Handeln und handeln lassen statt zu diskutieren

Quelle: GA 107, S. 017-023, 5. Ausgabe 1988, 19.10.1908, Berlin

Die Menschen, wie sie hier auf dem physischen Plan leben, sind nicht bloß einzelne Wesen; auch auf dem physischen Plan stehen wir in hundertfaltigen und tausendfältigen Verbindungen. Wir stehen in Rechtsverbindung, in Freundschaften zueinander und so weiter. Es regeln sich unsere Verbindungen auf dem physischen Plan nach unseren Ideen, Begriffen, Vorstellungen und so weiter. In einer gewissen Weise müssen sich auch die sozialen Verbindungen derjenigen Wesen auf dem Astralpian, die wir jetzt eben vor unsere Seele hingestellt haben, in irgendeiner Art regeln. Wie leben denn diese Wesen miteinander? Diese Wesen haben keinen so dichten physischen Körper aus Fleisch und Blut wie wir Menschen; sie haben astralische Körper, sind höchstens ätherischer Substanz. Sie strecken ihre Fühlhörner aus in unsere Welt hinein. Aber wie leben sie nun zusammen? Wenn diese Wesen nicht zusammenwirken würden, wäre auch unser menschliches Leben ein ganz anderes. Im Grunde genommen ist ja unsere physische Welt nur der äußere Ausdruck dessen, was auf dem astralischen Plan geschieht. Wenn also ein Wesen in der Astralwelt ist, welches das Rechtswesen ist und zu dem alle Gedanken hingehen, die sich auf Recht beziehen, und ein anderes Wesen, zu dem alle Gedanken hingehen, die sich auf Schenken beziehen, und dann in unserer Seele der Gedanke entsteht: Schenken ist Recht- dann geht eine Strömung von beiden Wesen aus und in unsere Seele hinein. Wir stehen mit beiden in Verbindung. Wie vertragen sich nun diese Wesen untereinander?

Man könnte leicht versucht sein, zu glauben, daß das soziale Leben auf dem astralen Plan ähnlich sei dem Leben auf dem physischen Plan. Aber es unterscheidet sich das Zusammenleben auf dem astralischen Plan ganz wesentlich von dem Zusammenwirken auf dem physischen Plan. Die Menschen, welche die einzelnen Plane nur so übereinander gruppieren und die höheren Welten so charakterisieren, als wenn es dort ganz ähnlich zuginge wie in der physischen Welt, beschreiben die höheren Welten nicht richtig. Es ist ein gewaltiger Unterschied zwischen der physischen Welt und den höheren Welten, und dieser Unterschied wird immer größer, je höher wir hinauf kommen. Es ist vor allen Dingen in der astralischen Welt eine bestimmte Eigentümlichkeit vorhanden, die gar nicht auf dem physischen Plan zu finden ist. Das ist die Durchlässigkeit, die Durchdringlichkeit der Materie des astralischen Plans. Es ist in der physischen Welt unmöglich, daß Sie sich hinstellen auf denselben Platz, wo schon ein anderer steht; es ist die Undurchdringlichkeit ein Gesetz der physischen Welt. In der astralischen Welt ist es nicht so, da besteht das Gesetz der Durchlässigkeit. Und durchaus möglich ist es, es ist sogar die Regel, daß sich die Wesen durchdringen und in den Raum, wo schon ein Wesen ist, ein anderes hineindringt. Es können zwei, vier, hundert Wesen an einem und demselben Ort der astralischen Welt sein. Das hat aber nun etwas anderes zur Folge, nämlich, daß auf dem astralen Plan die Logik des Zusammenlebens eine ganz andere ist als auf dem physischen Plan. Sie werden am besten begreifen, wie die Logik des Astralplans ganz verschieden ist von der Logik des physischen Plans - nicht etwa die Logik des Denkens, sondern die Logik der Tat, des Zusammenlebens -, wenn Sie das folgende Beispiel nehmen.

Denken Sie sich einmal, eine Stadt hätte beschlossen, eine Kirche zu bauen auf einem bestimmten Platz. Dann muß notwendigerweise der weise Rat dieser Stadt erstens sich beraten, wie diese Kirche zu bauen ist, was für Anstalten dafür zu treffen sind und so weiter. Nehmen wir nun an, es bildeten sich in der Stadt zwei Parteien. Die eine Partei will auf diesem einen Platze eine Kirche bauen in einer bestimmten Gestalt, mit einem gewissen Baumeister und so weiter, die andere Partei will eine andere Kirche bauen mit einem andern Baumeister. Da werden auf dem physischen Plan die beiden Parteien ihre Absicht nicht ausführen können. Also es ist notwendig, bevor man überhaupt an etwas geht, daß eine Partei siegt, daß eine Partei die Oberhand gewinnt und daß es ausgemacht ist, welche Gestalt die Kirche haben soll. Sie wissen ja, daß tatsächlich der weitaus größte Teil des menschlichen sozialen Lebens abfließt in solchen Beratungen und solchen gegenseitigen Verhandlungen, bevor man irgend etwas ausführt; daß man sich einigt über das, was eigentlich zu geschehen hat. Es würde ja nichts geschehen, wenn nicht in den meisten Fällen doch irgendeine Partei die Oberhand gewänne und in der Majorität bliebe. Aber die Partei, die in der Minorität bleibt, wird nicht ohne weiteres sagen: Ich habe unrecht gehabt -, sondern wird weiter glauben, sie habe recht gehabt. Es handelt sich in der physischen Welt um die Diskussion über die Vorstellungen, die rein innerhalb der physischen Welt entschieden werden müssen, weil es unmöglich ist, daß man an einem und demselben Ort zwei Pläne ausführen kann.

