Deutscher Haß auf Goethe

Quelle: GA 185, S. 228-230, 3. Ausgabe 1982, 03.11.1918, Dornach

Als ich meine «Philosophie der Freiheit» hier vor acht Tagen besprochen habe, da habe ich versucht, Ihnen darzustellen, wie ich mit meinem Wirken eigentlich es dahin gebracht habe, überall herauslanciert zu werden. Sie erinnern sich wohl noch an dieses Herauslancieren auf den verschiedensten Gebieten. Ja, ich darf wohl sagen: Auch mit dem Goetheanismus darf ich mich von den verschiedensten Seiten her als herauslanciert betrachten, da, wo ich versucht habe in den letzten schweren Jahren, die Menschheit auf ihn hinzuweisen. Goetheanismus ist ja nun wirklich nicht, daß etwas über Goethe gesagt wird, sondern Goetheanismus kann es auch sein, wenn man sich die Frage aufwirft: Was geschieht am besten irgendwo an irgendeiner Stelle der Welt, jetzt, wo alle Völker der Welt miteinander raufen? - Aber auch da fühlte ich mich überall herauslanciert. Das sage ich nicht aus Pessimismus, denn dazu kenne ich die Konstitution des Karma viel zu gut. Das sage ich auch nicht, weil ich nicht morgen doch dasselbe machen würde, was ich gestern gemacht habe, wenn sich mir die Gelegenheit dazu bieten würde. Aber ich muß es sagen, weil es notwendig ist, manches zur Kenntnis der Menschheit zu bringen, weil die Menschheit nur dadurch, daß sie in die Wirklichkeit hineinschaut, dazu kommen kann, ihrerseits selbst die Impulse zu finden, die dem gegenwärtigen Zeitalter angemessen sind.

Muß es denn durchaus sein, daß die Menschen gar nicht dazu kommen können, durch das Regemachen desjenigen, was in ihren Herzen und ihren innersten Seelen sitzt, den Weg zu finden zum Lichte? Muß es denn auf dem Wege des äußeren Zwanges sein? Muß es denn auf dem Wege geschehen, daß erst alles zusammenbricht, damit die Menschen anfangen zu denken? Soll man nicht diese Frage doch jeden Tag, jeden Tag aufs neue aufwerfen? Nicht verlange ich, daß der einzelne dies oder jenes tut, denn ich weiß sehr gut, wie wenig man in der Gegenwart tun kann. Aber was notwendig ist, ist Einsicht zu haben, nicht immer dieses falsche Urteil und dieses Nichtbemühen zu haben, in die Dinge hineinzuschauen, wie sie ihrer Wirklichkeit nach sind.

Einen merkwürdigen Eindruck hat mir eine Bemerkung gemacht, die ich heute morgen lesen konnte. Ich las in der «Frankfurter Zeitung», also in einer deutschen Zeitung, die Betrachtung eines Mannes, den ich vor achtzehn, zwanzig Jahren gut gekannt habe, mit dem ich viele einzelne Dinge besprochen habe. Ich las in der «Frankfurter Zeitung» ein Feuilleton von ihm. Ich habe ihn seit sechzehn, achtzehn Jahren nicht mehr gesehen. Er ist Dichter und Dramatiker, seine Stücke sind aufgeführt worden. Paul Ernst heißt er; ich habe ihn seinerzeit einmal sehr gut kennengelernt. Heute las ich einen kleinen Artikel von ihm über den sittlichen Mut, darinnen einen Satz - ja, es ist ja sehr schön, wenn einer heute einen solchen Satz schreibt, aber man muß immer wieder und wiederum fragen: Muß denn erst so etwas hereinbrechen, wie es jetzt hereingebrochen ist, damit solch ein Satz möglich geworden ist? - Da schreibt ein Urdeutscher, ein sehr gebildeter Deutscher: Man hat immer bei uns behauptet, man hasse die Deutschen. Ich möchte wissen, sagte er, wer in aller Welt den deutschen Geist wirklich gehaßt hat?

Ja doch, da erinnert er sich: In den letzten Jahren haben den deutschen Geist die Deutschen am allermeisten gehaßt!

Und vor allen Dingen, ein wirklicher innerer Haß ist schon vorhanden in bezug auf den Goetheanismus. Aber das sage ich nicht, um nach irgendeiner Seite hin eine Kritik zu üben, und schon gar nicht, um nach irgendeiner Seite hin - das sind Sie alle von mir nicht gewöhnt - etwas Schönes zu sagen, um etwa dem Wilson Konzessionen zu machen. Aber es macht einen wehmütigen Eindruck, wenn die Dinge nur unter Zwang kommen, während sie wahrhaft heilsam doch nur sein können, wenn sie aus dem freien Menschen heraus kommen. Denn es ist auch heute schon notwendig, daß aus den freien Gedanken heraus diejenigen Dinge kommen, die Gegenstand der Freiheit sein müssen. Immer muß ich es aber betonen: Nicht um Pessimismus zu erregen, sage ich diese Dinge, sondern um zu Ihren Seelen, zu Ihren Herzen zu sprechen, damit Sie wiederum zu anderen Seelen, zu anderen Herzen sprechen und versuchen, Einsicht zu erwecken, damit Urteil entsteht. Denn dasjenige, was am meisten ins Schlimme gekommen ist in der letzten Zeit, das ist ja das Urteil, das sich so trüben läßt über die ganze Welt hin unter der Anbetung von Autorität. Wie ist die Welt heute froh - man möchte sagen, über den ganzen Erdkreis hin -, daß sie einen Schulmeister als einen Götzen anbeten kann; wie ist die Welt darüber froh, daß sie nicht selbst zu denken braucht! Das ist keine nationale Tugend oder Untugend, das ist etwas, was jetzt in der Welt liegt und was bekämpft werden muß dadurch, daß der Mensch versucht, sich die Unterlage zu einem Urteil zu geben. Aber man kommt nicht zu einem Urteil, wenn man sich bloß - verzeihen Sie den harten Ausdruck - auf seine Hinterbeine stellt und unter allen Umständen Urteile, Urteile fällt. Man braucht den Willen, einzudringen in die Wirklichkeit. Diejenigen Menschen, die heute oft die führenden Menschen sind, ich habe in anderem Zusammenhange hier gesagt: Es ist die Auslese der Schlechtesten, durch die besonderen Verhältnisse der letzten Zeit herbeigeführt. - Dies muß man durchschauen.