Völker als gefährliches Thema II

Quelle: GA 121, S. 209-211, 5. Ausgabe 1982, 17.06.1910, Oslo (Kristiania)

Dann wird dieses sonst etwas gefährliche Thema doch nicht böse Früchte getragen haben, wenn wir alles, was hier zusammengekommen ist aus Nord-, Süd- und Ost-, West- und Mitteleuropa, so empfinden, daß es wichtig ist innerhalb der gesamten Menschheit, wenn wir fühlen, daß die großen Völker sowohl als die kleinen Volkssplitter ihre Mission haben und beizutragen haben ihren Teil für das Ganze. Zuweilen haben kleine Volkssplitter, weil sie alte oder neue Seelenmotive bewahren sollen, Allerwichtigstes beizutragen. So kann, selbst wenn wir auch diese gefährliche Frage zum Gegenstand der Darstellung machen, nichts anderes dabei herauskommen als die Grundempfindung einer Seelengemeinschaft aller derjenigen, die vereinigt sind im Zeichen geisteswissenschaftlichen Denkens und Fühlens und der geisteswissenschaftlichen Ideale.

Nur dann, wenn wir noch aus unseren Sympathien und Antipathien heraus empfinden würden, wenn wir undeutlich den Kern unserer Weltbewegung erfaßt hätten, könnten Mißverständnisse entstehen aus dem, was gesagt worden ist. Haben wir aber das erfaßt, was als Geist in diesen Vorträgen waltet, dann können auch die Dinge, die uns da entgegengetreten sind, dazu verhelfen, daß wir den festen Entschluß und das hohe Ideal fassen, dasjenige beizutragen zu dem gemeinsamen Ziele - jeder auf seinem Standpunkte und auf seinem Boden -, was in unserer Mission liegt. Wir können das am besten mit dem, was aus unserem Selbst, aus dem entspringt, wozu wir veranlagt sind.

Wir dienen der gesamten Menschheit am besten, wenn wir das in uns besonders Veranlagte entwickeln, um es der gesamten Menschheit einzuverleiben als ein Opfer, das wir dem fortschreitenden Kulturstrom bringen. Das müssen wir verstehen lernen. Verstehen müssen wir lernen, daß es schlimm wäre, wenn die Geisteswissenschaft nicht beitragen würde zur Entwickelung von Mensch, Engel und Erzengel, sondern beitragen würde zur Überwindung einer Volksgesinnung durch die andere. Nicht dazu ist die Geisteswissenschaft da, dazu zu verhelfen, daß sich das, was als religiöses Bekenntnis irgendwo auf der Erde herrscht, ein anderes Gebiet erobern kann. Würde jemals der Okzident durch den Orient erobert werden oder umgekehrt, so entspräche das durchaus nicht der geisteswissenschaftlichen Gesinnung. Allein das entspricht ihr, wenn wir unser Bestes, rein Menschliches für die gesamte Menschheit hingeben. Und wenn wir ganz in uns selber leben, aber nicht für uns, sondern für alle Menschen, so ist das wahrhafte geisteswissenschaftliche Toleranz. Das sind Worte, die ich anschließen mußte an unser bedenkliches Thema.

Durch die Geisteswissenschaft - das werden wir immer mehr einsehen - wird alle Menschen-Zersplitterung aufhören. Deshalb ist gerade jetzt die richtige Zeit, die Volksseelen kennenzulernen, weil die Geisteswissenschaft da ist, die uns dazu bringt, die Volksseelen nicht einander gegenüber zu stellen in Opposition, sondern sie aufzurufen zu harmonischem Zusammenwirken. Je besser wir das verstehen, desto bessere Schüler der Geist-Erkenntnis werden wir sein. Dahin sollen die Darstellungen, die wir gegeben haben, zunächst ausklingen. Ausklingen muß ja doch zuletzt das, was wir an Erkenntnissen sammeln, in unserem Empfinden, Fühlen und Denken und in unserem geisteswissenschaftlichen Ideal. Je mehr wir dieses leben, desto bessere Schüler der Geist-Erkenntnis sind wir.

[...] Woher wir auch als Schüler der Geist-Erkenntnis kommen, von weit oder nah, mögen wir uns stets in Harmonie zusammenfinden, auch wenn wir uns einmal bei einem Thema fragen, was die Individualitäten dieser oder jener Erdengebiete sind. Wir wissen, daß das nur einzelne Opferflammen sind, die nicht auseinander züngeln, sondern zusammenschlagen werden zu dem gewaltigen Opferfeuer, das zum Wohle der Menschheit zusammenschlagen muß durch die geisteswissenschaftliche Weltanschauung, die uns so sehr am Herzen liegt und tief in unserer Seele wurzelt.