kann nur im Geistigen erfaßt werden. Alles geschieht allmählich, und in unserer kritischen Zeit, in der Zeit, in der eben mit Bezug auf die Dinge, die ich angeführt habe, eine Krisis vorliegt, da ist die Sache so: Da ragt noch herein als ein Überbleibsel der Trieb nach der bloßen Jahve-Weisheit, nach jener Weisheit, die angewiesen war auf das, was im Embryonalleben erworben wird, und durch den Atmungsprozeß, der aber unbewußt ist, modifiziert wird. Der Atmungsprozeß bleibt unbewußt. Die Jahve-Weisheit muß geoffenbart werden dem Bewußtsein. Das ging so lange, als nicht die Bewußtseinsseele bis zu einem gewissen Grade entwickelt war. Jetzt, da die Bewußtseinsseele bis zu diesem Grad entwickelt ist, kann nicht mit der auf das Atmen abgestimmten Jahve-Weisheit weitergewirtschaftet werden. Aber immer macht sich das so geltend, daß das Bestreben entsteht, weiterzuwirtschaften mit dem, womit nach inneren Notwendigkeiten nicht mehr gewirtschaftet werden kann. Weil für das Leben zwischen Geburt und Tod dasjenige, was mit dem Atmen zusammenhängt, unbewußt bleibt, war die jüdische Kultur nicht eine individuelle Menschheitskultur, sondern eine Volkskultur, wo alles zusammenhängt mit der Abstammung von dem gemeinsamen Stammvater. Die jüdische Offenbarung ist im wesentlichen eine für dieses jüdische Volk berechnete Offenbarung, weil sie eben mit dem rechnet, was im Embryonalleben erworben und nur durch ein Unbewußtes, durch den Atmungsprozeß, modifiziert wird.

Was ist die Folge davon in unserer kritischen Zeit? Daß diejenigen, welche sich zur Christus-Weisheit nicht bekennen wollen, die das andere hereinbringt in den Menschen, was zwischen Geburt und Tod erworben wird außer durch den Atmungsprozeß, stehenbleiben wollen bei der Jahve-Weisheit, bloß auf Volkskulturen die Menschheit einstellen wollen.

Und der gegenwärtige Ruf nach einer Gliederung der Menschen in lauter einzelne Völker ist der ahrimanisch zurückgebliebene Ruf nach der Begründung einer solchen Kultur, wo alle Völker nur Volkskulturen, das heißt alttestamentliche Kulturen darstellen. Dem jüdischen alttestamentlichen Volke ähnlich werden sollen die Völker über die Erde hin - das ist der Ruf von Woodrow Wilson.

Damit berühren wir ein außerordentlich tiefes Geheimnis, ein Geheimnis, welches sich in den allerverschiedensten Formen enthüllen wird. Ein soziales Element, das antisozial ist mit Bezug auf die ganze Menschheit, das nur das Soziale begründen will in einzelnen Völkern, das will als ahrimanisches Element herauf; ahrimanisch soll festgehalten werden der alttestamentliche Kulturimpuls!

Sie sehen, so einfach liegen die Dinge nicht, wie sich viele Menschen heute vorstellen, daß man nur das oder jenes auszudenken braucht, um dem Menschen Ideale vorzusagen. Man muß eingehen können auf die Wirklichkeiten, man muß sagen können, was eigentlich waltet und kraftet in diesen Wirklichkeiten. Dem Menschen steht eben in Aussicht, nicht mehr auf das bloße Unbewußte zu bauen, sondern auf das Bewußte im Leben zwischen Geburt und Tod. Das Unbewußte baut auf den Atmungsprozeß und damit ganz selbstverständlich auf das, was mit dem Atmungsprozeß zusammenhängt, auf die Blutzirkulation, das heißt auf die Abstammung, auf den Blutzusammenhang, auf die Vererbung. Diejenige Kultur, die da kommen muß, die kann nicht bloß auf den Blutzusammenhang die soziale Ordnung begründen, denn dieser Blutzusammenhang gibt nur ein Siebentel desjenigen, was in der Menschheitskultur begründet werden muß. Die anderen sechs Siebentel müssen dazukommen durch den Christus-Impuls, im fünften Zeitraum eines, im sechsten Zeitraum das zweite, im siebten Zeitraum das dritte, und das andere geht dann in die folgenden Zeiten hinüber. Daher muß sich nach und nach in der Menschheit dasjenige entwickeln, was mit dem wirklichen Christus-Impuls zusammenhängt; und überwunden werden muß, was mit dem bloßen Jahve-Impuls zusammenhängt.

