Nation als italienisches Blut und deutscher Geist

Quelle: GA 157, S. 302-305, 2. Ausgabe 1960, 06.07.1915, Berlin

Man muß sich klar sein, daß es in der Welt wirklich nicht davon abhängt, daß man das, was geschehen muß, nach seiner subjektiven Bequemlichkeit einschränken will; es ist ganz unmöglich, daß ein gewisses Maß desjenigen, was dem Menschen zugeteilt ist, verkleinert wird. Und wenn der Mensch in einem bestimmten Zeitalter bestimmte Kräfte entwickeln soll und er entwickelt nur einen Teil, so kommen die anderen doch heraus. Es ist nicht wahr, daß sie nicht herauskommen! So wenig wie, wenn Sie eine Maschine heizen, das, was darüber geheizt wird, verschwindet, sondern hinausstrahlt, ebensowenig kann im Menschenleben das, was da ist, verschwinden. So ist es nicht wahr, daß das, was der Mensch heute so verachtet, die mystischen Kräfte, nicht vorhanden wäre. Der Mensch kann es verleugnen. Aber in dem, was zur Welt gehört, bleibt es vorhanden. Das können Sie ableugnen, Sie können ein großer Materialist sein in Ihrem Bewußtsein, aber Sie können es nicht als ganzer Mensch sein. Das wird sich dann, ohne daß er es weiß, so entwickeln, daß er das, was er sonst den regulären Göttern darreichen würde, Ahriman und Luzifer darreicht. Denn alles, was Sie in Ihrem Bewußtsein unterdrücken, nicht zur Entfaltung kommen lassen, reichen Sie Ahriman und Luzifer dar.

Sehen Sie, meine lieben Freunde, es kann gewiß keine zeitgenössische Kultur in der Gegenwart geben, die bis in die innersten Fasern des Seelenlebens hinein einen intensiveren Materialismus getrieben hat als die italienische Kultur. Die italienische Kultur der Gegenwart, sie ist ja als nationale Kultur eine Kultur, die dadurch entstand, daß die Volksseele durch die Empfindungsseele der Menschen wirkt. Wenn die englische Kultur Materialismus hervorbringt, so ist das ihre Mission; der Materialismus wird dort Oberfläche sein, wird aber so sein, wie er sein soll. Da kommt das zustande, was die Erde einmal an Materialismus braucht. Das ist die Mission des britischen Volkes, der Erdenentwickelung den Materialismus zu geben. Da kann sich das nicht so tief in die Seele hineinnisten wie beim Italiener, der alles in die tiefsten Empfindungen aufnimmt, da lebt sich der Materialismus bis in die tiefsten Gründe hinein. Darum hat die italienische Zeitkultur gegenwärtig förmliche Tobsuchtsanfälle des nationalistischen Materialismus mit ganzer Seele, während sich der Materialismus eben nicht mit ganzer Seele ergreifen läßt. Man kann ihn vertreten gegenüber der Welt, aber man kann sich nicht für ihn begeistern, außer man ist ein Angehöriger der italienischen Volksseele. Aber so wahr es ist, daß unsere Zeit überhaupt die materialistischste ist, ebenso wahr ist es, daß bei den südlichen Völkern gerade aus der Empfindungsseele heraus die materialistischsten Empfindungen kommen. Denken Sie, was Fichte ausgesprochen hat: Wer an Freiheit der Geistigkeit glaubt, der gehört eigentlich zu uns! - Bei ihm ist ganz und gar durch den Geist charakterisiert das, was Nationalität in seinem Sinne sein soll: ein Geistbegriff. Nichts von dem ist im italienischen Nationalitätsbegriff; die Materie des Blutes ist es hier, worauf es ankommt, ein ganz naturalistischer Nationalismus ist das. Wenn der eine von Nation spricht, meint er etwas ganz anderes, als wenn der andere von Nation spricht. Ein ganz nationalistischer Materialismus lebt im italienischen Volk. Selbstverständlich bezieht sich das alles nur auf die heutige Zeit. Nun denken Sie, wenn in einer so entschiedenen Weise die Seele hinstrebt nach einem naturalistischen Materialismus in den Absichten des Landes, dann kann nicht verlorengehen deshalb der mystische Sinn; der bleibt. Er wird nur aus dem Bewußtsein herausgeworfen und legt sich dann auf etwas anderes, er wird nicht aus dem wahrsten innersten Sein herausgeworfen, nur kommt er in den Dienst derjenigen Mächte, die wir mit dem technischen Namen der ahrimanischen und luziferischen Mächte bezeichnen; die Kräfte werden dann nicht in die Bahn der fortschreitenden Gottheiten geleitet, sondern in die Bahn der ahrimanischen und luziferischen Mächte. Man kann annehmen, irgend etwas wird unter diesen Völkern hervorkommen dadurch, daß mystisch geartete Kräfte herausgeworfen werden in das öffentliche Leben. Finden wir so etwas im Süden, als eine richtig herausgeworfene mystische Willensströmung?

