Schädelform individuell

Quelle: GA 060, S. 104-105, 2. Ausgabe 1983, 17.11.1910, Berlin

Wenn wir nun beim Menschen sehen, wie uns an ihm berechtigterweise die besondere Schädelform interessiert, so müssen wir sagen: In dieser besonderen Schädelform drückt sich in der Tat auch etwas von seinem innersten Wesen aus. Jeder Mensch weiß, daß dies schon im groben der Fall ist und daß man immer Unterschiede zwischen dem menschlichen Innern bei diesem oder jenem Menschen in der Stirnform, in der Schädelform finden wird. Selbstverständlich darf man nicht auf gewisse Gebiete des geistigen Lebens dabei blicken, die sich wieder von der an den Leib gebundenen Seele emanzipieren. Aber als eine gewisse Grundlage ist doch das vorhanden, was man als Ausdruck des zur Seele gewordenen Geistes bezeichnen kann und mit so großem Unrecht ausgestaltete in dem, was man Phrenologie, Schädelbeobachtung und dergleichen nennt. Denn das Wesentliche ist gerade, sich klarzumachen, daß jene Formen, die im menschlichen Schädel zum Ausdruck kommen, für den Menschen als solchen, wie er als moralisches, intellektuelles Wesen vor uns steht, individuelle und nicht generelle sind. Wo wir aber darangehen, zu generalisieren, da verkennen wir überhaupt den ganzen Zusammenhang. In dieser Art ist die ganze Phrenologie, wenn sie so getrieben wird, ein materialistischer Unfug. Man sollte sie überhaupt zu keiner Wissenschaft machen im rechten Sinne des Wortes, denn das kann sie nicht sein. Was uns in der menschlichen Schädelbildung entgegentritt, ist ein Individuelles, das von Mensch zu Mensch verschieden ist. Die Art und Weise, wie wir dann den Menschen gerade nach diesen Merkmalen beurteilen wollen, muß ebenso eine individuelle sein, wie es das Verhältnis des Menschen zu einem Kunstwerk ist. Wie es da keine allgemeinen, festgestellten Regeln gibt, sondern wie man ein Verhältnis zu einem jeden Kunstwerk gewinnen muß, wenn es wirklich eines ist, so wird man, wenn man nach allgemeinen Regeln an das geht, was an künstlerischem Sinn in dem Menschen steckt, schon zu einigen Urteilen kommen können. Nur werden sich diese Urteile ganz anders ergeben, als sie gewöhnlich ausgesprochen werden. Aber gerade das wird sich uns ergeben: Betrachten wir einen menschlichen Schädel, so werden wir sehen, wie der Geist in der Form in unmittelbarer Beziehung arbeitet, wie die Kräfte des Geistigen - des Ich - von innen heraus die Schädelkapsel förmlich entgegenschieben dem, was von außen nach innen arbeitet. Nur wenn man ein Gefühl für dieses Arbeiten von außen nach innen und von innen nach außen hat, kann man sich auf das einlassen, was in der menschlichen Schädelform, die das Gehirn umschließt, uns entgegentritt.