Soziales Urphänomen und luziferische Vogelperspektive

Quelle: GA 184, S. 202-205, 3. Ausgabe 2002, 04.10.1918, Dornach

Dasjenige, was immer wieder und wiederum wie ein Sauerteig wirkt und die Menschheit rettet, sie aus dem Philistertum herauszustreben anspornt, das ist schon die luziferische Regsamkeit.

Aber diese ganze luziferische Regsamkeit, sie verursacht zu gleicher Zeit, daß der Mensch in einer gewissen Weise, man kann sagen, die Welt aus der Vogelperspektive zu betrachten geneigt ist. Alles das, was im Laufe der Zeit auftritt als Programme, als sehr schöne Ideen, mit denen man immer glaubt, das goldene Zeitalter in der einen oder in der andern Weise herbeiführen zu können, alles das rührt von den in den Menschen einströmenden luziferischen Neigungen her. Alles das, wodurch der Mensch aus dem Zusammengewachsensein mit der Wirklichkeit herausstrebt, durch das er gewissermaßen seine Schwingen höher heben würde, als es der Zusammenhang ist, in den er als Mensch hineingestellt ist, alles das weist auf Luziferisches. Luziferisch in der Menschennatur ist derjenige Trieb, der uns immerfort veranlaßt, unser Interesse gegenüber unseren Mitmenschen zu verringern. Wenn wir unserer ureigenen Menschennatur folgen würden, also denjenigen Entwickelungskräften, die in des Menschen eigener Strömung liegen, würden wir ein weit über das Maß dessen hinausgehendes Interesse für unsere Mitmenschen haben, als wir es in Wirklichkeit haben. Die luziferische Wesenheit in der Natur des Menschen, die bewirkt eine gewisse Interesselosigkeit gegenüber den andern Menschen. Und man sollte, wenn man den Menschen in seiner Wesenheit studiert, gerade auf diesen Punkt einen großen Wert legen. Vieles in der Welt würde anders sein, wenn wir seiner Realität nach anerkennen würden diesen unseren Drang, ein viel zu großes Interesse für dasjenige zu haben, was wir selber auskochen, und ein viel zu geringes Interesse für dasjenige, was andere Menschen denken und fühlen und wollen.

Menschenkenntnis in rechtem Sinne erlangt man nur, wenn man seine Menschenanschauung durchstrahlt mit der Frage: Was treibt mich hinweg von dem Interesse, das ich an andern Menschen entwickeln kann? Und es muß eine Aufgabe der Menschenkultur in der Zukunft sein, gerade diese Menschenkenntnis zu entwickeln. Heute nennt man vielfach noch Menschenkenntnis dasjenige, was einer sagt über die Menschen, je nachdem er sich einbildet, sie seien so oder so, oder sie sollten so oder so sein. Die Menschen nehmen, wie sie sind, und sich klar darüber sein, daß jeder, wie er ist, selbst der Verbrecher - auch das muß gesagt werden -, noch immer etwas Wichtigeres uns sagt über die Welt, als es die Einbildungen sind, die wir uns über die Menschenwesenheit machen, wenn wir uns noch so schöne Gedanken aushecken: dieses sich sagen, das heißt, dem Luziferischen die richtige Gleichheitslage in uns geben. Es würde ein solches Streben nach Menschenkenntnis unendlich viel offenbaren. Und aus der Natur der menschlichen Erdenentwickelung war eigentlich keine Zeit weiter entfernt von dem wirklichen, echten Interesse an der unmittelbaren Menschennatur als die heutige Zeit. Man verwechsle dasjenige, was hier gemeint ist, nicht mit einer Kritiklosigkeit gegenüber dem Menschen. Wer freilich wiederum von der Idee ausgeht: Alle Menschen mußt du als gut ansehen und alle Menschen gleich lieben -, der macht sich die Sache ja allerdings recht luziferisch bequem, denn er geht erst recht von seinen Phantasien aus. Alle Menschen gleich zu betrachten, das ist erst recht eine luziferische Phantasie. Es handelt sich nicht darum, eine allgemeine Idee zu pflegen, sondern gerade darum, auf das Konkrete jedes einzelnen Menschen einzugehen und dafür ein liebevolles, vielleicht besser gesagt, interessevolles Verständnis zu entwickeln.

Nun können Sie fragen: Was soll denn dann eigentlich diese ganze luziferische Kraft in uns, wenn sie uns abhält davon, gegen die Menschennatur im weisheitsvollen Sinne tolerant zu sein und Interesse zu entwickeln? Sie hat ihre gute Berechtigung im Haushalte des Geistes, wenn ich mich des philiströsen Ausdruckes bedienen darf. Diese luziferische Kraft muß schon auch da sein, weil wir, wenn wir nur in der fortlaufenden Strömung wären und die natur- und geistgemäße Hinneigung zur Erkenntnis eines jeden Menschen entwickeln würden, in unserer Menschenkenntnis - verzeihen Sie den harten Ausdruck - ersaufen würden. Wir würden ertrinken, wir würden nicht recht zu uns kommen können. Gerade das ist zusammenhängend mit vielen Geheimnissen des Daseins, daß in diesem Dasein nichts eigentlich ist, was nicht, wenn es in der Konsequenz verfolgt wird, bis in seine Extreme in der Konsequenz verfolgt wird, dann zum Bösen wird, zum Unglück. Dasjenige, was uns so recht mit Menschen zusammenbringt, was uns finden läßt den andern Menschen in uns selbst, das würde bewirken, daß wir ertrinken in unserer Menschenkenntnis, wenn nicht fortwährend der luziferische Stachel da wäre, der uns immer wieder und wiederum hinweghebt vom Ertrinken, der uns immer wieder und wiederum an die Oberfläche heraufhebt und zu uns bringt und das Interesse nachher an uns selbst erweckt. Gerade in unseren Beziehungen zu den Menschen leben wir in einem fortwährenden Wechselspiel zwischen unserer ureigenen Kraft und der luziferischen Kraft. Und derjenige, der da sagt, es wäre gescheiter, wenn die Menschen nur ihrer ureigenen Kraft folgen und gar nicht vom Luziferischen berührt würden -, der soll auch gleich behaupten, wenn er eine Waage hat mit dem Waagebalken und zwei Waagschalen, er nehme lieber die eine Waagschale weg und wiege bloß mit der andern, mit einer Waagschale also. Das Leben geht eben in Gleichgewichtszuständen ab, nicht in absoluten dinglichen Verhältnissen.