1347 war es, am Pfingstsonntag des Mai, als in Rom, Cola di Rienzi an der Spitze eines großen Zuges im altrömischen Panzer nach der Empfindung der damaligen Zeit, mit vier Standarten, hinaufgegangen ist nach dem Kapitol, nach der Stätte, von wo aus man immer gesprochen hat, wenn man zu den Römern über das Römertum gesprochen hat. Und Rienzi verkündete von da aus das, was er zu verkünden hatte, wie er selbst sagte, als der Beauftragte des Jesus Christus und als der, der im Namen der Freiheit der ganzen Welt zu den Römern zu sprechen hatte. Dazumal wurden tatsächlich unglaublich viele Phrasen gesprochen. Sie hatten in der damaligen Zeit - 1347 - eine gewisse Bedeutung, aber sie hatten keine Realität. Das Ganze war etwas, das wie im Feuer verpuffte. Aber das meine ich noch nicht. Ich möchte hinweisen darauf, daß das geschehen ist am Pfingstsonntag, 20. Mai 1347. Das war dazumal, als sich der Vertreter dieser ganzen Strömung als ein Beauftragter des Christus bezeichnete. Und später, als er immer mehr ausbildete seine Lehre, da nannte er sich auch den Inspirierten vom Heiligen Geist. Und wieder an einem Pfingstsonntag ist die Kriegserklärung an Österreich erfolgt. Vorangegangen ist, daß derjenige, der sich allerdings nicht den Beauftragten des Christus genannt hat, aber der doch so leicht durchtönen ließ, daß er vom Heiligen Geist durchdrungen ist, an der Spitze eines großen Zuges unmittelbar vorher in Rom gesprochen hat. Einer, der ganz gewiß nicht eine Spur jener Mystik in seiner Seele hatte, in deren Namen Rienzi damals sprach. Aber - da haben Sie das Herausgeworfene der Mystik - am richtigen Tag, nämlich da wieder Pfingstsonntag war, war es gesprochen. Aber es ist im Dienste der anderen Mächte gesprochen. Es ist der Christus-Impuls aus dem Bewußtsein herausgeworfen. Und wie sehr es das Ahrimanische war, das ja schließlich in dieser Zeit erwartet werden muß, das zeigen wenige Worte, die damals gesprochen worden sind. Selbstverständlich konnte im zwanzigsten Jahrhundert der Sprecher diesmal nicht im Panzer mit vier Standarten kommen, sondern er ist im Auto gekommen. Das ist selbstverständlich dasjenige, was unserer materialistisch gerichteten Zeit zum Opfer gebracht werden muß. Aber er mußte ja schließlich - unbewußt vielleicht - ein wenig Rechnung tragen dem, daß einer anderen Macht übergeben ist dasjenige, was eigentlich als mystische Menschenkraft herausgeworfen ist und das nun draußen in der Welt strömt - in sein Gegenteil verkehrt. Er hat ja nach seiner Rede - der Mann, der nach seiner eigenen Namengebung d'Annunzio heißt, in Wirklichkeit heißt er ja anders - nicht nur so gesprochen, daß geglaubt werden konnte - in der italienischen Sprache ist das ja leicht zu machen -, alle die großen flammenden Worte des Rienzi leben wieder auf, an die er so deutlich in jedem Satz erinnern wollte, sondern er hat, nachdem er diese Rede gehalten hat, in der allerdings mitteleuropäisches Bewußtsein nur Phrasen sehen kann, nachher einen Degen in die Hand genommen, diesen Degen geküßt, zum Zeichen, daß er jetzt an des Degens Kraft die Kraft der Rede abgeben wolle. Dieser Degen, er gehörte dem Redakteur einer Zeitschrift, die man öfter sieht, wenn man nach Italien kommt. Es war der Degen, den der Redakteur einer Zeitschrift dem Bürgermeister von Rom bei dieser Gelegenheit als ein heiliges Vermächtnis übergab. Dieser Degen gehörte dem Redakteur des Witzblattes « Asino ». Die Welt wird einmal in der Zukunft einsehen, wenn sie aus anderen Untergründen heraus urteilt als aus denen, aus denen heute so oft geurteilt wird, daß so manches, was in unserer Gegenwart geschieht, eben von dem Gesichtspunkt zu beurteilen ist, wie manches, was als mystische Kraft im Menschen vorhanden ist, herausgeworfen wird, dem Weltprozeß übergeben wird, aber nicht verlorengeht, sondern die Beute der ahrimanischen und luziferischen Mächte wird. Und selten zeigt in der unmittelbaren Anschauung die Ironie der Weltgeschichte so klar, was hier geschieht, wie in dem eben angedeuteten Fall.