Frieden braucht Ideen

Quelle: GA 185a, S. 211-212, 2. Ausgabe 1963, 24.11.1918, Dornach

Ein ungeheurer Schaden für die Gegenwart ist es, daß sich die unpraktischesten Leute heute eben gerade als die stärksten Praktiker fühlen. Was hat sich nicht außerordentlich praktisch gefühlt, sagen wir auf dem Gebiete des Militarismus der Mittelmächte! Die Leute haben sich ungeheuer praktisch gefühlt und waren die größten Illusionäre, waren die größten Phantasten, haben fast über alle Dinge, die geschehen sind im Laufe der letzten, nun, ich will sagen, zweieinhalb Jahre, namentlich nicht nur unrichtige, sondern grotesk unrichtige Urteile gefällt und aus diesen grotesk unrichtigen Urteilen heraus gehandelt.

Es ist schwierig, wenn man sieht, wie die Menschen, die eigentlich gute Menschen sind, oftmals in dem Sinne wie man das so nennt, gute Menschen sind, gar nicht herankommen lassen an sich den gesunden Menschenverstand. In dieser Beziehung konnte man wiederum im Laufe der letzten vier Jahre die übelsten Erfahrungen machen, wenn man so sah, was zum Beispiel in den letzten Jahren geschehen ist in Deutschland von Offizieren, die die Volksbildung leiten wollten, die dem Volk einbleuen wollten, wie es zu denken habe, damit alles richtig geht, damit auch die Menschen hinter der Front « durchhalten », wie man das so schön spießig nannte. Es war furchtbar. Wenn man dann einen genaueren Einblick hatte in das, was dann den Leuten eingebleut werden sollte, und was diejenigen, die es einbleuten, oftmals mit dem allerbesten Willen vorbrachten - es war wahrscheinlich, in Wirklichkeit meinetwillen, die Sache in ihrer Art ehrlich, aber sie wollten sich ihres gesunden Menschenverstandes nicht bedienen. Und darauf kommt es an. Und das ist für die Gegenwart das ungeheuer Wichtige, denn dieser gesunde Menschenverstand muß überall auf die Wirklichkeit hinsehen, muß nicht, weil er irgend etwas aus einem Vorurteil heraus unangenehm empfindet, es ablehnen. Nicht wahr, wir haben in unserer Zeit die groteske Zusammenstellung erlebt des fast schon an den Absolutismus grenzenden monarchischen Prinzips mit der Ludendorfferei - mit dem Leninismus in Rußland, mit dem Bolschewismus, denn der Bolschewismus ist eigentlich ein Geschöpf Ludendorffs. Der Bolschewismus ist von Ludendorff in Rußland erzeugt worden, weil Ludendorff meinte, mit niemandem anderen in Rußland Frieden schließen zu können als mit den Bolschewisten, so daß nicht nur dasjenige, was als Unglück über das deutsche Volk hereingebrochen ist, in vieler Beziehung von einem einzelnen Menschen im Laufe von zweieinhalb Jahren bewirkt worden ist, sondern daß auch das Unglück Rußlands in vieler Beziehung mit den grotesken Irrtümern dieses einzelnen Menschen zusammenhängt. Diese Dinge zeigen, wie kolossal der Irrtum des Proletariats ist, daß die Meinung des einzelnen Menschen keine Bedeutung habe in der sozialen Gestaltung der Verhältnisse. Diese Dinge müssen eben ganz objektiv mit dem gesunden Menschenverstand durchschaut werden.

Wenn wir von dieser Gesinnung ausgehen, so finden wir namentlich einen Satz, den ich Sie bitte, sich recht zu Herzen zu nehmen, denn dieser eine Satz kann unter anderem Richtkraft für soziales Denken in der Zukunft geben. Dieser eine Satz ist der: Man reicht aus, ohne daß man Ideen hat, in Zeiten von Revolutionen und Kriegen, man kann aber nicht ausreichen ohne Ideen in Zeiten des Friedens; denn werden die Ideen in Zeiten des Friedens rar, dann müssen Zeiten von Revolutionen und von Kriegen kommen. - Zum Kriegführen und zu Revolutionen braucht man keine Ideen. Um den Frieden zu halten, braucht man Ideen, sonst kommen Kriege und Revolutionen. Und das ist ein innerer spiritueller Zusammenhang. Und alle Deklamationen über den Frieden nützen nichts, wenn nicht diejenigen, die die Geschicke der Völker zu leiten haben, sich bemühen, gerade in Friedenszeiten Ideen zu haben. Und sollen es soziale Ideen sein, so müssen sie sogar von jenseits der Schwelle herrühren. Wird eine Zeit ideenarm, so schwindet aus dieser Zeit der Friede.

Man kann so etwas sagen; wenn die Menschen es nicht prüfen wollen, so werden sie es einfach nicht glauben. Aber an dem Unglauben an solche Dinge hängt das furchtbare Geschick der Gegenwart. Das ist ein solcher Richtsatz, den aufzunehmen außerordentlich wichtig ist für die Gegenwart und die nächste Zukunft.