Amerikanische Herrschaft statt edler Demokratie

Quelle: GA 024, S. 362-365, 2. Ausgabe 1982, 07.1917

«Kein Volk darf gezwungen werden, unter einer anderen Herrschaft zu leben, der es widerstrebt. Besitzwechsel und Rückkehr in früher gültige Hoheitsverhältnisse ist nur in den Ländern zu gestatten, wo das Volk selbst zur Sicherung seiner Freiheit, seines Behagens und Zukunftsglücks Wechsel und Rückkehr verlangt ... Die befreiten Völker der ganzen Erde müssen sich in aufrichtigem Gemeinschaftsempfinden ... zu einem festen Bunde verknüpfen, der mit den geeinten Kräften aller den Frieden und die Gerechtigkeit im Völkerverkehr zu schirmen vermag. Brüderlichkeit darf nicht länger ein leeres Wort sein, muß ein allgemein anerkannter Begriff werden, der auf dem Felsen der Wirklichkeit ruht.

So umschreibt Herr W. Wilson, was durch die Teilnahme Amerikas an diesem Kriege Wirklichkeit werden soll. Bestechende Worte sind es, denen gegenüber man sagen kann, daß sich jeder vernünftige Mensch mit gesundem Empfinden zu ihnen bekennen müsse. Schriebe sie ein schriftstellernder Menschenfreund zur Erbauung eines Leserkreises nieder, man könnte bei der Anerkennung ihrer Selbstverständlichkeit stehen bleiben. Man könnte auch mit der Geste des Moralisten versichern, daß der kein Freund des Fortschrittes und der Freiheit sein könne, der etwas dagegen einwenden will. Man kann sogar heute schon Stimmen vernehmen, die betonen, daß dieser Krieg doch die Lehre gebracht habe: Nur derjenige treibe gegenwärtig höhere, zeitgemäße Politik, der sich zu einem solchen oder einem ähnlichen Ideale bekenne und sein Handeln danach einrichte.

Reden über «Anschauungen» und davon, daß diese oder jene Anschauung vertreten werden müsse, weil man an sie glaubt, führt niemals zu einer Grundlage für das praktische Handeln. Dazu taugt allein, die Wirklichkeit scharf ins Auge zu fassen. Für den Angehörigen der mitteleuropäischen Staaten kann keine Auseinandersetzung über die «allgemein-menschliche» Berechtigung der Ententeziele, gewissermaßen eine solche über ihre «Schönheit» von Wert sein, sondern allein die Erkenntnis von ihrem wirklichen Kräfteverhältnis im Völkerleben. Deshalb wird im folgenden die für Europa wirkliche Gestalt der Ententeziele ins Auge gefaßt ohne Rücksicht darauf, daß das, was hier gesagt wird, den Ententeführern nicht angenehm klingen kann. Nur durch ein so orientiertes Denken kann man zu praktischen Impulsen kommen. Die Dinge werden etwas scharf formuliert werden, weil sie dieses aus den angegebenen Gründen müssen.

Ausdrücklich bemerkt soll werden, daß vorhandene Stimmungen bei dieser Formulierung keine Rolle spielen sollen, sondern allein die nüchterne Beobachtung der Tatsachen in den letzten Jahrzehnten. Was die Entente will, einzusehen, muß Grundlage sein für die in Mitteleuropa zu findenden Richtlinien; sich blenden lassen durch das, was sie sagt, führt auf die schlimmsten Abwege.

Es ist jedenfalls eine undankbare Aufgabe, gezwungen zu sein, sich gegen Vorstellungen wenden zu müssen, welche in hohem Grade die Vernunft und das Herz der Menschen für sich zu haben scheinen. Die noch dazu das Ergebnis der «wahren geschichtlichen Entwickelung der Menschheit zur edelsten Demokratie» zu sein scheinen. Und dennoch muß das folgende auf der Grundlage erbaut sein, daß das Bekenntnis zu Wilsons Wollen nicht nur den Angehörigen der mittel- und osteuropäischen Völker ein logisches Laster sein muß, sondern auch, daß innerhalb dieses Krieges und nach demselben jede einzelne Handlung und Maßnahme so geschehen müssen, daß dieses Wilsonsche und Entente-Wollen an der Gesundheit und Fruchtbarkeit dieser Maßnahmen und Handlungen sich brechen muß.

In den Ausdruck, den Herr Wilson seinem Wollen gegeben hat, sind die nach Verdunklung ihrer wahren Gestalt strebenden Kriegsziele der Entente auf fragwürdige Art hineingeheimnist. Man hat es mit den letzteren zugleich zu tun, wenn man sich mit den ersteren zu schaffen macht. Auf eine noch so geistreiche begriffliche Widerlegung des Wilsonschen «Programmes» darf es in dieser Zeit nicht ankommen. Man hat es gegenwärtig nicht mit Auseinandersetzungen zu tun, die entscheiden sollen, wer recht oder unrecht hat. Auf dem Felde, um das es sich hier handelt, hat nur Wert, was geschieht oder was den Keim für das Geschehen in sich trägt. Und Gedanken, die in Mitteleuropa als Keime für das Handeln von heute und morgen gedacht und gesprochen werden, haben nur Wert, wenn sie in diesem Sinne gehalten sind.

Wilsons Worte sind nicht von einem schriftstellernden Menschenfreund gesprochen. Sie sind die Fahne der Taten, zu denen sich die Amerikaner waffnen, und welche die Entente seit drei Jahren gegen Mitteleuropa vollbringt. Die Tatsachen stehen so, daß Mitteleuropa gegen das zu kämpfen hat, das hinter dieser Fahne behauptet, zum Heile der Menschheit, zur Befreiung der Völker zu Felde zu ziehen. Die Entente und Wilson sagen, wofür sie zu kämpfen vorgeben. Ihre Worte haben Werbekraft. Ihre Werbekraft wird immer bedenklicher. Es gibt Menschen in Mitteleuropa, die gewiß nicht eingestehen wollen, daß sie Wilson nachsprechen, deren Ideen aber dessen Worten nicht unähnlich klingen.

Wer den Ursprung dieses Krieges in einem tieferen Sinne kennt, der kann nicht anders, als die Notwendigkeit betonen, daß das Entente-Wilson-Programm durch Mitteleuropa die schärfste Zurückweisung durch Tatsachen erfährt. Denn das real Aussichtsvolle dieses Programmes - neben seinem moralisch Blendenden - liegt darin, daß es die Instinkte der mittel- und osteuropäischen Völker dazu benützen will, diese Völker durch moralisch-politische Überrumpelung in wirtschaftliche Abhängigkeit von dem Anglo-Amerikanismus zu bringen. Die geistige Abhängigkeit würde dann nur die notwendige reale Folge sein.

[...] Dem, was in diesen Absichten tatsächlich liegt, wird man nur wirklich gewachsen sein, wenn man in Mitteleuropa praktisch nach der Erkenntnis handelt: Im Westen nennt man die Herrschaft des Anglo-Amerikanertumes Menschheitsbefreiung und Demokratie. Und weil man das tut, erzeugt man den Schein, als ob man auch wirklich ein Menschenbefreier sein wolle.