Das Ich-Bin ist unser Karma und Strafe

Quelle: GA 103, S. 133-135, 11. Ausgabe 1995, 26.05.1908, Hamburg

Das tiefste Geheimnis meines Wesens ist das «Ich-bin»; und die wahre und ewige Gewalt des «Ich-bin » oder des Ich, die die Kraft hat, die anderen Leiber zu durchdringen, muß einfließen in den Menschen. Sie ist im Erdengeist darinnen. - Halten wir uns das einmal vor, und nehmen wir es ganz ernst, vollständig ernst, daß dadurch, daß der Christus den wahren Besitz des Ich für jeden Menschen vermitteln will, er den Gott in jedem Menschen wecken, den Herrn und König in jedem Menschen nach und nach entzünden will. Was zeigt sich uns dann? Dann stellt sich uns nichts Geringeres dar, als daß der Christus im eminentesten Sinne die Karma-Idee, das Karmagesetz zum Ausdruck bringt. Denn wird man einmal die Karma-Idee vollständig verstehen, dann wird man sie in diesem christlichen Sinne verstehen. Sie bedeutet nichts Geringeres, als daß kein Mensch sich aufwerfe zum Richter über das Innerste eines anderen Menschen. Wer die KarmaIdee noch nicht in diesem Sinne erfaßt hat, hat sie nicht in ihrer Tiefe erfaßt. Solange ein Mensch über den anderen richtet, so lange stellt ein Mensch den anderen unter den Zwang des eigenen Ich. Wenn aber einer wirklich an das «Ich-bin» im christlichen Sinne glaubt, richtet er nicht; dann sagt er: Ich weiß, daß das Karma der große Ausgleicher ist. Was du auch getan hast, ich richte nicht! - Nehmen wir einmal an, man brächte einen Sünder vor einen, der das ChristusWort in Wahrheit versteht. Was wird der diesem Sünder gegenüber für ein Benehmen haben? Nehmen wir an, alle, die da Christen sein wollen, würden diesen Menschen einer schweren Sünde anklagen. Der wirkliche Christ würde sagen: Was ihr auch vorbringt, ob er es getan hat oder nicht, respektiert muß werden das «Ich-bin», dem Karma muß es überlassen werden, dem großen Gesetz, das das Gesetz des Christus-Geistes selber ist. Dem Christus selber muß es überlassen bleiben. - Karma vollzieht sich im Laufe der Erdentwickelung; wir können es dieser Entwickelung selber überlassen, welche Strafe Karma über den Menschen verhängt. Man würde sich vielleicht zur Erde wenden und zu den Anklägern sagen: Kümmert euch um euch selbst! Der Erde obliegt es, die Strafe zum Ausdruck zu bringen. Schreiben wir es also in die Erde ein, wo es ja ohnehin als Karma eingeschrieben ist!

«Jesus aber ging auf den Ölberg.
Und frühmorgens kam er wieder in den Tempel, und alles Volk kam zu ihm; und er setzte sich und lehrte sie.
Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten ein Weib zu ihm, im Ehebruch ergriffen, und stellten sie ins Mittel dar,
Und sprachen zu ihm: Meister, dieses Weib ist ergriffen auf frischer Tat im Ehebruch.
Moses aber hat uns im Gesetz' geboten, solche zu steinigen; was sagest du?
Das sprachen sie aber, ihn zu versuchen, auf daß sie eine Sache wider ihn hätten. Aber Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde.
Und als sie anhielten, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.
Und bückte sich wieder nieder und schrieb auf die Erde.
Da sie aber das hörten, gingen sie hinaus, von ihrem Gewissen überführt, einer nach dem andern, von den Ältesten an bis zu den Geringsten; und Jesus ward gelassen allein, und das Weib im Mittel stehend.
Jesus aber richtete sich auf; und da er niemand sah denn das Weib, sprach er zu ihr: Weib, wo sind sie, deine Verkläger? Hat dich niemand verdammt?» (8, 1-10)

Er spricht das, um alles Von-außen-Richten abzulenken und hinzuweisen auf das innere Karma.

« Sie aber sprach: Herr, niemand.» (8, 11)

Sie ist ihrem Karma überlassen. Da ist es das einzige, nicht weiter an die Strafe zu denken, die im Karma sich erfüllt, sondern sich zu bessern:

«Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht; gehe hin und sündige hinfort nicht mehr!» (8, 11)

So sehen wir, wie mit der tiefsten Idee des Christus, mit der Bedeutung seiner Wesenheit für die Erde, die Karma-Idee zusammenhängt: Habt ihr meine Wesenheit begriffen, dann habt ihr auch den begriffen, dessen Wesen ich ausdrücke, und daß das «Ich-bin» den Ausgleich herbeiführt. - Selbständigkeit und innere Geschlossenheit, das ist es, was der Christus als Impuls den Menschen gegeben hat.

Die Menschen sind heute noch nicht sehr weit gelangt, das wahre, innere Christentum zu begreifen. Aber wenn die Menschen verstehen lernen, was in einer solchen Schrift liegt, wie es das Johannes-Evangelium ist, werden sie die in ihr liegenden Impulse nach und nach aufnehmen. Dann wird sich in einer fernen Zukunft das christliche Ideal erfüllen.