Jüdisch-germanische Blutsverwandschaft I

Quelle: GA 102, S. 099-100, 4. Ausgabe 2001, 24.03.1908, Berlin

Wenn wir zu diesem Zwecke noch einmal zurückblicken auf die vorhergehende Verkörperung unserer Erde, den alten Mond, dann stellt sich uns, wenn wir uns diesen Menschen auf dem alten Mond vor die Seele rücken, dieser Mensch so dar, daß er seinen physischen Leib, seinen Ätherleib, seinen astralischen Leib, aber noch nicht sein persönliches Ich hat, wie er es erst auf der Erde jetzt hat. Wenn wir nun den Bewußtseinszustand eines solchen Mondmenschen untersuchen, so ist dieser in der Tat ein ganz radikal anderer als der Bewußtseinszustand des Erdenmenschen. Der Zustand des Erdenmenschen drückt sich wirklich in dem aus, was man nennen könnte die Persönlichkeit. Mit diesem Wort ist viel zur Charakteristik des Erdenmenschen gesagt; denn eine Persönlichkeit gab es auf dem alten Mond noch nicht. Wir haben gesehen, daß sich erst auf der Erde diese Persönlichkeit nach und nach ganz herausgebildet hat und daß in alten Zeiten sich der Mensch noch viel mehr als ein Glied einer ganzen Zusammengehörigkeit fühlte. Selbst wenn wir gar nicht weit zurückgehen in den Gegenden, wo wir selbst wohnen, ja selbst wenn wir zurückgehen in die ersten nachchristlichen Jahrhunderte, so finden wir da noch letzte Nachklänge eines uralten Bewußtseins. Der alte Cherusker, der alte Sugambrer, Heruler, Brukterer fühlte sich noch nicht in demselben Maße als ein persönlicher Mensch wie der heutige Mensch, sondern er fühlte sich als ein Glied seines Stammes. Und wenn er «Ich» sagte, so bedeutete dieses Ich noch etwas durchaus anderes, als es heute bedeutet. Heute meint der Mensch, wenn er sein Ich ausspricht, das Wesen seiner Persönlichkeit, wie es sozusagen in seiner Haut eingeschlossen ist. Damals fühlte der Mensch sich gegenüber seinem Stamme so, wie ein Glied sich an unserem Organismus fühlt. Er fühlte sich in erster Linie als Sugambrer, Heruler, Brukterer, Cherusker, und erst in zweiter Linie als ein persönliches Ich. Viele Zustände in dieser alten Zeit werden Sie besser begreifen, wenn Sie diese radikale Änderung der Persönlichkeit ins Auge fassen, wenn Sie sich klarmachen, daß zum Beispiel gewisse Formen der Blutrache, der Familienrache, der Stammesrache ihre vollständige Erklärung finden in dem gemeinsamen Bewußtsein des Stammes, in dem Bewußtsein einer Art von Gruppenseele. Die Menschen empfanden sich eben als Gruppen von gemeinsamem Blut, wodurch eine Tötung an dem ganzen Stamme des Mörders gerächt wurde wie an ihm selbst. Und wenn wir noch weiter zurückgehen bis in die klassische alttestamentliche Zeit, in die Zeit des jüdischen Volkes, so wissen wir, daß der einzelne Jude sich durchaus als ein Glied des ganzen jüdischen Volkes fühlte, daß er, wenn er «Ich» aussprach, sich nicht als Repräsentant seines persönlichen Ichs fühlte, sondern daß er das Blut des ganzen jüdischen Volkes fühlte, wie es in den Generationen herabgeströmt ist seit dem Vater Abraham: «Ich und der Vater Abraham sind eins!» In diesem Bewußtsein fühlte sich der Angehörige des Volkes geborgen und gewürdigt. Er fühlte diese Gruppenseele im Blut weit hinauf, bis zum Vater Abraham. Und wenn wir noch weiter zurückgehen in urferne Zeiten der Erde, so finden wir das Gruppenseelenhafte noch viel deutlicher ausgeprägt. Da erinnert sich der Einzelne gedächtnismäßig an das, was die Vorfahren getan haben, bis zu dem Urahn hinauf. Jahrhunderte hinauf reicht die Erinnerung des Nachkommen.