Ewigkeit der Staatsnation als Illusion

Quelle: GA 180, S. 304-313, 2. Ausgabe 1980, 17.01.1918, Dornach

Die Menschen denken ja, könnte man sagen - wir haben das öfter von andern Gesichtspunkten aus erwähnt -, eigentlich kurz; sie stellen sich vor, daß die Art, wie sie ringsherum die Verhältnisse erleben, eine konstante ist. Das ist sie aber nicht. Die Lebensverhältnisse sind Metamorphosen unterworfen. Und wenn man nicht, wie das ja leider als Unfug in der modernen Historie geschieht, alles vom Gesichtspunkte der Gegenwart aus betrachtet, sondern wenn man versucht, sich in die Eigenart der früheren Zeiten hineinzufinden, was man nur geisteswissenschaftlich kann, namentlich in praktischer Beziehung nur geisteswissenschaftlich kann, so kommt man darauf, daß sich die Zeiten schon ganz wesentlich geändert haben. [...]

Vor allen Dingen betrachten die gegenwärtigen Menschen, und wahrhaftig nicht nur die Menschen der breiteren Kreise, sondern gerade maßgebende, sehr, sehr maßgebende Kreise betrachten dasjenige, was nationale Verhältnisse in Europa und überhaupt in der gebildeten Welt sind, so, als wenn diese nationalen Verhältnisse ewige Dinge wären. Das sind nicht ewige Dinge; sondern gerade jene Form des Empfindens, die sich zum Beispiel aus dem Nationalen für den heutigen Menschen ergibt, die ist ganz abhängig von dem, was sich im 15. Jahrhundert herausgebildet hat, denn vorher war gerade in [] bezug auf diese Dinge Europa überhaupt etwas anderes. Das, was heute die nationalen Gebilde sind, die sich in Staaten abkristallisieren, das rührt erst aus dem 15. Jahrhundert her. Und dasjenige, was in Europa vorher war, darf überhaupt nicht mit diesen nationalen Gebilden heute verglichen werden. Das müßte eben schon die geschichtliche Betrachtung der Vergangenheit den Menschen lehren. [...]

Das ganze Wesen der Merowinger kam ja auf keine andere Weise zustande, als daß große Gutsherren ihre Netze weiter ausstreckten, mehr Leute abhängig gemacht haben; denn wenn heute in der Geschichte von einem Merowinger-«Staat» die Rede ist, so ist das geradezu demgegenüber ein Blech! Das, was wir heute Staat nennen, beginnt erst nach dem 15. Jahrhundert.

Die Merowinger, die sich aufschwangen, hatten gewissermaßen zunächst nur zu rechnen mit den Menschen, die auf diese Weise als ritterliche Bevölkerung, gewissermaßen als die Überzähligen sich ihnen angeschlossen hatten, ihre Abenteuer mitmachten, und sie hatten fortwährend, weil ja doch das Territorium ein gemeinsames war, die andern Interessenkreise entweder gegen sich, oder sie hatten sie neben sich so, daß sie mit ihnen nichts Rechtes anzufangen wußten. Von einem wirklichen Umfassen, einer staatlichen Administration etwa, die in alle Lebensverhältnisse hineingreift, kann in der damaligen Zeit gar nicht die Rede sein. Wenn man von Fürsten redet für die damalige Zeit, so haben diese Fürsten im Grunde nur irgendeinen Einfluß auf diejenigen, die sich ihnen angeschlossen haben. Derjenige, der auf seiner Scholle saß, betrachtete sich als der selbständige Herr auf seiner Scholle und kümmerte sich - wenn ich den trivialen Ausdruck [] gebrauchen darf - seiner Gesinnung nach einen blauen Teufel um denjenigen, der da mitherrschen wollte. Der tut, was er will.

Man darf nicht, wenn man in die Zeit Ludwigs des Frommen zurückgeht, die Geschichte heute so lesen, als ob das, was ihm als «Reich» zugeschrieben wird, in einem solchen Verhältnisse ihm zuzuschreiben wäre, soi-disant zu seiner Regierung gestanden war, wie heute ein Staat zu seiner Regierung steht. Das ist gar nicht der Fall. Diese Dinge müssen schon konkret betrachtet werden. Und so kann man sagen, daß sich herausgestellt haben ständige, verschiedenartige, stark differenzierte Interessenkreise. Das muß man ganz besonders in Betracht ziehen, weil aus diesen Dingen das geschichtliche Leben des Mittelalters überhaupt hervorgeht.

Nun sagte ich: Bemerkenswert ist das 15. Jahrhundert aus dem Grunde, weil im 15. Jahrhundert nach und nach wiederum, namentlich durch die natürliche Erschließung von Bergwerken und dergleichen, in Europa das Gold aufgetreten ist, später durch die Entdeckungsfahrten; so daß seit dem 15. Jahrhundert Verhältnisse eingetreten sind, die schon dadurch grundverschieden sind von den vorhergehenden, daß dann wiederum das Gold aufgetreten ist. Und dieses 15. Jahrhundert, das wir auch das Zeitalter des Christian Rosenkreutz nennen können, ist deshalb dasjenige, durch das man wiederum in Europa in die Geldwirtschaft segelte. Da ist auch in dieser Beziehung ein mächtiger Einschnitt. Die letzten Zeiten des vierten nachatlantischen Zeitraums waren in Europa die geldlosen, diejenigen der Naturalwirtschaft. Das ist das, was man ins Auge fassen muß. Und nun entwickelte sich während dieser Zeit durch alle Löcher desjenigen hindurch, was ich geschildert habe, das, was dann vom 15. Jahrhundert ab bewirkte, daß die Verhältnisse allmählich so geworden sind, daß wir jetzt von kompakten Nationalitäten, die nach Staaten abgetrennt sind, sprechen können.

Von einem solchen Gegensatz zwischen Deutschen und Franzosen zu sprechen, wie man das seit dem 15. Jahrhundert kann, ist für die Zeit bis zum 15. Jahrhundert noch ganz unmöglich, ist sogar sinnlos. Es hat sich gerade, was man französische Nation nennen kann, ganz [] langsam und allmählich erst gebildet. Gewiß, es waren die Franken unterschieden von den Sachsen; aber der fränkische Charakter war von dem sächsischen nicht mehr verschieden, als ich das letzte Mal geschildert habe. Es waren Stammesunterschiede, keine Volks- oder gar nationalen Unterschiede, keine größeren Unterschiede, als sie heute etwa sind zwischen Preußen und Bayern, vielleicht sogar ein geringerer Unterschied in vieler Beziehung.