Jüdisch-germanische Blutsverwandschaft II

Quelle: GA 103, S. 071-074, 11. Ausgabe 1995, 22.05.1908, Hamburg

In dem Entwickelungsgange der Menschheit haben wir gesehen, daß die eigentliche Erdenmission die Entwickelung der Liebe ist, daß sie aber nur denkbar ist, wenn sie als freiwillige Gabe von selbstbewußten Menschen gegeben wird, und daß sich der Mensch nach und nach sein Ich erobert und daß das Ich langsam und allmählich sich hineinsenkt in die Menschennatur. Wir wissen, daß die Tiere als solche kein einzelnes Ich haben. Wenn der einzelne Löwe «Ich» sagen könnte, wäre damit nicht das einzelne Tier gemeint, sondern das Gruppen-Ich in der astralischen Welt; alle Löwen würden dazu «Ich» sagen. So sagen ganze Gruppen von gleichgeformten Tieren zu dem im Astralischen übersinnlich-wahrnehmbaren Gruppen-Ich «Ich». Das ist der große Vorzug des Menschen vor den Tieren, daß der Mensch ein individuelles Ich hat. Aber das individuelle Ich entwickelt sich erst nach und nach. Der Mensch fing auch an mit einem Gruppen-Ich, mit einem Ich, welches einer ganzen Gruppe von Menschen angehörte.

Wenn Sie zurückgehen würden zu alten Völkern, zu alten Rassen, überall würden Sie finden, daß die Menschen ursprünglich kleine Gruppen bildeten. Bei den germanischen Völkern brauchten Sie gar nicht einmal weit zurückzugehen. In den Schriften des Tacitus können Sie mit Händen greifen, daß der einzelne Germane mehr hält von seinem ganzen Stamm als von seiner Individualität. Der einzelne fühlt sich mehr als Glied des Cheruskerstammes oder des Sigambrerstammes denn als eine einzelne Persönlichkeit, und daher tritt auch der einzelne ein für das Schicksal des ganzen Stammes; es ist auch gleichgültig, wer aus dem Stamme eine Beleidigung rächt, wenn einem einzelnen Gliede oder dem Stamme eine Beleidigung widerfahren ist. Dann tritt im Laufe der Zeit das ein, daß einzelne Leute heraustreten aus der Stammeszusammengehörigkeit, so daß die Stämme durchbrochen werden und nicht mehr kompakt bleiben. Aus dem Gruppenseelencharakter hat sich auch der Mensch entwickelt und nach und nach sich hinaufgeschwungen dazu, in der Einzelpersönlichkeit das Ich zu empfinden.

Wir können gewisse Dinge, besonders die religiösen Urkunden, nur verstehen, wenn wir dies Geheimnis von den Gruppenseelen, von den Gruppen-Ichen wissen. Bei den Völkern, bei denen es schon zu einer gewissen Wahrnehmung des eigenen Ich gekommen war, gab es noch immer ein Ich, das sich nicht nur über räumliche, gleichzeitig lebende Gruppen, sondern auch über zeitliche Gruppen ausdehnte. Heute ist das Gedächtnis der Menschen so, daß sich der einzelne nur noch an seine Jugendzeit erinnert. Aber es gab eine Zeit, in der noch ein anderes Gedächtnis vorhanden war, wo sich der Mensch nicht nur an seine Taten erinnerte, sondern wo er sich auch an die Taten seines Vaters, seines Großvaters erinnerte wie an seine eigenen. Das Gedächtnis reichte hinüber, weit in die Blutsverwandtschaft der Ahnen bis zum Stammvater, dessen Blut herunterfloß durch die Generationen. Jahrhundertelang erhielt sich mit dem Blute das Gedächtnis, und ein Enkel oder ein Sproß eines Stammes sagte zu den Taten, zu den Gedanken seiner Vorfahren «Ich» wie zu sich selber. Man empfand sich da nicht eingeschlossen zwischen Geburt und Tod, sondern man empfand sich als Glied der Generationenreihe, deren Mittelpunkt der Ahne war. Denn das ist der Zusammenhalt des Ich, daß man sich eben der Taten des Vaters, des Großvaters und so weiter erinnerte. In alten Zeiten wurde das schon äußerlich durch die Namengebung ausgedrückt. Der Sohn erinnerte sich nicht nur an seine eigenen Taten, sondern auch an die des Vaters, Großvaters und so weiter. Das Gedächtnis ging durch die Generationen weit hinauf. Alles, was so das Gedächtnis umfaßte, hieß in alten Zeiten zum Beispiel «Noah», hieß «Adam». Damit sind nicht die einzelnen Menschen, sondern die Iche gemeint, die jahrhundertelang das Gedächtnis bewahrten. Dies Geheimnis verbirgt sich auch hinter den Patriarchennamen. Warum lebten die Patriarchen so lange? Es wäre einem in alten Zeiten gar nicht eingefallen, den einzelnen Menschen, der zwischen Geburt und Tod steht, mit einem Namen zu benennen. Adam erhielt sich jahrhundertelang im Gedächtnis, weil gerade die räumliche und zeitliche Begrenzung für die alte Namengebung gar nicht in Betracht kam.

So löste sich nach und nach langsam das menschliche Einzel-Ich aus der Gruppenseele, aus dem Gruppen-Ich heraus; der Mensch kam nach und nach zum Bewußtsein seines Einzel-Ichs. Vorher fühlte er sein Ich in der Stammeszugehörigkeit, in der Gruppe von Menschen, mit denen er blutsverwandt war, entweder im Raume oder in der Zeit; daher der Ausspruch: «Ich und der Vater Abraham sind eins!», das heißt, sind ein Ich. Und da fühlte sich der einzelne geborgen in einem Ganzen, weil das gemeinsame Blut durch alle Adern hinunterrollte, durch alle Mitglieder des betreffenden Volkes. Aber die Entwickelung ging vorwärts. Die Zeit wurde reif, wo gerade innerhalb dieser Völker die Menschen ihr Einzel-Ich empfinden sollten.

Den Menschen das zu geben, was sie brauchten, um sich sicher und fest zu fühlen in diesem einzelnen individuellen Ich, das war die Mission des Christus. So müssen wir auch das Wort auffassen, das so leicht mißverstanden werden kann: « Wer nicht verleugnet Weib und Kind, Vater und Mutter, Bruder und Schwester, der kann nicht mein Jünger sein!» (Mark. r a, 29). Das müssen wir nicht in dem trivialen Sinn auffassen, daß jemand eine Anweisung erhält, der Familie davonzulaufen; sondern es ist gemeint: Ihr sollt fühlen, daß ein jeder von euch ein Einzel-Ich ist und daß dieses Einzel-Ich unmittelbar mit dem geistigen Vater, der durch die Welt flutet, eins ist. Früher sagte der Bekenner des Alten Testaments: «Ich und der Vater Abraham sind eins », weil das Ich sich in der Blutsverwandtschaft ruhen fühlte. Jetzt sollte frei werden das Sich-eins-Fühlen mit dem geistigen Vatergrunde. Nicht mehr sollte die Blutsverwandtschaft die Gewähr bilden, daß der Mensch zu einem Ganzen gehört, sondern das Wissen von dem rein geistigen Vaterprinzip, mit dem alle eins sind.