Europäischer Staat als Import aus Mongolei und Rom

Quelle: GA 185a, S. 189-193, 2. Ausgabe 1963, 23.11.1918, Dornach

Dasjenige aber, was eigentlicher Staatsgedanke ist, das ist ein Gebilde, das sorgfältig studiert sein sollte. Dieser Staatsgedanke kommt in einer gewissen Beziehung aus demselben Wetterwinkel her, woher manches andere für Europa Bedeutungsvolle kommt. Gerade wenn man so etwas bespricht, muß man sich intensiv erinnern, daß Geschichte ja nur symptomatisch betrachtet werden kann. Wenn man also irgendeine Erscheinung betrachtet, die eine äußere Tatsache ist, so muß man diese als Symptom taxieren. In diesem Rußland war, solange dieser normannisch-germanische Einfluß sozial strukturbildend da war, nichts von einem Staatsgedanken vorhanden. Es waren gewissermaßen in sich geschlossene slawische Gebiete, und ausgebreitet hatte sich also das, was ich Sippengedanke genannt habe. Der Sippengedanke hat das so netzförmig umschlungen. Die verschiedenen geschlossenen Slawengebiete, die hatten in sich dasjenige Element, was vielleicht der moderne Mensch demokratisches Element nennen wurde, aber zu gleicher Zeit verknüpft mit einer gewissen Sehnsucht nach Herrschaftslosigkeit, mit einer gewissen Einsicht darin, daß man zentralisierte herrschaftliche Mächte eigentlich, zum Ordnungmachen der Welt nicht braucht, sondern nur zum Unordnungmachen. Das lebte in diesen geschlossenen Slawengebieten. Und in dem, was sich vom normannisch-germanischen Elemente hineinerstreckte, lebte eigentlich der Sippengedanke, der Gedanke, der mit dem Blute zusammenhing.

Nun kam der Mongoleneinfall. Diese Mongolen, sie werden ja recht schlimm geschildert. Aber das Allerschlimmste, was sie getan haben, ist ja eigentlich doch das, daß sie hohe Tribute, Steuern eingefordert haben, und sie waren mehr oder weniger damit zufrieden, wenn ihnen die Leute die Steuern, natürlich namentlich in Gestalt von Naturalien, abgegeben haben. Dasjenige aber, was sie brachten - aber bitte das jetzt symptomatisch aufzufassen und nicht etwa zu meinen, ich sage, der Staatsgedanke käme von den Mongolen -, dasjenige, was sie damals gebracht haben also, symptomatisch aufgefaßt, das ist der Staatsgedanke. Der monarchische Staatsgedanke, der kommt gerade aus diesem Wetterwinkel, aus dem die Mongolen auch gekommen sind, nur daß er nach dem weiteren Westen Europas schon früher gebracht worden ist. Er kommt aus jenem Wetterwinkel der Welt, den man findet, wenn man die von Asien sich herüberwälzende Kultur, oder meinetwillen sagen sie: barbarische Welle, verfolgt. Was in Rußland geblieben ist von den Mongolen, das ist im wesentlichen die Meinung, daß ein einzelner Herrscher mit seinen Paladinen eine Art Staatsherrschaft auszüuben hat. Das ist im wesentlichen getragen gewesen von dem monarchischen Gedanken der Khane, und das ist dort übernommen worden. Im Westen von Europa ist es nur früher übernommen worden, aber es kam aus demselben Wetterwinkel. Und im wesentlichen war es ein tatarisch-mongolischer Gedanke, der das sogenannte Staatswesen in Rußland zusammengefügt hat. Und so hat sich lange Zeit gerade in Rußland dasjenige einflußlos gezeigt, was die Kultur des Westens ausgemacht hat von vielen Gesichtspunkten her: der Feudalismus, der eigentlich in Rußland einflußlos war, weil sich mit Überspringung des Feudalismus die Monarchie ausgebreitet hat, die immer im Westen gestört war zunächst durch den Feudalismus, durch die Feudalherren, die eigentlich die zentralmonarchische Gewalt immer bekämpften und die ein Gegenpol gegen die monarchische Gewalt waren.