Und das wird das Charakteristische sein, daß zum letzten Male gewaltige, weitgehende Anstrengungen des Jahve-Impulses geschehen werden in dem, was als internationaler Sozialismus vom Proletariat verstanden wird. Es ist im wesentlichen das letzte Rumoren des Jahve-Impulses. Vor dem Eigentümlichen steht man, daß jedes Volk ein Jahve-Volk werden wird, und gleichzeitig jedes Volk Anspruch machen wird, über die ganze Erde seinen Jahve-Kultus, seinen Sozialismus zu verbreiten.

Das werden wiederum die zwei einander widerstrebenden Kräfte sein, zwischen denen das Gleichgewicht zu suchen ist. In all das, was als objektive Notwendigkeit im Gang der Menschheitsentwickelung sich geltend macht, mischen sich dann hinein die Gefühle, die Empfindungen der Menschen, die sich zu den verschiedenen Volksgruppen so oder so stellen, und die innerhalb des objektiv notwendigen Ganges der Entwickelung störend wirken. Durch die Jahve-Weisheit ist das eine der sieben Tore zu Menschenverbindungen geöffnet. Ein zweites Tor wird geöffnet werden, wenn erkannt werden wird, daß dasjenige, was der Mensch jetzt als seine physische und seine ätherische Natur in sich trägt, im Verlaufe des Lebens krank wird. Natürlich ist damit nicht eine akute Krankheit gemeint, aber jetzt in unserem fünften Zeitraum bedeutet «leben» ein langsames Erkranken. Das ist seit dem vierten Zeitraume der Fall; es ist insbesondere so im fünften Zeitraume. Der Lebensprozeß ist, wenn auch sukzessive und langsam, dasselbe wie eine akute Krankheit, nur daß diese einen schnellen Verlauf hat. Daher muß, wie man eine akute Krankheit durch einen spezifischen Heilungsprozeß heilen muß, etwas eintreten in das menschliche Leben, welches gesund macht.

Das natürliche Leben der Menschen vom fünften nachatlantischen Zeitraum an ist also eine Art fortwährenden langsamen Erkrankens. Alle Erziehung, alle Kultureinflüsse müssen darauf hinwirken, gesund zu machen. Das ist gewissermaßen die erste, wahre Impulsivität des Christus-Impulses: die Heilung. Der Heiland, der Heilende zu sein, dazu ist er ganz besonders berufen im fünften nachatlantischen Zeitraume. Die anderen Formen des Christus-Impulses müssen im Hintergrunde sein. Für den sechsten nachatlantischen Zeitraum muß der Christus-Impuls besonders wirken für das Sehertum.

Da kommt das Geistselbst zur Ausbildung, innerhalb dessen der Mensch nicht leben kann ohne das Sehertum. Und im siebenten nachatlantischen Zeitraum wird eine Art prophetischer Natur, weil es ja prophetisch hinübergehen muß in eine ganz neue Zeit, als das dritte sich entwickeln; die anderen drei Glieder der sechsteiligen Christus-Weisheit werden in den folgenden Zeiten wirken. So muß der Christus-Impuls sich als Heilprozeß, als Seherprozeß, als prophetischer Prozeß im Verlauf des jetzigen und der zwei folgenden Kulturzeitalter als das sozial die Menschheit durchglühende Element in die Menschheit einleben. Das ist das reale Einleben des Christus-Impulses. Das zieht sich durch die übrigen Dinge hindurch, die wir für die Entwickelung schon erwähnt haben. Ein Tor ist aufgeschlossen worden durch die Jahve-Weisheit. Doch dieses Tor ist unpraktikabel geworden in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Wenn es allein durchschritten werden soll, so kann nichts anderes kommen, als daß gewissermaßen alle Völker ihrer Form nach hebräische Kulturen entwickeln. Andere Tore müssen geöffnet werden, das heißt, es muß die Initiationsweisheit, die durch ein zweites, ein drittes, ein viertes Tor bekannt wird, zu derjenigen Weisheit hinzutreten, die durch das Jahve-Tor bekannt geworden ist. Nur so kann der Mensch in andere Zusammenhänge hineinwachsen als in diejenigen, die durch die Bluts-, das heißt durch die Atmungsbande geregelt sind, und das wird in der Zukunft von besonderer Wichtigkeit für ihn sein.

