Geistige statt Blutsbruderschaft der Dorfgemeinde

Quelle: GA 159, S. 308-312, 2. Ausgabe 1980, 15.06.1915, Düsseldorf

Wir wissen nun eines aus den zahlreichen Vorträgen, die in den verflossenen Jahren gehalten worden sind: daß im Osten Europas ein Volk lebt, welches insbesondere dazu berufen sein wird, dasjenige, was an elementaren Kräften in ihm ist, erst in der sechsten Kulturperiode zur besonderen Ausprägung zu bringen. Wir wissen, daß das russische Volk erst in der sechsten Kulturperiode reif sein wird, die Kräfte, die in ihm heute elementar vorhanden sind, zur Ausprägung zu bringen. West- und Mitteleuropa ist dazu berufen, dasjenige in die Menschenseelen hineinzubringen, was durch die Bewußtseinsseele [] hineingebracht werden kann. Dazu ist der Osten nicht berufen. Der Osten Europas wird warten müssen, bis das Geistselbst herabsteigt auf die Erde und die Menschenseelen durchdringen kann. Das ist oftmals erwähnt worden; wir müssen es im rechten Sinne verstehen. Im unrechten Sinne verstanden, kann es sehr leicht zu Hochmut und zu Überhebung gerade im Osten führen. Die Höhe der nachatlantischen Kultur ist schon in der fünften nachatlantischen Kulturperiode zu erreichen. Dasjenige, was folgen wird in der sechsten und siebenten Kulturperiode, das wird eine absteigende Entwickelung sein. Dennoch aber wird es so sein, daß diese absteigende Kulturentwickelung in der sechsten Kulturperiode inspiriert sein wird, durchdrungen sein wird von dem Geistselbst. Heute fühlt instinktiv, aber man möchte sagen, oftmals recht verkehrt instinktiv, der Mensch des Ostens, derjenige, der von den Geistern des Ostens selbst «der russische Mensch» genannt wird, er fühlt, daß das mit ihm so steht; er hat nur meistens ein höchst unklares Bewußtsein davon. Schon charakteristisch ist es, daß so vielfach heraufkommen konnte dieser Ausdruck «der russische Mensch». In der Sprache herrscht ein Genius, wenn so etwas aus der Sprache herausgeholt wird und man nicht sagt, wie im Westen: der Brite, der Franzose, der Italiener, der Deutsche, sondern «der russische Mensch». Und viele der russischen Intellektuellen legen einen Wert darauf, daß immer gesagt werde «der russische Mensch». Das liegt tief begründet in dem ganzen Genius der entsprechenden Kultur. Man meint schon dasjenige, was sich als Menschentum, gleichsam als Brüderlichkeit über eine Gemeinsamkeit ausbreitet. Man will es andeuten dadurch, daß man eben das Menschsein im Ausdruck gebraucht. Aber man zeigt zugleich, daß man noch nicht auf der vollen Höhe ist, die man zu erreichen hat in ferner Zukunft, indem man dazusetzt etwas, was im Grunde grell widersprechend ist dem Hauptwort. Der «russische» Mensch: man nimmt gleichsam im Eigenschaftswort das zurück, was man im Hauptwort ausspricht. Denn wenn das Menschentum erreicht werden soll, so darf es kein solches Eigenschaftswort haben, welches dieses Menschentum ja wiederum zu etwas Ausschließendem macht.

Aber noch viel, viel tiefer ist gegenwärtig gerade in den Mitgliedern [] der russischen Intelligenz das darinnen begründet, daß eine gewisse, in der Zukunft zu verstehende Gemeinschaftlichkeitsidee, eine Brüderlichkeitsidee herrschen müsse. In dieser Beziehung fühlt die russische Seele schon: Das Geistselbst soll einmal herabsteigen, es kann aber nur herabsteigen in eine Menschengemeinschaft, welche von Brüderlichkeit durchdrungen ist. Niemals kann es sich ausbreiten in einer Menschengemeinschaft, die nicht von Brüderlichkeit durchdrungen ist. Deshalb ist es, daß die russischen Intellektuellen, wie sie sich nennen, dem Westen Europas und auch Mitteleuropa folgenden Vorwurf machen. Sie sagen: Ihr achtet ja gar nicht auf dasjenige, was echtes Gemeinschaftsleben ist, ihr pflegt nur den Individualismus. Jeder will ein Eigener sein, jeder will nur eine Individualität sein. Ihr treibt das Persönliche, durch das sich jeder einzelne Mensch als Selbst, als Individualität fühlt, auf die höchste Spitze. - Das ist dasjenige, was in sehr vielen Vorwürfen in bezug auf Barbarei und so weiter Mitteleuropa und Westeuropa vom Osten her entgegentönt. Und diejenigen, die sich bewußt werden wollen über das, was da eigentlich vorliegt, sagen: Dieses ganze West- und Mitteleuropa hat schon alles Gefühl für menschliche Zusammenhänge verloren. Und indem man jetzt Gegenwart und Zukunft verwechselt, sagt man: Wirkliche menschliche Zusammenhänge, wo sich jeder als der Bruder des andern fühlt, wo sich derjenige, der über dem andern steht, fühlt als dessen «Väterchen» und «Mütterchen», wirkliches menschliches Gemeinschaftsleben ist nur in Rußland. - So sagt die russische Intelligenz. Und sie sagt, deshalb hat es das westeuropäische Christentum nicht zustande gebracht, das wirkliche menschliche Gemeinschaftswesen zu pflegen. Der Russe kennt noch, so sagen sie, die Gemeinschaft. Und ein solcher ausgezeichneter russischer Intellektueller wie der im 19. Jahrhundert lebende Alexander Herzen kam, als auf die letzte Konsequenz, dazu, zu sagen: In Westeuropa kann niemals Glück entstehen. Was man auch für Versuche machen mag in der westeuropäischen Kultur und Zivilisation, niemals wird da Glück entstehen. Niemals wird die Menschheit zufrieden sein können. Da kann nur das Chaos herrschen. Der einzige Segen liegt im russischen Wesen, wo die Menschen sich noch nicht von der Gemeinschaft getrennt haben, wo [] sie in ihren Dorfgemeinden noch etwas haben wie Gruppenseelenhaftigkeit, an dem sie festhalten.

