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Geschlossenheit der Kulturnationen vordatiert
Quelle: GA 275, S. 035, 2. Ausgabe 1980, 28.12.1914, Dornach
Geistige Wesenheiten leben in der Sprache des Menschen darinnen, wirken darinnen, und indem der Mensch Worte formt, Worte bildet, drängen sich in seine Worte hinein elementarische geistige Wesenheiten. Auf den Flügeln der Worte fliegen geistige Wesenheiten durch die Räume, in welchen sich die Menschen miteinander unterhalten. Daher ist es so wichtig, daß man eben achtet auf gewisse Intimitäten der Sprache, und daß man sich nicht einfach der Willkür des Leidenschaftslebens überläßt, wenn man spricht!
Nun stand der Mensch bis ins 15., 16. Jahrhundert zu seiner Sprache so, daß er noch etwas hatte von dem lebendigen Erleben der elementarischen Geistigkeit, die in der Sprache vorhanden ist. Er hatte noch etwas von diesem Erleben der elementarischen Geistigkeit der Sprache. Es wirkte in ihr noch dasjenige, was in der Sprache an Geistigkeit ist, denn die Sprache ist gewissermaßen genialer, geistiger in mancher Beziehung als das einzelne menschliche Individuum. Man merkt heute nur noch manchmal, wie der Mensch sozusagen aus der materialistischen Gesinnung zurückfällt in eine Empfindung der genialischen Geistigkeit der Sprache.
[...] Die Sprache ist überall durchzogen von solcher Spiritualität, von einem solchen Glauben an die Geistigkeit. Und ein Gefühl - wenigstens für diesen Zusammenhang mit der Geistigkeit durch die Sprache - lag in der Natur der menschlichen Seele wirklich noch während des Ablaufs der 4. nachatlantischen Kulturperiode bis in die neuere Zeit, bis ins 15., 16. Jahrhundert hinein, bei allen Völkern Europas! [...] Wenn wir mit den Mitteln der Geisteswisschenschaft das Leben der Menschen betrachten, wie es abgelaufen ist in den Jahrhunderten des Mittelalters bis in die neuere Zeit hinein, so finden wir, wenn wir in die Seelen hineinschauen können, in der Tat, daß das Verhältnis des Menschen zu seiner Sprache noch ein anderes war im Verlaufe der vierten nachatlantischen Kulturperiode, ja selbst noch in der letzten Phase bis in das 14., 15. Jahrhundert. Die Menschen hörten gleichsam bei allem, was sie sprachen, noch Untertöne, richtige Untertöne mit. Man glaubt das heute nicht mehr, weil heute der Mensch wirklich nur materiell in dem Sprachlaute lebt. Etwas Geistiges klang mit, gleichsam wie ein Erklingen derselben Dinge in einer unteren Oktave; so klang mit, wenn man sprach oder sprechen hörte, etwas, was nicht mehr differenziert war in dieser oder jener Sprache, sondern was etwas Allgemein-Menschliches war. Man kann wirklich sagen: wenn sich auslebt das menschliche Erleben gleichsam in der Blüte der einzelnen Sprachen, so erlebt heute die Menschheit diese Blüte gleichsam als Erzittern der Töne im Ohr, und sie erlebt diese Töne wie etwas, das etwas bedeutet. Dagegen erlebte man früher ein Eintauchen des ganzen Sprachelementes in etwas, was mitklang und was nicht differenziert war in verschiedene Sprachen. Die Grenze zwischen dem einen und dem anderen Erleben ist eben mit dem 15. und 16. Jahrhundert gegeben. Die Menschheit ist herausgerissen worden aus den Genien der Sprache!
Niemand kann den eigentlichen Ruck verstehen, der in der Zeit des 15., 16., 17. Jahrhunderts der Menschheit gegeben worden ist, der nicht eingeht auf dieses eigentümliche Abgedämpftwerden der Untertöne des sprachlichen Erlebens [...] Daher hat die ganze Geschichte vor diesem Zeitraume ein ganz anderes Gepräge als nach diesem Zeitraume. Man muß sich [...] ein geistiges Ohr erziehen für dieses ganz andere Erklingen der Ereignisse noch im Mittelalter, als es heute der Fall ist, weil die Menschenseelen ganz ander miterlebten das, was dazumal erlebt werden konnte.
Ich will zum Beispiel herausgreifen die Kreuzzüge als Menschheitserlebnis, als Seelenerlebnis. Sie sind nur denkbar, so wie sie im Mittelalter sich ausgelebt haben, wenn man weiß, daß dieses Miterleben solcher Untertöne, geistig-spiritueller Untertöne des sprachlichen Erlebens vorhanden war. Die heutigen Menschen Mittel- und Westeuropas würde das Wort der Synode von Clermont: Gott will es - Dieu le veut - wahrhaft nicht so berühren als die Menschen des Mittelalters. Aber die Gründe dafür sind nur zu erkennen, wenn man eingeht auf das, was eben gesagt worden ist.
Mit alledem hängt aber auch zusammen eine wichtige Erscheinung in dem ganzen modernen Geistesleben. Es hängt damit zusammen die ganze Formation des neueren geschichtlichen Lebens. Versuchen Sie einmal in Ihre geschichtliche Auffassung hineinströmen zu lassen diese Intimität des sprachlichen Untertönens, dann werden Sie finden, warum in dem Zeitpunkte, der angedeutet worden ist, sich in sich gruppieren die europäischen Nationalitäten, welche vorher in ganz anderen Verhältnissen zueinander waren, von ganz anderen Impulsen in ihren Verhältnissen zueinander beherrscht waren. Wie sich in den einzelnen Territorien Europas die einzelnen Nationalitäten zusammenschließen, sich formen bis zum heutigen Tage, das hängt mit Impulsen zusammen, die man ganz falsch interpretiert, wenn man - von heute zurückgehend - die Entstehung der Nationen im Mittelalter oder im Altertume sucht und nicht berücksichtigt, wie eine so wichtige Etappe überschritten werden mußte für das Seelenleben.