Das ist wiederum das Kritische unserer Zeit, daß die Menschen sich ahrimanisch aus alten Zeiten eine Regelung der Weltenordnung nach Blutsbanden bewahren wollen, daß aber eine innere Notwendigkeit über diese Blutsbande hinausstrebt. In der Zukunft kann nicht das Sozial-Regelnde von dem ausgehen, was in irgendeiner Weise verwandt ist, sondern in der Zukunft wird nur das gelten, was in freier Entschließung die Seele selbst als das Regelnde der sozialen Ordnung erleben kann. Gewissermaßen wird eine innere Notwendigkeit die Menschen so leiten, daß alles das, was in die soziale Ordnung durch die bloßen Blutsbande hineinragt, ausgemerzt wird. Alle diese Dinge treten eben zuerst tumultuarisch in die Erscheinung. In unserem Zeitalter wird sich entwickeln müssen Geist-Erkenntnis und Gedankenfreiheit, namentlich Gedankenfreiheit in religiösen Dingen.

Geisteswissenschaft muß sich entwickeln aus dem Grunde, weil der Mensch zum Menschen in ein Verhältnis treten muß. Aber der Mensch ist Geist. Man kann zum Menschen nur in ein Verhältnis treten, wenn man vom Geiste ausgeht. Das frühere Verhältnis, in das die Menschen getreten sind, ging von dem unbewußten, im Blute vibrierenden Geiste aus im Sinne der Jahve-Weisheit, die aber nur zur Abstraktion führt. Das nächste, zu dem der Mensch geführt werden muß, das muß etwas sein, was im Seelischen erfaßt wird. In der Bildlichkeit, aus Atavismus heraus hatten die heidnischen Völker in alten Kulturformen die Mythen. Das jüdische Volk hatte seine Abstraktionen - nicht Mythen, sondern Abstraktionen -: das Gesetz. Das hat sich fortgesetzt. Das war das erste Heraufheben des Menschen in die Vorstellungskraft, in die Denkkraft. Aber von seiner jetzigen Anschauung, in der nur noch nachlebt «Du sollst dir kein Bild machen», muß der Mensch zurückkehren zu jener Fähigkeit der Seele, die sich wiederum, und zwar jetzt bewußt, Bilder machen kann. Denn nur in Bildern, in Imaginationen, wird in Zukunft in richtiger Weise auch das soziale Leben aufgestellt werden. In Abstraktionen konnte das soziale Leben nur völkisch geregelt werden, und das eminenteste völkische Regeln in sozialer Beziehung war das alttestamentliche. Das nächste Regeln des sozialen Lebens wird abhängen von der Fähigkeit, in bewußter Weise dieselbe Kraft auszuüben, die in der mythenbildenden Eigenschaft des Menschen unbewußt oder halbbewußt, atavistisch lag. Die Menschen würden sich ganz mit antisozialen Trieben anfüllen, wenn sie dabei stehenbleiben wollten, bloße abstrakte Gesetze zu verbreiten. Die Menschen müssen durch ihre Weltanschauung zur Bildlichkeit kommen, dann wird aus dieser bewußten Mythusbildung auch die Möglichkeit erstehen, daß im Verkehr von Mensch zu Mensch das Soziale sich ausbildet.