Was wir Gruppenseele nennen, aus dem sich die Menschheit nach und nach herausgearbeitet hat und in dem noch ganz und gar die Tierheit drinnen lebt, das verehren gerade die russischen Intellektuellen bei ihrem Volk als etwas besonders Großes und Bedeutsames. Sie können sich nicht erheben zu dem Gedanken, daß die Zukunftsgemeinschaftlichkeit als hohes Ideal vorschweben soll, ein Ideal, das erst geltend gemacht werden muß. Sie halten an dem Gedanken fest: Schauen wir, was uns als den letzten in Europa geblieben ist! Die andern haben schon sich herausgehoben aus der Gruppenseelenhaftigkeit, wir haben sie uns noch bewahrt; wir müssen sie uns bewahren. Diese Gruppenseelenhaftigkeit wird in Wirklichkeit gar nicht sein dürfen für die Zukunft, denn das ist die alte Gruppenseelenhaftigkeit. Es würde nur eine luziferische Gruppenseelenhaftigkeit, eine auf früherer Stufe zurückgebliebene Gruppenseelenhaftigkeit sein, während die wahre, die zu erstrebende Gruppenseelenhaftigkeit diejenige ist, die wir innerhalb unserer Geisteswissenschaft suchen. Aber gerade an dem Drang und der Sehnsucht der russischen Menschen, namentlich der Intellektuellen, ist zu erkennen, wie man zum Herabsteigen des Geistselbst den Geist der Gemeinschaft braucht. Wie er dort nur auf falschem Wege gesucht wird, so muß er in unserer geisteswissenschaftlichen Strömung auf rechtem Wege gesucht werden. Und wir möchten hinüberrufen nach dem Osten: Gerade das müssen wir bis ins Äußerste überwinden, was ihr auf äußere Art zu bewahren sucht: die alte luziferisch-ahrimanische Gemeinschaft. - Die Gemeinschaftlichkeit luziferischer und ahrimanischer Art, sie wird einen so festen Glaubenszwang haben, wie ihn begründen mußte die orthodox gebliebene katholische Kirche in Rußland. Diese Gemeinschaftlichkeit wird nicht verstehen, was Gedankenfreiheit ist, und sie wird am allerwenigsten sich zur völligen Individualität und doch zum sozialen brüderlichen Zusammenleben heraufschwingen können. Daher möchte sie das bewahren, was in Blutsbrüderschaft geblieben ist, in bloßer Zusammengehörigkeit durch das Blut. Eine Gemeinschaft, die sich nicht auf das Blut, sondern auf den Geist, auf die Gemeinschaft der Seelen [] gründet, das ist, was angestrebt werden muß auf geisteswissenschaftlichem Wege. Und das ist es, was wir anstreben, indem wir uns sagen: Gemeinschaften müssen wir anstreben, in denen das Blut nicht mehr spricht. Es wird fortbestehen selbstverständlich, das Blut, es wird in Familienzusammenhängen sich ausleben - was bleiben muß, das wird nicht ausgerottet, aber etwas Neues muß entstehen! Das, was in dem Kind bedeutsam ist, wird in den Greisenkräften erhalten sein, aber der Mensch muß im späteren Lebensalter Neues hinzubekommen.

Dasjenige, was das Blut bringt, darf nicht so umgedeutet werden, als ob es die großen Menschengemeinschaften der Zukunft umfassen würde. Das ist der große Irrtum, der vom Osten in die heutigen blutigen Ereignisse hineinspielt, daß man einen Krieg entbrannt hat unter dem Titel einer Gemeinschaft des Blutes der slawischen Völker. Da spielt in unsere schicksaltragende Zeit all dasjenige hinein, was jetzt eben auseinandergesetzt worden ist, was aber im Grunde wiederum den richtigen Kern in sich enthält, nämlich das instinktive Fühlen: das Geistselbst kann nur in einer brüderlichen Gemeinschaft erscheinen. Es darf aber nicht eine Gemeinschaft des Blutes sein, sondern es muß eine Gemeinschaft der Seelen sein. Was dann erwächst als Gemeinschaft der Seelen, was das sein soll, das pflegen wir in seiner Kindhaftigkeit in unseren Arbeitsgemeinschaften, in unseren Zweigen. Dasjenige, was so wie der Osten Europas an der Gruppenseelenhaftigkeit festhält, indem er zum Beispiel die slawische Gruppenseele als etwas bezeichnet, aus dem er nicht heraus will, das er im Gegenteil zum umfassenden Prinzip für seine ganze Staatenbildung ansehen will, das ist etwas, was gerade überwunden werden muß.