Strafe soll Bewußtsein in Zukunft gegen Ausschaltung schützen

Quelle: GA 166, S. 087-088, 3. Ausgabe 1982, 01.02.1916, Berlin

Aber schauen wir uns einmal die moralisch schlechten Handlungen an. Schauen wir uns zum Beispiel nun folgende Handlung an, um gleich irgend etwas ganz Sprechendes zu haben. Nehmen wir an, irgend jemand habe nichts zu essen oder hätte irgend etwas gerne aus einem anderen Grunde als Hunger, und er stiehlt. Also «stehlen», nicht wahr, ist eine schlechte Handlung. Nun, schließt dasjenige, was wir gesagt haben, aus, daß irgend jemand, der gestohlen hat, Reue hat über seine Tat? Das schließt es nicht aus! Denn warum nicht, meine lieben Freunde? Aus dem sehr einfachen Grunde nicht, weil im Ernste, in vollem Ernste, derjenige, der gestohlen hat, gar nicht hat stehlen wollen, sondern er hat dasjenige besitzen wollen, was er gestohlen hat. Das Stehlen hätte er fein gelassen, wenn Sie ihm das geschenkt hätten, was er gewollt hat, oder wenn er es auf eine andere Weise hätte kriegen können als durch das Stehlen.

Es ist ein eklatanter Fall. Aber in einer gewissen Weise gilt das für alles, was eigentlich als schlechte Tat in Betracht kommt. Die schlechte Tat als solche, unmittelbar so, wie sie ist, ist eigentlich [] nie gewollt. Die Sprache hat ein feines Gefühl für die Sache: wenn die schlechte Handlung vorbei ist, «regt sich das Gewissen». Warum regt sich das Gewissen? Weil jetzt erst die schlechte Tat zum Wissen erhoben wird. Sie geht hinauf ins Wissen. Da, wo sie sich vollzogen hat, da war eigentlich im Wissen drinnen das andere, um dessentwillen die schlechte Tat vollzogen worden ist. Die schlechte Tat liegt nicht im Wollen. Und auch die Reue hat den Sinn, daß der Betreffende zum Wissen heraufhebt, wie er sich das Bewußtsein hat trüben lassen in dem Moment, wo er die schlechte Tat ausgeführt hat. Wir müssen immer davon sprechen: Wenn jemand eine schlechte Tat ausübt, so ist dasjenige, um was es sich handelt, das, daß sein Bewußtsein für diese Tat getrübt war, herabgestimmt war, und daß es sich für ihn darum handelt, eben ein Bewußtsein für solche Fälle zu gewinnen, wie der einer war, für den das Bewußtsein herabgestimmt war. Alles Bestrafen hat nur den Sinn, solche Kräfte in der Seele aufzurufen, daß das Bewußtsein sich auch auf solche Fälle erstreckt, die sonst bewirken, daß das Bewußtsein sich ausschaltet.

Unter denjenigen Dissertationen, die an den Universitäten von Philosophen gemacht worden sind, die sich zu gleicher Zeit mit juristischen Problemen beschäftigen, ist besonders häufig die Dissertation über «das Recht, zu strafen». Nun hat man über die Gründe, warum gestraft werden soll, viele Theorien aufgestellt. Die einzig mögliche findet man nur, wenn man weiß, daß es sich darum handelt, mit der Strafe die Kräfte der Seele so anzuspannen, daß das Bewußtsein sich erweitert über Kreise, über die es sich vorher nicht erstreckt hat. Und dies ist auch die Aufgabe der Reue. Die Reue soll gerade darinnen bestehen, die Tat so anzuschauen, daß sie durch ihre Gewalt ins Bewußtsein heraufgehoben wird, so daß das Bewußtsein nun den Zusammenhang so überschaut, daß es das nächste Mal nicht wiederum ausgeschaltet werden kann. Sie sehen, worauf es ankommt: darauf, daß man lernt, im Leben genau zu unterscheiden, wenn man etwas verstehen will, daß man wirklich lernt, zu unterscheiden zwischen vollbewußtem Tun und demjenigen, wofür das Bewußtsein herabgestimmt ist.