Völker als gefährliches Thema I

Quelle: GA 121, S. 012-013, 5. Ausgabe 1982, 07.06.1910, Oslo (Kristiania)

Es ist in der Tat das Gebiet, welches wir hiermit berühren, ein solches, das so ziemlich bis in unsere Zeiten hinein gerade von Okkultisten, gerade von Mystikern und Theosophen gemieden worden ist, und zwar gemieden worden ist aus dem Grunde, weil ein höherer Grad von Vorurteilslosigkeit notwendig ist, um die Dinge, die zu sagen sind, gewissermaßen ohne Widerstreben, das manchmal auftauchen könnte, entgegenzunehmen.

Wie das gemeint ist, wird Ihnen vielleicht am verständlichsten werden, wenn Sie sich erinnern, daß man in einem gewissen Grad mystischer oder okkulter Entwickelung ein heimatloser Mensch genannt wird. Es ist dies geradezu ein technischer Ausdruck, «heimatloser Mensch», und wenn wir ohne Umschweife - da wir nicht über den Pfad der Erkenntnis sprechen - charakterisieren wollen, was mit dem Worte «heimatloser Mensch» gemeint ist, so können wir kurz sagen, daß derjenige ein heimatloser Mensch genannt wird, der in seiner Erkenntnis, seiner Auffassung der großen Menschheitsgesetze in Wahrheit unbeeinflußbar ist von alledem, was sonst im Menschen aufsteigt aus dem Ort, an dem er in Gemäßheit seines Volkstums lebt. Ein heimatloser Mensch, können wir auch sagen, ist derjenige, welcher die große Mission der Gesamtmenschheit in sich aufzunehmen vermag, ohne daß sich die Nuancen der besonderen Gefühle und Empfindungen einmischen, die aus diesem oder jenem Heimatboden herauswachsen. Sie sehen daraus, daß zu einem gewissen Reifegrad mystischer oder okkulter Entwickelung ein freier Gesichtspunkt gerade gegenüber demjenigen gehört, was wir mit Recht sonst als etwas Großes betrachten, was wir anderseits dem einzelnen Menschenleben gegenüber als die Mission der einzelnen Volksgeister, als dasjenige bezeichnen, was aus dem Untergrunde eines Volksbodens, aus dem Geiste der Völker heraus die einzelnen konkreten Beiträge zu der gesamten Mission der Menschheit liefert.

Schildern wollen wir also sozusagen das Große dessen, wovon der heimatlose Mensch in gewisser Beziehung frei werden muß. Nun haben die heimatlosen Menschen aller Zeiten, von den Urzeiten angefangen bis in unsere Tage hinein, immer gewußt, daß, wenn sie sozusagen in vollem Umfange charakterisieren würden dasjenige, was man als den Charakter der Heimatlosigkeit bezeichnet, sie dann wenig, sehr wenig Verständnis finden würden. Es würde zunächst einmal das Vorurteil diesen heimatlosen Menschen entgegengebracht werden, das sich in dem Vorwurfe ausdrücken würde: Ihr habt ja allen Zusammenhang mit dem Mutterboden des Volkstums verloren; ihr habt ja kein Verständnis für das, was den Menschen sonst das Teuerste ist. - Nun ist es aber nicht so. Heimatlosigkeit ist in gewisser Beziehung doch im Grunde genommen - oder kann es wenigstens sein - ein Umweg, um, nachdem diese heilige Stätte, diese Heimatlosigkeit erreicht ist, wieder den Rückweg zu finden zu den Volkssubstanzen, den Einklang zu finden mit dem Bodenständigen in der Menschheitsentwickelung. Wenn darauf von vornherein aufmerksam gemacht werden muß, so ist es auf der andern Seite doch nicht unbegründet, daß gerade in unserer Zeit in unbefangenster Weise auch einmal über dasjenige gesprochen wird, was wir die Mission der einzelnen Volksseelen der Menschheit nennen. Ebenso, wie es begründet ist, daß bisher sozusagen bis zu einem gewissen Grade von dieser Mission ganz geschwiegen wurde, ebenso begründet ist es, in unserer Gegenwart damit zu beginnen, von dieser Mission zu reden. Es ist aus dem Grunde von einer ganz besonderen Wichtigkeit, weil die nächsten Schicksale der Menschheit in einem viel höheren Grade als das bisher der Fall war, die Menschen zu einer gemeinsamen Menschheitsmission zusammenführen werden. Zu dieser gemeinsamen Mission werden aber die einzelnen Volksangehörigen nur dann ihren entsprechenden freien, konkreten Beitrag liefern können, wenn sie vor allen Dingen ein Verständnis haben für ihr Volkstum, ein Verständnis für dasjenige, was man nennen könnte «Selbsterkenntnis des Volkstums». Wenn im alten Griechenland in den apollinischen Mysterien der Satz: «Erkenne dich selbst» eine große Rolle gespielt hat, so wird in einer nicht zu fernen Zukunft der Ausspruch an die Volksseelen gerichtet werden: «Erkennet euch selbst als Volksseelen.» Dieser Spruch wird eine gewisse Bedeutung haben für das Zukunftswirken der Menschheit.