Schlaf als Ausgleich für nationale Verachtung

Quelle: GA 186, S. 090-091, 3. Ausgabe 1990, 06.12.1918, Dornach

Wir haben den Menschen wiederholt für die verschiedensten Gesichtspunkte nach der Dreigliedrigkeit seiner Seele, nach Denken oder Vorstellen, Fühlen und Wollen betrachtet. Wir können einmal heute den Menschen in sozialer Beziehung wiederum nach Denken oder Vorstellen, Fühlen und Wollen betrachten. Vor allen Dingen muß man sich mit Bezug auf das Vorstellen, das Denken klar sein, daß in diesem Vorstellen, in diesem Denken ein unendlich bedeutungsvoller Quell des Antisozialen des Menschen liegt. Indem der Mensch einfach ein denkendes Wesen ist, ist er ein antisoziales Wesen. Hier kann nur Geisteswissenschaft zur Wahrheit kommen über die Dinge. Denn nur Geisteswissenschaft kann einiges Licht verbreiten über die Frage: Wie stehen wir dann überhaupt als Menschen in Beziehung zu anderen Menschen? Wann ist denn gewissermaßen das rechte Verhältnis von Mensch zu Mensch für das gewöhnliche, alltägliche Bewußtsein, besser gesagt, für das gewöhnliche, alltägliche Leben hergestellt? Ja, sehen Sie, wenn dieses richtige Verhältnis hergestellt ist zwischen Mensch und Mensch, dann ist auch zweifellos die soziale Ordnung da. Aber nun liegt - man mag ja sagen: unglückseligerweise, aber der Erkennende sagt: notwendigerweise - die eigentümliche Tatsache vor, daß wir ein regelrechtes Verhältnis von Mensch zu Mensch nur im Schlafe entwickeln. Nur wenn wir schlafen, stellen wir ein ungeschminktes, richtiges Verhältnis von Mensch zu Mensch her. In dem Augenblicke, wo Sie das gewöhnliche Tagesbewußtsein abgelähmt haben, wo Sie in dem Zustande zwischen Einschlafen und Aufwachen im traumlosen Schlafe sind, da sind Sie - jetzt rede ich mit Bezug auf das Vorstellen, mit Bezug auf das Denken - ein soziales Wesen. In dem Augenblicke, wo Sie aufwachen, beginnen Sie durch das Vorstellen, durch das Denken antisoziale Impulse zu entwickeln. Man muß sich nur denken, wie kompliziert dadurch die menschlichen Gesellschaftsverhältnisse werden, daß eigentlich der Mensch nur im Schlafe zu dem andern Menschen sich richtig verhält. Ich habe das von anderen Gesichtspunkten aus verschiedentlich angedeutet. Ich habe zum Beispiel angedeutet, daß man gut chauvinistisch national sein kann im Wachen - wenn man im Schlafe ist, wird man gerade unter diejenigen Menschen versetzt, ist man mit denen zusammen, namentlich mit ihrem Volksgeist, die man im Wachen am allermeisten haßt. Dagegen läßt sich schon nichts machen. Der Schlaf ist ein sozialer Ausgleicher. Aber da die moderne Wissenschaft über den Schlaf überhaupt nichts wissen will, so wird sie in ihre sozialen Betrachtungen ja noch lange nicht einbeziehen, was ich eben jetzt gesagt habe.