Ganz anders ist es in der astralischen Welt. Da wäre es durchaus möglich, daß an einem und demselben Orte, sagen wir, zwei Kirchen gebaut würden. Solches geschieht tatsächlich in der astralischen Welt fortwährend, und es ist das einzig Richtige in der astralischen Welt. Dort streitet man sich nicht so wie in der physischen Welt. Man hält dort nicht solche Versammlungen ab und sucht eine Majorität für dieses oder jenes herauszubringen; es ist das dort auch gar nicht einmal nötig. Wenn sich hier der Rat einer Stadt zusammensetzt und von fünfundvierzig Menschen vierzig eine Meinung haben und die andern eine andere, da mögen sich die beiden Parteien, wie sie so dasitzen, in Gedanken morden wollen wegen ihrer verschiedenen Meinung, so ist es doch nicht so schlimm, weil sich äußerlich die Dinge gleich stoßen. Es sucht nicht gleich jede Partei ohne Rücksicht auf die andere ihre Kirche dahin zu bauen, weil auf dem physischen Plan der Gedanke Seelengut bleiben kann; er kann da drinnen bleiben. Auf dem astralischen Plan ist es nicht so einfach. Da ist es so: Wenn der Gedanke gefaßt ist, steht er in einer gewissen Beziehung auch schon da. So daß also, wenn eine solche astralische Wesenheit wie die, von denen ich eben gesprochen habe, einen Gedanken hat, diese Wesenheit gleich die entsprechenden Fühlfäden ausstreckt, welche die Form dieses Gedankens haben, und ein anderes Wesen streckt von sich die Fühlfäden aus; beides durchdringt sich nun gegenseitig und ist im selben Raum als neugebildete Wesenheit drinnen.

So durchdringen sich fortwährend die verschiedensten Meinungen, Gedanken und Empfindungen. Das Allerentgegengesetzteste kann sich durchdringen in der astralischen Welt. Und wir müssen sagen: Wenn in der physischen Welt über die Punkte, die wir besprochen haben, Widerspruch herrscht, in der astralischen Welt herrscht sogleich Widerstreit. Denn als Wesen der astralischen Welt kann man nicht die Gedanken in sich zurückhalten, die Gedanken werden sogleich Tat, die Gegenstände sind gleich da. Nun werden dort zwar nicht solche Kirchen gebaut, wie wir sie auf dem physischen Plan haben; aber nehmen wir einmal an, ein Wesen der astralischen Welt wollte etwas realisieren, und ein anderes Wesen wollte das durchkreuzen. Diskutieren kann man da nicht, sondern da gilt der Grundsatz: eine Sache muß sich bewähren! Wenn nun die beiden Fühlhörner wirklich in demselben Raume sind, dann fangen sie an, sich zu bekämpfen, und dann wird die Idee, welche die fruchtbarere ist, die also recht hat - das ist die, die bestehen kann -, die andere vernichten und wird sich geltend machen. So daß wir da fortwährend den Widerstreit haben der verschiedensten Meinungen, Gedanken und Empfindungen. Auf dem astralischen Plan muß eine jede Meinung zur Tat werden. Da streitet man sich nicht, da läßt man die Meinungen kämpfen, und diejenige, welche die fruchtbarere ist, schlägt die andere aus dem Felde. Es ist sozusagen die astralische Welt die viel gefährlichere, und manches von dem, was über die Gefährlichkeit der astralischen Welt gesagt wird, hängt mit dem zusammen, was eben ausgesprochen worden ist. Also dort wird alles zur Tat. Und die Meinungen, die da sind, müssen miteinander kämpfen, nicht diskutieren.

Jetzt werde ich eine Sache berühren, die zwar für die heutige materialistische Zeit schockierend ist, die aber doch wahr ist. Wir haben oft betont, daß unsere Zeit sich ja heute immer mehr einlebt in das bloße Bewußtsein der physischen Welt, also auch in die Charaktereigenschaften und Charaktereigentümlichkeiten der physischen Welt; wo also, wenn die Diskussion angeschlagen wird, jeder den andern, der nicht seiner Meinung ist, vernichten möchte oder ihn für einen Toren hält. So ist es in der astralischen Welt nicht. Da wird ein Wesen sagen: Ich kümmere mich nicht um andere Meinungen! Da herrscht absoluteste Toleranz. Ist eine Meinung die fruchtbarere, so wird sie die andern aus dem Felde schlagen. Man läßt die andern Meinungen ebenso bestehen wie die eigene, weil sich die Dinge schon zurecht richten müssen durch den Kampf. Wer sich nach und nach in die spirituelle Welt einlebt, muß sich nach den Gewohnheiten der spirituellen Welt richten lernen; und der erste Teil der spirituellen Welt ist einmal die astralische Welt, wo solche Usancen herrschen, wie sie eben charakterisiert wurden, so daß in einem Menschen, der sich einlebt in die geistige Welt, in einer gewissen Beziehung auch die Gewohnheiten der Wesen der geistigen Welt Platz greifen müssen. Und das ist auch richtig. Immer mehr soll unsere physische Welt ein Abbild der geistigen Welt werden, und wir werden dadurch in unsere Welt immer mehr Harmonie bringen, daß wir uns eines vornehmen: das Leben in der physischen Welt soll sich abspielen wie das Leben in der astralischen Welt. Wir können zwar nicht an einem Orte zwei Kirchen bauen, aber wo die Meinungen verschieden sind, läßt man sie sich gegenseitig in bezug auf ihre Fruchtbarkeit in der Welt durchdringen. Die Meinungen, welche die fruchtbarsten sind, werden schon den Sieg davontragen, wie das auch in der astralischen Welt ist.

So können innerhalb einer spirituellen Weltenströmung die Charaktereigentümlichkeiten der astralischen Welt geradezu hineinreichen in die physische Welt. Das wird ein großes Feld der Erziehung sein, welches die geisteswissenschaftliche Bewegung zu bebauen haben wird: immer mehr auf dem physischen Plan ein Abbild zu schaffen der astralischen Welt. So sehr es den Menschen schockiert, der nur den physischen Plan kennt und sich danach nur vorstellen kann, daß nur eine Meinung vertreten werden könne und daß alle, die andere Meinungen haben, Dummköpfe sein müssen, so wird es doch immer mehr und mehr selbstverständlich sein für die Angehörigen einer spirituellen Weltanschauung, daß eine absolute innerliche Toleranz der Meinungen herrscht, eine Toleranz, die sich nicht darstellt wie die Konsequenz einer Predigt, sondern wie etwas, was in unserer Seele Platz greifen wird, weil wir uns immer mehr und mehr naturgemäß die Usancen der höheren Welten aneignen.

Was jetzt geschildert worden ist, diese Durchdringlichkeit, ist eine sehr wichtige und wesentliche Eigentümlichkeit der astralischen Welt. Kein Wesen der astralischen Welt wird einen solchen Wahrheitsbegriff entwickeln, wie wir ihn auf der physischen Welt kennen. Die Wesen der astralischen Welt finden das, was im Physischen Diskussion und so weiter ist, ganz unfruchtbar. Für sie gilt auch der Ausspruch Goethes: «Was fruchtbar ist, allein ist wahr!» Die Wahrheit muß man nicht durch theoretische Erwägungen kennenlernen, sondern durch ihre Fruchtbarkeit, durch die Art, wie sie sich geltend machen kann. Es wird also ein Wesen der astralischen Welt mit einem andern Wesen niemals streiten, wie die Menschen es tun, sondern ein solches Wesen wird zu dem andern sagen: Schön, tu du das Deine, ich tue das Meine. Es wird sich schon herausstellen, welches die fruchtbarere Idee ist, welche Idee die andern aus dem Felde schlagen wird.

Wenn wir uns in eine solche Denkweise hineinversetzen, haben wir auch schon an praktischem Wissen etwas gewonnen. Man darf nicht glauben, daß die Entwickelung des Menschen in die geistige Welt hinein sich in tumultuarischer Weise vollzieht, denn sie geschieht innerlich, in intimer Weise. Und können wir darauf achtgeben und uns so etwas aneignen, was jetzt als Eigentümlichkeit der astralischen Welt charakterisiert wurde, dann werden wir immer mehr dahin kommen, solche Gefühle, wie die astralen Wesen sie haben, als Mustergefühle für unsere eigenen zu betrachten. Wenn wir uns nach dem Charakter der astralischen Welt richten, können wir hoffen, uns hinaufzuleben zu den geistigen Wesenheiten, deren Leben uns auf diese Weise immer mehr und mehr aufgeht. Das ist es, was sich dabei als das Fruchtbare für die Menschen erweist.